Archiv für März, 2010

evil bong (charles band, usa 2006)

Veröffentlicht: März 31, 2010 in Film
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Charles Band Kiffer-Horrorfilm aus dem Hause Full Moon habe ich eigentlich schon vor mehreren Wochen gesehen, es aber im Anschluss offensichtlich gleich wieder verdrängt, sodass ich einen Text bis heute schuldig geblieben bin. Das soll sich nun ändern, denn die Welt muss wissen! 

Full Moon Entertainment ist ein Faszinosum: Die Firma hat es irgendwie geschafft, sich aus den Achtzigerjahren in das zweite Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zu retten, ohne dass sie seit ihren Anfangstagen auch nur einen guten Film hinbekommen hätte. Im Gegenteil: Marketingtechnisch und kaufmännisch nicht unclever hat Full Moon diese Unfähigkeit so zur Tugend umgedeutet, dass sie gar nicht mehr versuchen muss, etwas auf die Beine zu stellen, das nicht schon von vornherein als schwachsinniger Ramsch zu erkennen wäre. Auf der eigenen Website präsentiert man sich als Kultfirma mit ausladendem Merchandising-Angebot, die ihre filmischen Sünden (die nicht enden wollenden PUPPET MASTER- und TRANCERS-Serien, die DEMONIC TOYS- und SUBSPECIES-Filme und neuere „Erfolgsfranchises“ wie GINGERDEAD MAN) in ausladenden Boxsets anpreist. Ich finde das ja nicht unsympathisch: Quietschbunter Trash um alberne Gummimonster, wie er noch vor 20 Jahren die Regale der Videotheken füllte, ist schließlich ziemlich aus der Mode gekommen und zwischen den ganzen auf bierernst getrimmten Torture Porns stellt solcher infantiler Unfug somit eine willkommene Abwechslung dar. Leider ist es aber so, dass die Filme, die Meister Charles Band auf seine unnachahmliche Art zusammenschraubt, meist deutlich weniger interessant und lustig sind, als es deren stulligen Titel und Covermotive versprechen. So auch der unterirdische EVIL BONG, der das durch Cheech und Chong initiierte Subgenre der Kifferkomödie mit dem Horrorfilm kurzschließt und so der eigenen Zielgruppe (männlich, ledig, jung, vergnügungssüchtig) ein Angebot macht, das sie nicht ausschlagen kann. EVIL BONG erzählt von einer „lustigen“ Jungs-WG, bestehend aus dem redneckigen Larnell (John Patrick Jordan), dem Jock Brett (Brian Lloyd) und dem Surferdude Bachman (Mitch Eakins). Die haben soeben einen neuen Mitbewohner gefunden, die nerdige Brillenschlange Alistair (David Weidoff), als sie im Internet auf ein Angebot für eine angeblich verfluchte Bong stoßen. Klar, dass die drei Party-Animals da nicht Nein sagen können (wie ein Bekannter mal richtig sagte: Wenn jemand behauptete, dass Scheiße breit mache, manche Leute rauchten wohl auch Scheiße). Doch der Fluch entpuppt sich als real und so wird einer nach dem anderen in die „Bong World“ geholt, eine teuflische Mischung aus Strip-Bar, Puff und Coffee Shop, aus der es kein Entrinnen gibt. Noch nicht …

Was hat man von einem Film zu erwarten, der sich reichhaltig bei Cravens NIGHTMARE ON ELM STREET bedient, dessen furchteinflößenden Freddy Krueger jedoch durch eine sprechende Wasserpfeife ersetzt? Der dieser dann „Identifikationsfiguren“ gegenüberstellt, denen man ein deutlich übleres Schicksal wünscht als jenes, das sie im Film ereilt? Larnell kann sich nicht anders als in prolligen Sprüchen artikulieren und befleißigt sich dabei eines US-amerikanischen Coolsprechs, das einem schier die Galle hochsteigen lässt, Brett pflastert seine Wohnung mit seinen Sportpokalen voll und darf sich selbstbewusst als der „ladies man“ der tollen Clique inszenieren (würg!) und der stets zugedröhnte Bachman sieht nicht nur aus, als hätte er in allen Boybands der letzten 20 Jahre mitgewirkt, sondern beendet auch stilecht jeden Satz mit „dude“. Doch das ist noch nicht das Schlimmste. Dass die Protagonisten solcher Teenie-Horrorfilme sich ihre blutigen Tode redlich verdient haben, ist schließlich eine Erkenntnis, die das Genre in den vergangenen Jahrzehnten reichlich ausgeschlachtet hat. Doch mit den grotesk unsympathischen Arschgeigen, die in EVIL BONG zur Identifikation angeboten werden, wird eine ganz neue Dimension des Schreckens erreicht. Irgendwann fällt es einem nämlich wie Schuppen von den Augen: Die sind gar nicht als Arschlöcher gemeint! Die sollen tatsächlich sympathisch sein! Mit Grausen denkt man an ein Publikum voller Angeber, Bullys und Proleten, das hier wohl angesprochen werden soll und das diese Vögel wahrscheinlich wirklich cool und witzig findet, sich gar nichts Schöneres vorstellen kann, als auch in so eine brutal krasse WG zu ziehen, mit Kiffen, Weibern und einem schwächlichen Streber, dem man die Kohle aus der Tasche ziehen kann.

So habe ich mich den ganzen Film über vor Fremdscham im Sitz gewunden und förmlich gespürt, wie ich mit jeder Sekunde ein bisschen älter werde – auch um mich rein altersmäßig vom Film und seinen Figuren distanzieren zu können. Ein Gefühl, dem EVIL BONG, dessen Story sich dann irgendwie so abwickelt, ohne auch nur den Hauch von Spannung aufkommen zu lassen, aber auch rein gar nichts entgegenzusetzen weiß. Irgendwann taucht Tommy Chong auf, den man zum Glück kaum noch wiedererkennt, Full-Moon-Ikone Tim Thomerson läuft mal eben durchs Bild und macht wohl einen TRANCERS-Injoke und die Horrornerds dürfen sich einen drauf abwedeln, wenn sie Bill Moseley in seiner Minirolle erkannt haben. Ein Sequel namens KING BONG ist wohl auch schon fertig. Die Masche von Full Moon funktioniert. Aber RTL2 hat ja auch Zuschauer.

quiet cool (clay borris, usa 1986)

Veröffentlicht: März 29, 2010 in Film
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Der toughe New Yorker Cop Joe Dylanne (James Remar) wird von seiner Exfreundin Katy (Daphne Ashbrook) nach Redneck-County beordert: Dort ist der Frieden gestört, seit eine Bande von Marihuanapflanzern ihr schändliches Unwesen treibt. Katys Eltern sind den Killern um den benackenspoilerten Valence (Nick Cassavetes) schon zum Opfer gefallen, ihr Bruder Joshua (Adam Coleman Howard) ist seitdem vermisst. Joe eilt zur Hilfe, findet bald schon den auf Rache sinnenden Joshua und beginnt mit ihm gemeinsam einen Feldzug gegen die Drogendealer …

QUIET COOL ist ein Film der zweiten Reihe: Eher unbekannt, ohne große Namen auskommend und in seinem Gesamtentwurf angenehm bescheiden, dürfte er Freunden des Actionkinos der Achtzigerjahre dennoch runtergehen wie Öl. Schon die Einführung des Helden ist herrlich: Zerknautscht in seinem katastrophalen Apartement aufwachend, frühstückt er erst einmal eine alte Pizza, bevor er dann im Einsatz – ganz Freund und Helfer – beim Versuch einen berollschuhten Handtaschenräuber mit seinem Motorrad einzuholen, jede Zurückhaltung vergisst und etliche Menschenleben gefährdet. Die Verfolgungsjagd führt über Gehsteige, durch Parkanlagen, eine U-Bahnstation und einen Zug (!), bevor der Räuber im Hudson River landet und Joe seinen Blick verträumt gen Freiheitsstatue wandern lässt. Sein Freiheits- und Gerechtigkeitssinn sind später noch gefragt, denn im heartland, da wo die Welt doch eigentlich noch in Ordnung sein soll, droht der Rückfall in die Wildwest-Zeit. Eigentlich eine nicht unübliche Konstellation im Actionfilm, die sich wunderbar dazu eignet, die Brücke zu eben jenem Western zu schlagen und den Pioniergeist des Actionhelden zu reaktivieren, der sich wie einst seine Vorfahren zur final frontier aufmachen muss, um die Zivilisation (zurück) zu bringen. Ein bisschen suggeriert QUIET COOL mit seinem Backwood-Plot, dass das die innere Sicherheit des Landes gefährdende Verbrechen mitnichten in den Häuserschluchten der Metropolen zu suchen sind – der Handtaschenräuber ist ja kaum mehr als ein fehlgeleiteter Spaßvogel und Dylanne kann sogar unangekündigt und spontan einen kleinen Kurzurlaub einlegen, ohne dass die Ordnung zusammenbricht -, womit der Film durchaus in Konkurrenz zu solch dystopischen Zeitgenossen wie DEATH WISH 3 zu sehen ist, die geradezu bürgerkriegsähnliche Szenarien heraufbeschwören und eine düstere Zukunft für die Großstädte zeichnen. Doch QUIET COOL betreibt mehr als nur einen kosmetischen Tapetenwechsel, denn die Verlagerung des Verbrechens ins Hinterland geht einher mit einer Infizierung uramerikanischer Werte. Es ist etwas faul im Staate Dänemark, wenn die liebe Oma von nebenan nicht nur das Geheimnis für die besten Blaubeermuffins hütet …

QUIET COOL hat also durchaus etwas mitzuteilen, doch fällt das angesichts der Unbeschwertheit und Kompaktheit des Films kaum auf. Zügig etabliert er seinen Konflikt und dann geht es auch schon ans Eingemachte, bevor nach kurzweiligen 80 Minuten alles wieder vorbei ist. Vorher gibt es lustige Booby Traps, einige blutige Einschüsse und sonstige Nettigkeiten, großkalibrige Handfeuerwaffen plus Flitzebogen, Marihuanapflanzen und einen Showdown, der dann auch dem letzten klarmacht, dass QUIET COOL im Grunde genommen ein Western ist. Walter-Hill-Stammschauspieler James Remar ist in einer seiner wenigen Haupt- und Sympathierollen zu sehen und entwickelt über den nur wenige Stunden umfassenden Zeitraum des Films einen amtlichen Dreitagebart. Ein feiner Film.

Ich bin Komplettist. Lücken beunruhigen mich und es hat mich unsagbar gewurmt, dass ich es zu Beginn des Jahres nicht geschafft habe, im Anschluss an meine Sichtung der Polizeiserie THE SHIELD einen Text zu verfassen, wie ich das ursprünglich vorhatte – Vaterwerden hatte eindeutig Priorität. THE SHIELD liegt nun schon eine ganze Weile zurück, aber da ist immer noch dieses Gefühl, dass mein Blog, das ja in erster Linie ein Tagebuch ist, unvollständig ist und ihm ein immens wichtiger Eintrag fehlt. Und weil ich mit LOST gerade das nächste Großprojekt vor der Brust habe und keine Ahnung, wann es den nächsten Filmeintrag geben wird, scheint der Zeitpunkt ideal, die Lücke zu schließen und meinen Text nachzureichen – auch wenn er aufgrund der Verzögerung zwangsläufig selbst „lückenhaft“ werden wird …

THE SHIELD erzählt von den Ereignissen rund um ein neu eröffnetes Polizeirevier in Farmington, einem fiktiven Stadtteil von L.A. Dort bekriegen sich die latein- und afroamerikanischen Gangs, die armenische Mafia schleust ihr Geld zur Wäsche durch den von Armut geprägten Stadtteil und die Polizei hat mehr als alle Hände voll zu tun, des allgegenwärtigen Verbrechens Herr zu werden. Nur das für besonders schwere Fälle gegründete fünfköpfige Strike Team unter der Führung des knallharten Detective Vic Mackey (Michael Chiklis) hat einen Weg gefunden: Wo Not am Mann ist, werden die Gesetze gebeugt, Rechte gebrochen und immer wieder auf eigene Rechnung gearbeitet. Als Mackeys Vorgesetzter, der auf eine politische Karriere spekulierende Latino David Aceveda (Benito Martinez), von den dubiosen Machenschaften Mackeys erfährt, schleust er einen Spitzel in dessen Team ein. Aber der mit allen Wassern gewaschene Mackey hat Wind von Acevedas Coup bekommen und nutzt einen nächtlichen Einsatz, um den Verräter eiskalt umzubringen. Dieses kaltschnäuzige Verbrechen ist der Anfang eines unaufhaltsamen Abstiegs, der alle Beteiligten in einen Strudel aus Verbrechen und Gewalt reißt …   

THE SHIELD fügt sich zunächst einmal in das in zahlreichen Filmen und Serien ausdefinierte Copgenre ein, dessen längst vertrauten Figuren, Motive und Konflikte innerhalb der sieben Staffeln umfassenden Serie jedoch mit einer Komplexität beladen werden, die dazu geeignet ist, THE SHIELD entweder als vorläufigen Endpunkt oder aber als neuen Anfang des Genres zu deklarieren. Wir kennen den THE SHIELD zugrunde liegenden Konflikt aus zahlreichen Copfilmen: der Cop als Staatsdiener, der helfen soll, das Verbrechen zu beseitigen, doch dessen Rechte und Mittel gegenüber denen seiner Gegner beschränkt sind; der sich an Regeln halten muss, die von seinen Widersachern stets gebrochen werden; dessen Abzeichen ihn für seine Kontrahenten geradezu zur Trophäe macht, während er stets auf deren Unversehrtheit bedacht sein muss. Die Cops aus THE SHIELD – das Strike Team Mackeys – zerbrechen jedoch nicht an diesen Widersprüchen, weil sie ihnen ganz offensiv begegnen. Weder resignieren sie, noch stilisieren sie sich zu alttestamentarischen Rächern. Sie nutzen ihre Befugnisse und Insiderkenntnisse, um sich einen Ausweg aus dem Job zu ebnen – und um sich abzusichern. Denn sie wissen, dass sie eigentlich auf die andere Seite der Gitterstäbe gehören. Vic Mackey und sein Strike Team halten sich nicht (immer) an die Regeln, aber wer wollte es ihnen angesichts der bürgerkriegsähnlichen Zustände, innerhalb derer sie operieren müssen, verdenken? Das Problem des Utilitarismus: Ist es angemessen, die Rechte eines Einzelnen zu beugen, wenn man dafür die Rechte mehrerer schützt? In THE SHIELD wird diese Frage mit einem klaren Jein beantwortet. Das richtige Leben im Falschen …

Dieser Konflikt wird in THE SHIELD jedoch noch zugespitzt, indem die Zero-Tolerance-Politik des Strike Teams nicht von einer humanistisch-philosophischen Perspektive aus problematisiert wird, sondern ihre konkreten, handfesten Folgen ins Visier genommen werden: Mehr als jede(r) andere Cop-Serie/-Film beleuchtet THE SHIELD sowohl die zwischenmenschlichen Konflikte am Arbeitsplatz als auch die gesellschaftspolitischen Implikationen der Polizeiarbeit. Den oben beschriebenen Renegade-Cops des Strike Teams steht nämlich noch ein anderer Typus gegenüber: der By-the-Book-Cop, der regelkonforme Realist innerhalb des Reviers, der seinen Job nicht als messianische Aufgabe, sondern als „Work in Progress“ begreift, zu der Enttäuschungen dazugehören und in die er sich deshalb  nicht zu weit verstricken darf. Die Einsicht in die Unerklärlichkeit menschlichen Treibens hat diesen Cop davor bewahrt, zum Zyniker zu werden, und ihn angespornt, noch besser zu werden, seine Methoden jeden Tag einer Revision zu unterziehen. Auch zwischen diesen beiden Sorten von Cop kommt es in THE SHIELD zum Konflikt, weil ihre jeweilige Vorgehensweise keine gemeinsame Schnittmenge kennt. Die Regelverletzungen des „bad cops“ bringen den „good cop“ regelmäßig um die Früchte seiner Arbeit, während dessen Regeltreue wiederum einen Hemmschuh für den ersteren darstellt. In THE SHIELD wird dieser im Laufe der Serie immer weiter eskalierende Konflikt – der schließlich die Sicherheit der ganzen Gesellschaft gefährdet – durch den genannten wirtschaftspolitischen Aspekt verkompliziert: Das Revier in Farmington steht unter strenger Beobachtung durch das Polizeipräsidium und die Stadtregierung, ist demnach gezwungen, eine entsprechende Bilanz vorzuweisen. „Verhaftungen“ heißt die kostbare Währung der Ordnunghüter. Weil nur eine angemessene Zahl von Verhaftungen die Verantwortlichen von der Notwendigkeit eines Polizeireviers überzeugt, sind die angestellten Polizisten geradezu verdammt dazu, diese auch zu liefern. In Anlehnung an die bekannte Fußballerweisheit könnte man das daraus entstehende Problem wie folgt bezeichnen: „Verbrechen ist, wenn der Polizist eingreift.“  THE SHIELD verabschiedet sich von einer trotz aller in den letzten 30 Jahren Copfilm kultivierten Resignation immer noch mitschwingenden Melancholie, die den Polizisten als tragisches Opfer einer Zeitenwende beschreibt: In THE SHIELD ist er längst nicht mehr nur der beobachtende Wächter, der nur eingreift, wenn es die Situation erfordert, er ist vielmehr unentwirrbar in die Wechselbeziehung von Verbrechen und dessen Bekämpfung eingebunden. Man könnte auch sagen: Aus dem Dienstleistungsbereich ist er in das produzierende Gewerbe gewechselt.

Es ist dieses undurchschaubare Geflecht aus konkurrierenden und sich ergänzenden Interessen, das die Grundlage für die in sieben Staffeln ungebremst entwickelte Sogwirkung der Serie darstellt. Nun ist das Bild von der Spannung als einem Sog, der den Zuschauer ins Geschehen zieht, wohl eines der großen sprachlichen Klischees der Filmrezension. Hinsichtlich THE SHIELD trifft es den Nagel aber auf den Kopf. Von Beginn an stellt sich der Handlungsverlauf der Serie als kontinuierliche Zuspitzung und Pointierung dar, eskalieren Situationen selbst dann noch, wenn man glaubt, dass sie nun in eine Phase der Entspannung eintreten müssten. THE SHIELD ist eine sich unaufhaltsam drehende, dabei immer weiter verengende Spirale, die deshalb irgendwann auch einfach im Nichts enden muss: Seinen Protagonisten gehen mehr und mehr die Handlungsoptionen aus. Wenn Mitproduzent Chiklis THE SHIELD als „moderne amerikanische Tragödie“ bezeichnet, so tut er dies mit einiger Berechtigung: Der Weg seiner Protagonisten führt ins Nichts, in Tod und Unglück, und er ist von Anfang an vorgezeichnet. Es gibt hier keine Schicksalsgläubigkeit: Das Unglück bricht eben nicht unvorhersehbar und willkürlich über den Charakteren hinein, vielmehr führt jeder einzelne ihrer Schritte sie näher an dieses Ende heran. THE SHIELD bricht mit dem Bild des alles durchschauenden Planers: Jedes Ausweichmanöver, das Mackey und sein Strike Team machen, um ihre Schandtaten zu vertuschen, eröffnet auch neues Gefahrenpotenzial, eine weitere Hintertür, an die ihre Jäger plötzlich klopfen können. Es gibt keine Entspannung in THE SHIELD, nur Phasen geringerer und stärkerer Anspannung. Dass dies gelingt, liegt vor allem an dem geschickt zusammengestellten Figureninventar: Wechselnde Rivalitäten und Loyalitäten, Nichtangriffspakte, die aus Vernunft geschlossen werden, nur um sie im richtigen Moment zu verheerendem Resultat brechen zu können, Animositäten und natürlich die unweigerlichen Missverständnisse, die das menschliche Zusammenleben zu einer solch komplizierten Angelegenheit machen, prägen die beruflichen wie auch die privaten Beziehungen, bis sich diese schließlich kaum noch auseinanderhalten lassen. 

Man liest im Zusammenhang mit der Serie immer wieder von ihrem bahnbrechenden Realismus. Das ist einigermaßen schockierend, weil THE SHIELD eine Hölle auf Erden entwirft, mit dem Strike Team eine an alte Westernfilme erinnernde Gang, die brandschatzt, plündert, raubt und mordet, ihnen Vorgesetzte voranstellt, die nur den eigenen Vorteil im Sinn haben – und wenn nicht, bald schon den Kürzeren ziehen -, und den Rest der Welt sauber in Verbrecher und Opfer teilt. Farmington ist kein real existierender Stadtteil, noch nicht einmal ein realistischer fiktiver, sondern eine Ameisenfarm, die die Drehbuchschreiber nach Herzenslust manipulieren können – passenderweise wird das Revier auch „The Farm“ genannt. Auf kleinstem Raum tummeln sich hier alle erdenklichen Arten von Kriminellen: Vom Drogendealer über das Gangmitglied und den Hehler bis hin zum Serienkiller ist jeder Typus vertreten, sodass die Unterstellung des Realismus mehr als fragwürdig erscheint. Neben dem in den Neunzigerjahren durch Serien wie NYPD BLUE  geprägten visuellen Stil, der den Zuschauer durch handgehaltene verwackelte shots mitten in das Geschehen hineinzieht und die auf der Inhaltsebene etablierte Unsicherheit spiegelt, ist für dieses Missverständnis wohl vor allem die Detailtreue und Komplexität verantwortlich, die daher rührt, dass den Machern von THE SHIELD ungleich mehr Erzählzeit zur Verfügung stand als einem Spielfilmregisseur. In THE SHIELD wird Realismus vor allem mithilfe des Faktors Zeit simuliert. Das ist kein Betrug: Es ist schließlich als eine der größten Leistungen jeder Art von Dichtung anzusehen, dass sie Wahrheit durch Stilisierung erreicht. Die Charaktere in THE SHIELD sind unzweifelhaft Typen: Das wird überaus deutlich, wenn Vic Mackey sich einmal selbst als „action hero“ bezeichnet. Er ist die Quintessenz des toughen Cops, den der Dienst auf den Straßen abgehärtet hat, doch werden durch die Implementierung dieses Charakters in einen größeren Rahmen – Mackey hat eine Ehefrau und zwei Kinder, von denen eines sich als autistisch herausstellt, was der beruflichen Anspannung auch eine private entgegensetzt, die wiederum zu einer weiteren Eskalation beiträgt – dessen Grenzen aufgezeigt. Der alles vorausahnenende und -planende „action hero“ wird in THE SHIELD an seine Grenzen geführt und dekonstruiert. Am Ende verliert er alles: Geld, Frau, Freunde. Doch die härteste Strafe für ihn ist, dass man ihn zu einem tristen Schreibtischjob verdonnert. Die Welt ist nicht gemacht für Actionhelden.

(14.04.2010: Der aufmerksame Holger hat mich richtigerweise darauf hingewiesen, dass Vic Mackey drei Kinder hat, von denen zwei autistisch sind und „The Farm“ tatsächlich „The Barn“ heißt. Wikipedia hat mich angelogen.)

(15.04.2010: Letzte Korrektur: Wikipedia hat nicht gelogen, sondern nur die halbe Wahrheit gesagt: „The Barn“ bezeichnet das physische Polizeirevier – also das Gebäude -, „The Farm“ den Polizeibezirk Farmington. Ich hatte also doch Recht.)

Eine Clique bestehend aus französischen Prekariatsjugendlichen begibt sich auf einen Wochenendausflug aufs Land. Am Ziel angekommen begegnen sie ihrem Hausmeister Joseph (Vincent Cassel), einem ebenso aufdringlichen wie aggressiven Hinterwäldler, der bald schon höchst merkwürdige Privatgeschichten erzählt. Und dass er seine Frau vor den Besuchern versteckt, sorgt für zusätzliches Misstrauen …

Ich habe mir SHEITAN nach einem doch recht wohlwollenden Review in der Splatting Image zugelegt und bin jetzt einigermaßen verwirrt: Klar, schlecht ist Chapirons Backwood-Horrorfilm nicht, aber was genau da jetzt das Lob hervorgerufen hat, ist mir dennoch einigermaßen verschlossen geblieben. Positiv erwähnen muss man sicherlich Vincent Cassel, der aus einer für ihn zwar nicht gänzlich untypischen, aber in dieser Form doch zumindest ungewöhnlichen Rolle das Optimum herausholt. Sein Joseph ist bis zum Schluss ein Charakter, den man nicht richtig einordnen kann, dessen Bedrohlichkeit man immer wieder als eigene Fehleinschätzung abzuheften geneigt ist, auch weil SHEITAN ähnlich wie THE HOUSE OF THE DEVIL eine Strategie des Verzögerns und Zuspitzens fährt und seinen makabren Höhepunkt erst kurz vorm Finale findet. Er ist also das Überraschungselement, das SHEITAN von dem ganz ähnlich gelagerten FRONTIERE(S) abhebt. Das führt mich direkt zur zweiten „Stärke“ von SHEITAN: Im Jahr 2006 entstanden darf man ihn als Mitinitiator sowohl des neuen Backwood-Horrors als auch des französischen Splatterfilms bezeichnen; eine Tatsache, die die späte Veröffentlichung in Deutschland etwas zu überdecken droht und dem Film gegenüber etwa dem genannten FRONTIERE(S) einen klaren Nachteil verschafft. Andererseits: Richtig packend oder interessant ist die Geschichte von den asozialen Vorstadtkids, denen in Redneck-County Mores gelehrt wird, auch im Jahr 2006 nicht gewesen. Und wer an FRONTIERE(S) den vollkommen überzogenen Splatter mochte, wird SHEITAN vermutlich eher langweilig finden. Ich stehe irgendwo dazwischen: Diese prolligen 16-Jährigen mit ihrer Kifferei, dem Proleten-Hip-Hop und ihrer ostentativen Geilheit interessieren mich nicht die Bohne und ihr Schicksal ist mir vollkommen schnurz, SHEITAN somit ein etwas langatmiges Unterfangen. Aber dann ist da Vncent Cassel mit diesem Schnurrbart, dem Strickpulli, den gelben Zähnen und den Gummistiefeln …

In einem nicht näher genannten lateinamerikanischen Staat herrscht Bürgerkrieg. Der Rebellenführer Carrasco (Lewis Collins) führt seine tapferen Freiheitskämpfer mit großem Geschick gegen die Truppen des Präsidenten, die von dem wahnsinnigen Silveira (Klaus Kinski) geleitet werden …

KOMMANDO LEOPARD gehört zu den „Spätfolgen“ des Mitte der Siebzigerjahre überaus erfolgreichen THE WILD GEESE, der vor allem in Italien eine ganze Flut von ähnlich gelagerten Söldnerfilmen auslöste, und ist einer der Vertreter der letzten Welle italienisch (co)produzierter Filme, die in den auslaufenden Achtzigerjahren noch in großen Stückzahlen den Weg ins Kino fanden. Die Nostalgie ist dann auch ein nicht zu unterschätzender Grund, warum man sich KOMMANDO LEOPARD heute noch anschauen möchte: 25 Jahre später wirkt dieser Kracher wie aus einer anderen Welt, kaum denkbar sind heute seine wunderbaren Miniatureffekte (für die Margheriti berühmt war), die Besetzung mit Charakterfressen wie den genannten, zu denen sich auch noch solche deutschen Semiprominenzen wie Manfred Lehmann und Thomas Danneberg  gesellen (letzterer spricht sich lustigerweise nicht selbst, weil er – wie könnte es auch anders sein – Carrasco snychronisiert), die unzähligen dicken Explosionen und die zur Schau gestellte Söldner- und Guerrileroromantik, deren wenigen kritischen Untertöne selbst schon zum Inventar gehören und kaum auffallen. Zu Grunde liegt eine Vorstellung von südamerikanischen Rebellen als feurigen, von einer tiefen Leidenschaft ergriffenen Träumern, die bei jeder Gelegenheit zu an die Menschlichkeit appelierenden Monologen anheben, tief religiös und hoffnungslos unterlegen sind, aber zum Glück immer einen geradezu fanatisch altruistischen Priester auftun, der bereit ist, für die gute Sache in den Tod zu gehen. Zwischen all diesen stets aus tränenunterlaufenen Augen blickenden Herzensmenschen gibt Collins dann die  Mensch gewordene Definition des Begriffs „Profi“, den er dank seiner Teilhabe an der gleichnamigen Serie in den Achtzigerjahren in Reinkultur verkörperte. Sein Carrasco ist kein schlechter Mensch, aber er fühlt sich nicht allein für das Menschenheil verantwortlich. Wo gehobelt wird, da fallen eben auch Späne. Ein Hoch auf den Utilitarismus, der immer weiß, wie viele Tote denn durch die „gute Sache“ gerechtfertigt sind.

Es gehört zu den krassen Verdrehungen des Söldnerfilms, dass er diese Haltung zum unverrückbaren Faktum und ihre Vertreter somit zu Opfern macht. Doch die immer wieder artikulierte Auffassung vom Krieg als Kampf, in dem es keiner Gewinner, nur Opfer gibt, der immer wieder Entscheidungen erfordert, die über das einzelne Menschenleben hinausgehen, von Männern, die bereit sind, die Verantwortung für diese Entscheidungen zu übernehmen, ist im Söldnerfilm sowieso kaum mehr als kitschige Ausschmückung, sie ist weniger inhaltlicher als vielmehr formaler Gestaltungsaspekt, weil sie vor allem zur Zeichnung einer bestimmten Atmosphäre dient. Der Söldnerfilm weist eine fatalistische Schicksalsergebenheit auf, die seine Figuren von ihrer Verantwortung enthebt, sie geradezu zu Opfern der Umstände verzeichnet. In dieser Hinsicht ist KOMMADO LEOPARD also hochgradig zweifelhaft. Weil aber Nostalgie das Motiv für die Wiederbegegnung war: Auf dieser Ebene hat KOMMANDO LEOPARD auch diesmal wieder funktioniert.

Der namhafte Dr. Rick Marshall (Will Ferrell) wurde für seine Behauptung, Zeit- und Dimensionsreisen möglich machen zu können, einst zur nationalen Lachnummer. Zu Unrecht: Denn seine Maschine funktioniert wirklich, wie er, seine Assistentin Holly (Anna Friel) und Will (Danny McBride), der gammlige Leiter einer miesen Touristenfalle, bald schon feststellen müssen, als sie sich in eine Dimension versetzt sehen, in der Zukunft und Vergangenheit aufeinanderprallen. Doch wie kommen sie zurück?

LAND OF THE LOST ist die Verfilmung einer alten Science-Fiction-Serie, die mir leider (?) unbekannt ist. Inwieweit Silberling mit seinem Film den Spirit der Serie trifft, kann ich demzufolge nicht beurteilen, vermute aber, dass die Schwächen des Films genau darauf zurückgehen; dass man sich nicht recht entscheiden konnte, ob man nun ein zeitgemäßes Update, eine Parodie oder eine den Trashappeal der Serie hofierende Hommage produzieren wollte. So ist der Film zwar durchweg unterhaltsam und kurzweilig, aber auch irgendwie seltsam unentschlossen: Da stehen moderne CGI-Effekte neben absichtlich billigen Gummikostümen und jugendfreies Entertainment neben anstößigem Frat-Boy-Humor, der ganze Spuk ist überaus schnell vorbei und hinterlässt nur wenig bleibende Eindrücke. Will Ferrells zwei, drei wirklich gute Szenen hieven den Film knapp über den Status der Belanglosigkeit, Danny McBride gibt einen guten Sidekick ab, es gibt insgesamt nicht wirklich etwas zu meckern. Aber ich vermute, dass mit einem anderen Regisseur als Brad CASPER Silberling etwas mehr drin gewesen wäre. Richtig erstklassig sind eigentlich nur die abschließenden, wunderschön animierten Credits, für die die ganze Mühe draufgegangen zu sein scheint, die man für den Film selbst nicht mehr aufbringen wollte.

Zweitsichtung. Zu meinem letztes Jahr geschriebenen Text habe ich nur wenig hinzuzufügen, würde meine damals schon getroffene Diagnose, derzufolge BRONSON ein „problematischer“ Film ist,  aber noch einmal unterstreichen wollen.

Tatsächlich ist Winding Refn vielleicht etwas zu fasziniert von seiner Hauptfigur, dem asozialen Gewohnheitsschläger und Gefängnis-Dauergast Michael „Bronson“ Peterson (Tom Hardy), als dass er die gebotene Distanz wahren könnte, vielleicht ist es aber auch nur konsequent, dass er sich eine Kritik an seinem Protagonisten verkneift, dafür aber hier und da kleine Seitenhiebe auf die äußeren sozialen Umstände verteilt, mit denen Peterson konfrontiert wurde und die nicht dazu beitrugen, ihn auf einen besseren Weg zu führen. Solche Gesellschaftskritik geht in Filmen dieser Art meist mit der Huldigung eines Lebensentwurfs einher, der sich nicht kapitalistisch „verwerten“ lässt – man denke etwa an den belgischen EX DRUMMER, dem ich einen wirklich arg unangenehmen Zynismus attestieren würde -; und auch hier hat man den Eindruck, dieser lebensunfähige Bronson solle ein Vorbild darstellen, weil er sich nicht verinnahmen lässt. Bronson ist nach dieser Sichtweise ein Rebell, der sich nicht ins Establishment eingliedern lässt (hier geht Refn dann auch einen Schritt weiter als etwa Kubrick mit seinem A CLOCKWORK ORANGE), ihm stattdessen seine Verachtung unmittelbar – und wortwörtlich – ins Gesicht schleudert. Dass diejenigen, denen er da regelmäßig die Nase bricht, aber auch nur Menschen sind, die einen Job machen, gerät bei so viel Punk-Attitüde leider etwas in Vergessenheit. Man muss auf der Hut sein, um BRONSON nicht zu erliegen. Refn ist es auch nicht ganz gelungen.

Dieser Film des amerikanischen Exilanten  Jules Dassin – nachdem sein Freund Edward Dmytryk ihn als Kommunisten denunziert hatte, landete er auf der schwarzen Liste und konnte folglich in den USA keine Filme mehr machen – ist die Blaupause für das auch heute noch beliebte Subgenre des Heist Movies oder – auf Deutsch – „Einbruchsfilms“. Das ist zumindest das, was die Geschichtsbücher sagen, und ich glaube es ihnen einfach mal, da mir auch kein älterer Film einfiele, der eine ähnlich elaborierte Einbruchsszene aufweisen würde. Diese steht im Zentrum von RIFIFI, nimmt eine gute halbe Stunde der Gesamtspieldauer ein und kommt gänzlich ohne Dialoge oder Musik aus, was zum einen ihren Realismus unterstreicht (RIFIFI hatte seinerzeit massive Zensurschwierigkeiten, weil man befürchtete, er könne als „Anleitung“ dienen; tatsächlich wurden einige Einbrüche nach seinem Vorbild verübt), zum anderen die Spannung ins Unermessliche steigert. Dassins Inszenierung ist dabei so makellos und überzeugend, das man sich kaum eine andere vorstellen kann: Folgerichtig greifen auch heute noch Regisseure bei der Inszenierung solcher Sequenzen auf die von ihm etablierten Stilistiken zurück (man vergleiche etwa so unterschiedliche Filme wie Melvilles LE CERCLE ROUGE, Soderberghs OCEAN’S ELEVEN oder De Palmas MISSION: IMPOSSIBLE).  

Den Film auf diese eine Sequenz zu reduzieren, wäre jedoch ungerecht, denn RIFIFI ist noch in anderer Hinsicht bemerkenswert: Ich habe selten einen Film gesehen, der bei einer Lauflänge von zwei Stunden ähnlich kompakt wirken würde. Er zeichnet sich durch eine unglaublich strenge Struktur aus, in der alles seinen Platz hat und nur wenig Raum für Spontaneität bleibt. Jede Szene hat eine Funktion, alles greift ineinander, eins kommt zum anderen. Doch RIFIFI ist dabei nicht etwa leblos, wie man anhand dieser Beschreibung annehmen könnte, vielmehr unterstreicht Dassin mit seiner Inszenierung die Tragik des Stoffes: Seine Protagonisten mögen Profis in ihren zwielichtigen Jobs sein, die nötige Akribie in der Planung ihres Coups aufweisen und das Expertenwissen und Geschick in der Umsetzung mitbringen, doch im Leben sind sie allesamt Amateure. Es bleibt ihnen kaum Zeit, ihren Erfolg zu genießen, weil einem von ihnen schon nach kurzer Zeit ein ebenso dummer wie unnötiger Fehler unterläuft, der ihnen letzlich allen das Leben kosten wird. Das Leben ist kein Schachspiel.

Beeindruckender als den Einbruch selbst fand ich die Schlusssequenz, für die Dassin seinen dokumentarisch-beobachtenden Stil zugunsten einer rauschaft-expressionistischen Inszenierung über Bord wirft. Wenn der letzte der „hommes“ tödlich verwundet am Steuer seines Wagens sitzt, das aus den Händen der Bösewichter gerettete Kind auf dem Beifahrersitz, und nur mit Mühe und Not bei Bewusstsein bleibt, um wenigstens noch etwas in seinem Leben richtig zu machen, bevor er sich für immer verabschiedet, die Welt um ihn herum in einen unaufhaltsamen Strudel gerät, dann ist das ebenso ein krasser Gegenentwurf zur Strenge des vorangegangenen Films als auch ein denkbar konsequentes Ende. Am Ende verlieren wir alle unser Pokerface.

Im bislang stärksten Beitrag zur Dokumentarfilm-Reihe nimmt Regisseur Richard Pearce die Musikstadt Memphis aus verschiedenen Blickwinkeln unter die Lupe. Der vordergründige äußere Anlass für seine Beschäftigung ist ein Blues-Festival, das im Jahr 2002 verschiedene ehemalige Größen an ihrer einstigen Wirkungsstätte vereinigte: B. B. King, Ike Turner, Rosco Gordon und einige weitere. Doch natürlich spielte Memphis nicht nur in der Geschichte des Blues (und schwarzer Musik überhaupt) eine wichtige Rolle: Die Stadt im Bundesstaat Tennessee war Schauplatz wichtiger (sozial)politischer Umwälzungen, ein Ort, an dem das Problem der Rassentrennung besonders aktiv ausgefochten wurde und der die Übel des Rassismus ebenso verkörperte wie die nicht schwindende Hoffnung auf bessere Zeiten.

Analog zum Titel bewegt sich Pearce zunächst in konzentrischen Kreisen um seinen Handlungsort, folgt abwechselnd dem 66 Jahre alten Bluessänger und Entertainer Bobby Rush auf seiner Tournee durch kleine Clubs, die ihn am Ende nach Memphis führen soll, dann B. B. King, der zum oben erwähnten Festival anreist und in Erinnerungen an längst vergangene Tage schwelgt, und heftet sich an die Fersen der einstigen Lokalprominenz Rosco Gordon, der „seine Stadt“ nach jahrzehntelanger Abwesenheit kaum wiedererkennt. Die Beale Street, eine Vergnügungsmeile, die einst fest in schwarzer Hand war, der sprichwörtliche „heaven for black people“, ist zur langweiligen Touristenmeile verkommen, auf der sich überwiegend weiße Urlauber tummeln, die in sterilen Kneipen schlechten Coverbands beim Kopieren des „authentischen“ Memphis-Sounds lauschen sollen. Die Veränderung, ein Wegsterben des Alten ist allgegenwärtig in THE ROAD TO MEMPHIS, dessen Protagonisten allesamt Relikte aus einer vergangenen Zeit sind. In Memphis erinnern sie sich noch einmal daran, wie es früher war: an die zahllosen Bluesclubs, in denen sie ihre ersten Erfolge feierten, an den ortsansässigen Radiosender, der sich als erster den Luxus eines schwarzen DJs gönnte, an die Sun Studios, in denen Produzent Sam Phillips keinen Unterschied zwischen weißen und schwarzen Musikern machte, aber auch an die Entbehrungen, die sie auf sich nehmen mussten. B. B. King erzählt von seiner Arbeit auf den Baumwollfelder, dass er dabei einmal zu Fuß die Welt umrundet habe, Gordon erinnert sich daran, wie er wegen seiner Hautfarbe von einem Polizisten auf offener Straße zusammengetreten wurde. Memphis ist die Stadt, in der schwarze Musiker berühmt werden konnten, aber auch die Stadt, in der Martin Luther King erschossen und die Schwarzenviertel daraufhin dem Erdboden gleichgemacht wurden. Ohne Zweifel: Vieles hat sich verbessert seit den alten Tagen, aber mit vielen Veränderungen kommen die alten Helden trotzdem nicht zurecht. Es scheint an der Zeit, sich zu verabschieden.

Den Film durchzieht Wehmut: Bobby Rush träumt in einem Alter, in dem andere sich zur Ruhe setzen, vom Durchbruch, vom Crossover zu weißen Publikumsschichten. Man ahnt zwar, dass ihm das nicht mehr gelingen wird, doch man kommt nicht umhin, die Hingabe dieses Mannes zu bewundern, der von sich selbst sagt, dass er in seinem ganzen Leben vermutlich nicht mehr als vier Wochen Urlaub gemacht habe – alles aus Liebe zur Musik. Undenkbar in einer Zeit, in der Jungtalente davon träumen, vom Fleck weg Superstar zu werden, die lästigen Lehrjahre einfach zu überspringen. Typen wie Rosco Gordon oder Rufus Thomas, mit ihren furchigen Gesichtern, in denen ein Leben voller harter Arbeit und schrecklicher Erfahrungen seine Spuren hinterlassen hat, mit all den Geschichten und Erinnerungen, werden ebenso aussterben wie Gentlemen vom Schlage eines B. B. King, der im übergroßen Jackett auf einem Stuhl sitzend seine Gitarrensoli spielt und dabei eine Tradition des Showmanship verkörpert, für die heute kein Platz mehr zu sein scheint. Ihr gemeinsamer Auftritt hat dann auch etwas von einer Museumsausstellung, einer Reise in die Vergangenheit: Was einmal war, wird nie mehr sein. Aber THE ROAD TO MEMPHIS macht auch sehr klar, dass hier nicht nur eine Generation langsam abtritt, sondern mit ihr ein Stück Kultur: Wer könnte den Blues so überzeugend singen, wie diese Männer, die mit bloßen Händen das Land umgegraben und die volle Härte des weißen Rassismus zu spüren bekommen haben?

Es scheint bei aller Tragik nur konsequent, dass Rosco Gordon, Rufus Thomas und Sam Phillips kurz nach Fertigstellung des Films verstarben. Ersterer segnete nur sechs Wochen später das Zeitliche, als er sich für einen Auftritt vorbereitete. Er war immerhin noch einmal nach Hause zurückgekehrt, nach Memphis, dem Himmel der Schwarzen.

Der zum Tode verurteilte Schwerverbrecher Abel Davos (Lino Ventura) ist auf der Flucht: Mit seinem besten Freund und Partner in Crime Raymond (Stan Krol), seiner Frau Therese (Simone France) und seinen beiden kleinen Kindern will er aus Mailand nach Paris zurückkehren, wo ihm ein paar ehemalige Weggefährten helfen sollen, ein neues Leben zu beginnen. Doch nach großen Strapazen kommt es bei der Landung an der französischen Riviera zu einem Schusswechsel mit zwei Zollbeamten, bei dem Raymond und Therese ihr Leben lassen. Von nun an ist Abel auf sich allein gestellt: Die Kinder erschweren sein Vorhaben und auch die vermeintlichen Freunde reißen sich nicht gerade ein Bein aus, um ihm zu helfen. Abel ist für sie längst zu einer Gefahr geworden …

Claude Sautets CLASSE TOUS RISQUES nimmt eine Sonderstellung innerhalb des (französischen) Gangsterfilms ein. Er liefert weder eine Milieustudie, noch romantisiert er das Gangsterdasein oder erhöht es zur existenzialistischen Metapher, wie so viele andere vor und nach ihm, sondern betont das Private und Menschliche seiner Geschichte, bietet dem Zuschauer die Möglichkeit, sich direkt mit Abel zu identifizieren. Der ist zwar ein brutaler Mörder, aber eben auch ein fürsorglicher Vater, dem die Tragweite seines Tuns langsam bewusst wird und der Reue zeigt, der den sprichwörtlichen Point of no Return aber längst hinter sich gelassen hat und nun erkennt, dass er sich zum Wohl seiner Kinder von ihnen trennen muss. In gewisser Weise dreht Sautet die Konventionen des Gangsterfilms um: Der Verlust der Moral und der Freundschaft, die Allgegenwart von Eigennutz und Verrat spielen auch in CLASSE TOUS RISQUES eine wichtige Rolle, doch sind sie hier nicht der Fehler im funktionierenden System, sondern ein fester Bestandteil desselben: Wenn Abel am Ende die Verantwortung für sein Handeln übernimmt, dann tut er das nicht, weil er keine andere Chance mehr sieht, sondern weil er es nicht länger ertragen kann, die Menschen, die ihn lieben, in Gefahr zu bringen und schließlich für ihren Tod verantwortlich zu sein. Der Gangster braucht Freunde, doch diese riskieren stets ihr Leben für ihre Treue zu dem Mann, der keine Rücksicht nehmen darf.

Dass ich vor kurzem Vater geworden bin, hat mir den emotionalen Zugang zum Film sehr erleichtert: Man kann Vatergefühle sicherlich auch nachvollziehen, ohne selbst Vater zu sein – dafür ist dem Menschen ja die Fähigkeit zur Empathie gegeben worden -, wirklich nachfühlen kann man Abels Schmerz aber wohl erst, wenn man selbst ein Kind hat. Bei der Szene, in der er seine beiden Söhne einem alten Freund anvertraut, ihnen zum Abschied noch mitgibt, dass sie bald wieder zusammen sein werden, obwohl bei ihm doch längst die Gewissheit herangereift ist, dass dem nicht so sein wird, sie sich – unschuldig und arglos wie sie sind – noch einmal umdrehen, um ihm zu winken, bevor sie in einem U-Bahn-Eingang verschwinden, und Abel – ein Bär von einem Mann – sich überwältigt von einem nahezu körperlichen Schmerz in einen Baum stemmt und sein Gesicht vor seinem Helfer Eric (Jean-Paul Belmondo) versteckt, hat sich in mir alles zusammen gezogen. Dabei ist Sautet – ähnlich wie schon Jacques Becker – kein Regisseur des emotionalen Überschwanges: CLASSE TOUS RISQUES kommt ohne aufwallende Musik aus, ohne inszenatorische Zaubertricks, er evoziert Emotionen vor allem durch die Inszenierung seiner Schauspieler, die Art und Weise, wie er sie ins Bild rückt und ihre Gesichter fotografiert. Das Ende ist einfach niederschmetternd: Abel hat sein Schicksal akzeptiert, er hat keine Lust mehr zu fliehen und eine immer länger werdende Blutspur hinter sich her zu ziehen. Ein mit der nüchtern-sachlichen Stimme einer Staumeldung gesprochener Voice-Over unterrichtet noch davon, dass Abel sich gestellt hat, das Urteil gesprochen, die Todesstrafe vollstreckt wurde, dann ist der Film zu Ende. Was ist wohl aus seinen Kindern geworden? Gänsehaut.