Archiv für März, 2011

Auf F.LM – Texte zum Film kann man meine Rezension zu Steven R. Monroes Remake von Meir Zarchis I SPIT ON YOUR GRAVE lesen, einem der Klassiker des kontroversen Kinos. Der Film ist besser als man das erwarten durfte, aber natürlich kaum weniger streitbar als der Vorgänger – wenngleich auch aus komplett anderen Gründen. Die Sichtung im Rahmen der Fantasy Filmfest Nights war trotzdem ein furchteinflößendes Erlebnis: Was es über den Zustand der Menschheit aussagt, dass einige Vollhonks die unappetitlichen und keineswegs lustigen Gewaltszenen frenetisch bejubelten, so als säßen sie in einem Funsplatterfilm, möchte ich mir lieber nicht ausmalen. Die Empfehlung, ihn sich lieber nicht im Kino anzusehen, um solchen Mutanten zu entgehen, kann ich mir aber sparen, denn Monroes Film wird mit Sicherheit niemals ein deutsches Kino von innen sehen.

John Russell (Paul Newman) wurde als Kind von Apachen entführt und aufgezogen, dann von einem Weißen aufgegriffen und mit der Zivilisation vertraut gemacht, bevor er zu den Indianern zurückkehrte. Der Tod seines weißen Ziehvaters führt ihn wieder in die Stadt, wo ihn der Alltagsrassismus, der ihm entgegenschlägt, wieder daran erinnert, warum er sich aus der Gesellschaft der Weißen einst zurückgezogen hatte. Doch dieselben Menschen, die die Indianer verachten, sind bald glücklich, einen in ihrer Mitte zu haben: Als die Bande von Cicero Grimes (Richard Boone) die Postkutsche überfällt, mit der auch John reist, und ihn und die anderen Passagiere in der Prärie aussetzt, leitet Russell den Gegenangriff …

HOMBRE ist nach THE SPY WHO CAME IN FROM THE COLD gleich in mehrerlei Hinsicht ein Art Rückkehr für Ritt: Ganz wörtlich, weil er ihn nach dem Abstecher in die alte Welt wieder in seiner Heimat produzierte, aber auch weil er erneut – zum mittlerweile sechsten, aber auch letzten Mal – mit seinem Lieblingsschauspieler Paul Newman und – zum dritten und vorletzten Mal – mit Cinematographer James Wong Howe zusammenarbeitete und bildlich, weil er sich inhaltlich wieder mit dem Thema Rassismus im Besonderen und dem Konzept von „Rasse“ im Allgemeinen auseinandersetzte, Themen, die bereits EDGE OF THE CITY und THE OUTRAGE geprägt haben.

HOMBRE erzählt von einem Wanderer zwischen den Welten – was aber nicht ganz richtig ist, denn ist sein Protagonist der Erbanlage nach auch eindeutig ein Weißer, so hat er sich doch ebenso eindeutig für ein Leben als Indianer entschieden. Und nichts deutet darauf hin, dass er von diesen nicht als vollwertiges Mitglied akzeptiert würde oder sich nicht selbst als solches empfände. Wenn er die Stadt der Weißen aufsucht, ist er so klug, als solcher aufzutreten, seine langen Haare abzuschneiden und sich entsprechend zu kleiden, aber es spricht Bände, dass er dabei aussieht, als trüge er ein Kostüm. Paul Newman ist alles in diesem Film: Er dominiert ihn mit einer stoischen Ruhe, die man als Filmseher automatisch mit den klischierten noble savages verbindet, die von den Weißen aber eben gerade nicht als besonders reizvoll oder edel betrachtet wird, sondern die sie im Gegenteil als Angriff empfinden. Und, ja mit der Distanz denen gegenüber, die ihn nicht mehr als einen der ihren, sondern als einer minderwertigen Rasse zugehörig betrachten, macht er sich im Verlauf des Films selbst schuldig.

Als Cicero Grimes in die Poststation kommt, kein Ticket mehr für die Kutsche erhält, die er doch mit seinen dieser auflauernden Kumpanen überfallen will, und daher zunächst versucht, Russell unter Androhung von Gewalt dessen Ticket abzuschwatzen, kommt diesem ein anderer Passagier, ein Soldat, zu Hilfe. Als Cicero daraufhin von Russell ablässt und sich nun eben diesem Soldaten zuwendet, hofft dieser wiederum auf die Unterstützung Russells – doch sie kommt nicht. Russell verteidigt sich später damit, er habe nicht um Hilfe gebeten, aber er kann den Vorwurf, dass seine Passivität asozial ist, nicht entkräften. Auch wenn er die Passagiere später durch die Wüste führt, ihnen bei ihrem Überlebenskampf beisteht: Er tut dies nicht aus Menschenliebe, sondern aus Indifferenz. Russell hat mit den Menschen – den Weißen – abgeschlossen. Das macht ihn zu einem Verwandten von Hud Bannon aus Ritts HUD. Er hat zu viel Schlechtigkeit gesehen und erlitten, als dass er sich noch irgendwelchen Illusionen hingeben würde. Aber diese Haltung erweist sich als nicht lebbar, weil sie den Kreislauf des Leidens perpetuiert, anstatt eine Zäsur zu erwirken, ein Zeichen der Menschlichkeit zu setzen. Russell ist ein Opfer, bei dem der Rassismus klaffende Wunden und schlecht verheilte Narben zurückgelassen hat. Er ist ein zerstörter Mensch, der keinen Beitrag zu ihrem Erhalt mehr leisten kann und will. Bis ganz zum Schluss, als er die einzig mögliche Konsequenz zieht.

HOMBRE hat den deutschen Titel MAN NANNTE IHN HOMBRE. Das ist Unsinn, weil es suggeriert, „Hombre“ sei Paul Newmans Rollenname, ein Spitzname, der den Protagonisten besonders hervorhebe. Aber niemand heißt „Hombre“ in Ritts Film. „Hombre“ ist Spanisch und heißt „Mann“, „Mensch“ und, was die Botschaft des Films wohl auf den Punkt bringt: „Erdenbürger“.

Alec Leamas (Richard Burton) ist nach Jahren der Geheimdiensttätigkeit für Großbritannien zwischen den Fronten des Kalten Krieges zermürbt, am Ende. Sein Auftraggeber Control (Cyril Cusack) schickt ihn auf seine letzte Mission, nach der Leamas endlich „aus der Kälte hereinkommen“ darf, wie im Geheimdienstjargon der Ausstieg aus dem Dienst genannt wird. Ziel seiner letzten Operation ist es, den russischen Agenten Mundt (Peter van Eyck), Leamas‘ Erzfeind, vor seinen eigenen Leuten als Doppelagent zu diffamieren und so seine Liquidierung zu erzielen. Zunächst läuft alles planmäßig, doch ausgerechnet die sich anbahnende Liebesbeziehung zur britischen Kommunistin Nan (Claire Bloom) wird ihm zum Verhängnis …

THE SPY WHO CAME IN FROM THE COLD, der auf einem frühen Bestseller John Le Carrés basiert, stellt ganz oberflächlich betrachtet zunächst einmal eine deutliche Abkehr von Ritts bisherigem Ansatz dar: Auch wenn er sich bereits zuvor mit politischen Themen wie Rassismus, Sexismus und den gesellschaftlichen Missständen einer kapitalistisch geprägten Welt allgemein beschäftigt hatte, so übte er seine Kritik doch stets vor dem Hintergrund zwar repräsentativer, aber dennoch vor allem individueller, persönlicher Schicksale. Natürlich geht es auch in THE SPY WHO CAME IN FROM THE COLD in erster Linie um Leamas und darum, welche Auswirkungen seine Tätigkeit auf sein Leben hat, aber sein Schicksal vollzieht sich hier nun vor dem Hintergrund weltpolitischer Ereignisse. Es geht genau um diesen Kontrast: darum, wie eben Politik von Menschen gemacht wird, deren persönliche Probleme plötzlich eine Tragweite erhalten, die über ihr eigenes Befinden weit hinausgeht; darum, wie umgekehrt die großen, wichtigen, das einzelne Individuum transzendierenden und die ganze Welt betreffenden Angelegenheiten von einem einzelnen Mann ausgehandelt und verarbeitet werden müssen. Wie kann ein einzelner Mensch diese Last tragen, ohne darunter zu zerbrechen? Es geht nicht.

Wenige Jahre, nachdem die James-Bond-Reihe mit sensationellem Erfolg angelaufen war, inszenierte Martin Ritt seinen düsteren Kalter-Krieg- und Spionagethriller als deutlichen Gegenentwurf zu deren Jet-Set-Pop-Fantasien. Oswald Morris fängt das Geschehen in dunklen, ungemütlichen, fast klaustrophobischen Bildern ein, fast der gesamte Film spielt in Innenräumen, in denen die Protagonisten sich in langen Dialogen verstricken, und wenn es dann doch einmal nach draußen geht, befindet man sich entweder am nächtlichen, von Stacheldraht gesäumten Checkpoint Charlie, am regnerischen Trafalgar Square, an der kargen niederländischen Nordseeküste oder in einem winterlichen Nadelwald irgendwo in Osteropa: Keine Spur von den exotischen Paradiesstränden, die Sean Connerys Superagent zur selben Zeit regelmäßig besuchen durfte. Die Musik von Sol Kaplan akzentuiert nicht die Taktierereien der Blöcke, die globalpolitischen Umwälzungen, sondern das menschliche Drama, das sich vor den Augen des Zuschauers vollzieht und Richard Burton spielt den Leamas nicht als weltgewandten und tollkühnen Charmeur und Lebemann, sondern als ausgebrannten Beamten, der den Glauben, für die richtige Seite zu arbeiten oder dafür, dass es diese überhaupt gibt, längst verloren hat. Burton, dem der Sinn für das rechte Maß sowohl beruflich als auch privat manchesmal abhanden kam, agiert hier, in einem Part, der ihm durchaus die Gelegenheit geboten hätte, auf seine ihm eigene, unverwechselbare Weise zu chargieren, mit angemessener Zurückhaltung und lässt den großen Namen hinter der Rolle fast vollständig vergessen. Der Clou an diesem Film, der vor lauter Konzentration und Kompaktheit fast Atemnot erzeugt, ist aber das raffinierte Drehbuch: Es gehört beim Agentenfilm ja fast zum guten Ton, dass man als naiver Durchschnittsmensch schnell den Überblick verliert; hier ist das genauso, was aber eben nicht an einer überkomplizierten Handlung liegt, sondern allein in der Struktur des Scripts begründet ist. Zum Verständnis wichtige Informationen werden lange zurückgehalten und dann mit verblüffendem Effekt nachgereicht. Diese Strategie funktioniert perfekt, weil so nicht nur die gegnerischen Agenten auf Leamas Täuschungsmanöver hereinfallen, sondern der Zuschauer gleich mit ihnen. Den Glauben an einen Spion, der sich in dieser Welt des Verrats, der Täuschung und versteckter Agendas mit Eleganz und Souveränität bewegt, zerschlägt Ritt mit Nachdruck: Ein Mensch muss hier früher oder später scheitern oder seelisch verkrüppeln. Den entscheidenden Twist, der das Treiben der Geheimdienste endgültig als amoralisch und unmenschlich enttarnt, verrate ich natürlich nicht. Er ist aber nur der krönende Abschluss eines Films, der sich zwar nicht unbedingt als Meisterwerk aufdrängt, aber trotzdem kaum anders bezeichnet werden kann.

Durch eine bizarr anmutende Felswüste stapfen drei US-Soldaten, beobachtet von einem über ihnen kreisenden Helikopter, aus dem auch der Zuschauer zunächst auf sie herabblickt. Dann befindet man sich direkt bei den GIs, die keineswegs den Eindruck vermitteln, sich im Krieg zu befinden: Zwanglos wird geplaudert, man beschwert sich über die Hitze, setzt sich vor einer Höhle schließlich für eine Pause hin und beginnt etwas Heroin zu rauchen. Der Araber (Vincent Gallo), der sich in dieser Höhle versteckt, gerät in Panik, erschießt die drei mit einer Panzerfaust, flieht vor dem nahenden Helikopter, wird aber schließlich gefangen genommen. Es ist der Anfang einer  Odyssee, die Jerzy Skolimowski in seinem Film eindrucksvoll in Szene setzt.

In einem Gefangenenlager wird der Araber in den bekannten orangefarbenen Overall gesteckt und erst verhört, dann schließlich gefoltert. Er landet in einem Gefangenentransport, der ihn in ein anderes, irgendwo in Osteuropa gelegenes Lager bringen soll, kann aber fliehen, als der Wagen von der Straße abkommt. Die Verfolger im Nacken, gelingt es dem Mann immer wieder sich durch Einfallsreichtum, Improvisationstalent oder schlicht wilde Entschlossenheit zu entziehen, doch fordern die Strapazen ihren Tribut: Er wird verwundet, erfriert fast, vergiftet sich mit wilden Beeren und halluziniert, verspeist Ameisen und Baumrinde, bis er ans Haus einer stummen Ärztin kommt, die seine Wunden verpflegt und ihn dann auf einem Schimmel ziehen lässt. Er wird nicht mehr weit kommen.

ESSENTIAL KILLING ist ein Film ohne Voraussetzung: Es gibt fast keine Dialoge, keinerlei Hintergrundinformationen, die das Geschehen genauer in Zeit und Raum verorten ließen, keine herkömmliche Dramaturgie mit Ruhepausen und Spannungsspitzen, keine explizit markierte Botschaft. Klar, wenn man will, lässt sich Skolimowskis Film wie jeder gute Kriegsfilm als Plädoyer gegen den Krieg lesen, indem er den Täter zum verängstigten Tier macht, den Konflikt aus seinem eigentlichen geografischen Raum in eine weit entfernte Region verlegt, in der sich die Nadelwälder auf schneebedecktem Boden von Horizont zu Horizont erstrecken und der Mensch bislang keinerlei Spuren hinterlassen zu haben scheint, die Sinnlosigkeit des Tötens in direkte Verbindung zur Gleichgültigkeit der Natur setzend. Im Grunde genommen ist ESSENTIAL KILLING so etwas wie die Avantgarde-Version von Ted Kotcheffs FIRST BLOOD: Die Schrecken des Krieges haben einen Mann in eine Kampf- und Überlebensmaschine verwandelt, die so lange ihr Programm abspulen wird, bis sie zerstört ist. Doch so vielsagend Skolimowskis Film in dieser Hinsicht auch ist, er erschöpft sich nicht in der Aufgabe, eine Botschaft unters Volk zu bringen. Da ist mehr.

ESSENTIAL KILLING ist ein enigmatischer, rauschhafter, betörender und verstörender Film, so klar, eindeutig und unmissverständlich er in seiner geradlinigen Handlung auch sein mag. Naturmystizismus trifft auf Spiritualismus, Action auf Impressionismus, das Konkrete auf das Unbestimmte, Offene. Aber er ist auch kein Film, den man nun Bild für Bild interpretieren müsste: Alles liegt ganz klar vor einem, unmittelbar verständlich, archaisch, direkt aus dem limbischen System heraus. Ein Film über das unbedingte Lebenwollen und das bedingte Sterbenmüssen, der in der unfassbar wunderbaren Szene kulminiert, in der sich Vincent Gallo an der Brust einer stillenden Mutter satttrinkt.

Ein dreiköpfiges studentisches Filmteam heftet sich an die Fersen eines mysteriösen Bärenjägers, der von den anderen Jägern misstrauisch als Außenseiter beäugt wird. Der Mann (Otto Jespersen) zeigt sich wortkarg und abweisend, doch die Studenten bleiben hartnäckig und mit der Kamera immer dicht dran. Nach einer turbulenten nächtlichen Begegnung im norwegischen Wald kommt die Wahrheit über ihn ans Licht: Er ist ein Trolljäger, der im Auftrag der Regierung aus ihrem Revier ausgebrochene Trolle einfängt und kaltstellt. Die norwegische Sagengestalt gibt es nämlich wirklich. Und der Trolljäger hat keine Lust mehr auf die Heimlichtuerei …

TROLLJEGEREN ist der neueste Vertreter des 1999 mit dem unglaublichen Erfolg von BLAIR WITCH PROJECT gerade im Horrorgenre populär gewordenen Found-Footage-Films. Gleich zu Beginn weisen – ganz typisch – mehrere kurze Texteinblendung auf die Authentizität des Materials hin, das man im Gegensatz zu dessen Urhebern bergen konnte, auf die Bruchstückhaftigkeit desselben und räumen ein, dass man nicht so genau wisse, was man davon zu halten habe. Worauf der folgende Film hinausläuft, ist damit schon vorgezeichnet, von Interesse eigentlich nur die Frage, was und wie sich dies vollzieht. TROLLJEGEREN ist damit strukturell ein ganz typischer Found-Footage-Film, dessen Eigenschaften und die aus diesen resultierenden narrativen Implikationen ich in meinem Text zu PARANORMAL ACTIVITY schon einmal versucht habe, aufzuführen. Doch TROLLJEGEREN weiß sich aus den Fesseln des Korsetts zu befreien, indem er die Blaupause für eine furiose Komödie nutzt, mit der Regisseur Øvredal zum einen wieder einmal einen Beweis für den herrlich trockenen Humor des skandinavischen Kinos erbringt, zum anderen seinem Heimatland eine filmische Liebeserklärung macht.

Der Troll, ein menschenähnliches, stinkendes haariges Wesen von minderer Intelligenz ist so etwas wie das heimliche Wappentier Norwegens und wird einem Besucher des Landes in den Souvenirgeschäften in tausendfacher Ausfertigung als Stofftier, Nippesfigur, Holschnitzerei oder als Postermotiv förmlich hinterhergeschmissen. Die Existenz dieser Wesen, denen jeglicher Glamour abgeht, die dafür aber die mit Norwegen assoziierte Urwüchsigkeit und Erdigkeit in Reinkultur verkörpern, wird in TROLLJEGEREN nicht nur als Fakt verkauft, sie ist auch Anlass für paranoide Verschwörungstheorien auf X-FILES-Niveau, die umso absurder sind, als es hier eben nicht um Aliens, Geheimagenten, Weltbeherrschung und Machtspielchen geht, sondern um Trolle. Der foxmulderesken Coolness und dem Hightech-Equipment der US-Agenten wird eine rührende Improvisations- und praktische Handwerkskunst gegenübergestellt, wenn etwa ein polnischer Lieferservice Bärenkadaver an die Trollfundorte bringt, um mit dessen Platzierung Neugierige abzulenken und zu besänftigen, ein Regierungsbeamter mit umgeschnallten Bärentatzen entsprechende Fußspuren produziert oder Trolljäger Hans in seinem kleinen Wohnwagen Trollhaarklumpen, -fett und -schleim einkocht, um Trollgestankkonzentrat zu Tarnungszwecken herzustellen.

Ein anderer großartiger Einfall des Films rührt hingegen an den Kern nationaler Mythen und Sagen generell, macht den Film eher zu einem reflektierten Bestandteil der norwegischen Folklore, anstatt diese arrogant von oben herab abzuurteilen. TROLLJEGEREN ist auch ein Road Movie, der die Protagonisten durch verschiedene Regionen des Landes führt und dabei dessen Topografie im Sinne seiner Prämisse umdeutet: zuerst werden umgestürzte Baumstämme und Erdrutsche als Zeichen von Trollaktivität und umherliegende Felsbrocken als Zeichen einer Auseinandersetzung zwischen Wald- und Bergtrollen gewertet, später gesteht Hans den erstaunten Studenten, dass es sich bei den Strommasten im Norden tatsächlich um Schutzzäune handelt, die die Trolle am Ausbruch aus ihrem Gebiet hindern sollen. In den besten Momenten des Films hat man fast den Eindruck, einzelne Szenen seien on-the-spot entstanden und improvisiert worden; als sei das Filmteam lediglich mit offenen Augen durchs Land gezogen und habe die Landschaft konsequent – und so wie der Trolljäger Hans – auf Anzeichen von Trollaktivitäten hin interpretiert. TROLLJEGEREN macht so sehr schön transparent, wie solche Sagen überhaupt enstehen.

TROLLJEGEREN steht nicht über den Dingen, macht sich nicht mit billiger, abgezockter Ironie immun gegen Kritik, sondern folgt seiner Prämisse mit voller Überzeugung und viel, viel Liebe und Herz. Die Trollanimationen sind traumhaft und im Finale erreicht der preisgünstig produzierte Film eine Erhabenheit und Epik, die in diesem Genre per definitionem eher abwesend ist, und für die ein CLOVERFIELD deutlich mehr Kapital und Technikeinsatz einsetzen musste.  Die Vorschusslorbeeren, die TROLLJEGEREN allerorten erhalten hat und die ihm sogar einen regulären deutschen Kinostart eingebracht haben, sind allesamt verdient. Er ist, so abgedroschen das Found-Footage-Subgenre heute auch schon wieder ist, ein wunderschöner, origineller und geistreicher Film, den ich noch während der Sichtung tief in mein Herz geschlossen habe. T(r)oll!

Jaime (Fernando Cayo), seine Frau Marta (Ana Wagener) und die gemeinsame Tochter Isa (Manuela Vellés) sind soeben in ein luxuriöses Haus eingezogen. Als sie noch darüber diskutieren, wie sie den ersten Abend im neuen Heim verbringen wollen, stürmen drei vermummte Gestalten herein und bedrohen die Familie. Als der Chef der Einbrecher (Dritan Biba) mit Jaime zum nächsten Geldautomaten fährt, um sämtliche Konten zu plündern, eskaliert zu Hause die Situation …

Terrorkino as usual. Zum xten Mal bricht in den Alltag einer ganz normalen Familie das Grauen in Form eines ebenso banalen wie rücksichtslosen Bösen ein. Demütigungen und physische Pein wechseln sich ab, dann kippt das Kräfteverhältnis kurzzeitig zugunsten der „Guten“, die nun beweisen dürfen, dass sie genauso gemein sein können wie ihre Gegner, bevor diese dann noch einmal ihre ganze Abgebrühtheit und die Tatsache unter Beweis stellen, dass das Terrorkino kein Happy End kennt – oder es vielmehr nicht kennen will. Die Inszenierung bemüht sich redlich, dem desillusionierenden Geschehen auf der Leinwand mit eisiger Präzision zur Seite zu springen: Mit einem entsprechend drangsalierenden Sounddesign bewaffnet, foltert der Regisseur auch den Zuschauer, zwängt ihn mit den zunächst hilflosen Opfern in das zunehmend beengende Haus, blendet in den wenigen Außenszenen jedes Detail der Umwelt konsequent aus und fokussiert so ganz auf den Überlebenskampf der Akteure, dessen Härten sich in Form von Blut und Tränen auf ihren Gesichtern abzeichnen. Kurze Split-Screen-Sequenzen, in denen sich jeweils eine Hälfte des Bildes den Opfern, die andere den Schurken widmet, sollen wohl die Spannung noch weiter steigern, distanzieren aber tatsächlich eher vom Geschehen, noch bevor diesem das mit seiner Monotonie ganz allein gelingt: Diese technische Finesse mutet  angesichts der Tatsache, dass Vivas jeden erzählerischen Schlenker zugunsten des nackten Affekts über Bord schmeißt, irgendwie albern an. SECUESTRADOS ist nicht schlecht gemacht und gut gespielt, aber dennoch so unkreativ, dass es weh tut – lustigerweise mehr als die zum Ende hin immer ausufernder werdenden Gewaltdarstellungen. Gut möglich, dass ich mit dieser Meinung allein dastehe (tue ich nicht): Rainer Stefan von Rosebud Entertainment, die die Fantasy Filmfest Nights ausrichten, lobte SECUESTRADOS als seinen persönlichen Favoriten und die in den letzten Jahren losgebrochene Flut von ähnlich brutalen No-Nonsense-Gewaltfilmen lässt auch keinen wirklich anderen Schluss zu. Ich hingegen empfinde es  mittlerweile nur noch als billig, wie dem Zuschauer unter dem Deckmäntelchen des Realismus eine Breitseite nach der anderen verpasst wird, ohne dass damit noch irgendein dahinterliegender Zweck verfolgt würde. Vielleicht ist SECUESTRADOS aber nicht nur zynischer, sondern auch reaktionärer Mumpitz: Seine Schurken weist der Film als Albaner aus. Dass ein Regisseur, der sonst so darauf bedacht ist, seinen Film durch den Verzicht auf allzu spezielle Details als allgemeingültig zu markieren, ausgerechnet bei der Herkunft seiner Bösewichter konkret wird, entkräftet diesen Verdacht jedenfalls nicht.

In der Nähe des amerikanischen Städtchens Silver Gulch wird die Leiche eines Mannes (Laurence Harvey) gefunden. Als ein Suchtrupp daraufhin in der Nähe des Fundortes den berüchtigten mexikanischen Banditen  Carrasco (Paul Newman) aufgreift, scheint der Fall klar. Doch vier Zeugenaussagen schildern die Vorgänge, die zum Tod des Mannes führten, völlig unterschiedlich …

Mit THE OUTRAGE, direkt nach HUD und wieder unter Mitwirkung von DoP James Wong Howe entstanden, adaptierte Ritt Akira Kurosawas berühmten RASHOMON: Eine Geschichte offenbart aus vier verschiedenen Perspektiven geschildert völlig konträre Fassetten, die damit letztlich belegen, dass „Wahrheit“ auch nur eine Konstruktion ist, deren Struktur in entscheidendem Maße vom jeweiligen Beobachter abhängt. Ich muss hier leider einräumen, RASHOMON immer noch nicht gesehen zu haben (dafür aber Mario Bavas Version des Stoffes, QUANTE VOLTE … QUELLA NOTTE), was es mir leider unmöglich macht, Aussagen darüber zu machen, wo Ritt von seiner Vorlage abweicht und was seine Version vom Original emanzipiert; ich behandle THE OUTRAGE aus diesem Grund konsequenterweise als autonomes Werk: Wer RASHOMON kennt und meint, meinem Text durch entsprechende Hinweise etwas hinzufügen zu können, ist dazu herzlich eingeladen.

Ritt legt seinen Film von Beginn an als moralisches Lehrstück an. Dem Chor des griechischen Dramas oder auch den Narrenfiguren Shakespeares nicht unähnlich bildet das Treffen dreier Personen den Rahmen für die folgende, in erzählten Rückblenden offenbarte Handlung. An einem nächtlichen, von Regengüssen umpeitschten Bahnsteig in einer trostlosen Wüstenei reden ein aufgrund des Gesehenen in die Krise geratener Prediger (William Shatner) und der Finder der Leiche (Howard Da Silva) über den Mordprozess, dem sie eben beiwohnen durften, und finden einen neugierigen Zuhörer und Kommentatoren in dem Unterschlupf suchenden Betrüger (Edward G. Robinson). Das unheilvolle Wetterleuchten, dass die außerweltliche Kulisse in ein bedeutungsschwangeres Zwielicht taucht, markiert die folgende Geschichte bereits als gleichnishaft: Es mag um den Mexikaner Carrasco gehen und die Frage, ob er das Verbrechen, dessen er bezichtigt wird, tatsächlich begangen hat, in Wahrheit aber geht es hier um die Menschheit als Ganzes. Und daher ist die Frage danach, wer hier wen aus welchem Grund ermordet hat, am Ende des Films gar nicht mehr die entscheidende: Wichtiger ist die Erkenntnis, dass jeder Mensch genau die Geschichte bekommt, der er glauben möchte.

Das Thema der Perspektivität ist logischerweise im Ironiejahrzehnt der Neunzigerjahre erfolgreich in den Mainstream eingedrungen – und zwar mit einer der Ausrichtung von THE OUTRAGE komplett entgegengesetzten Intention. Wo Ritt dazu auffordert, erstens genauer hinzusehen und zweitens zu begreifen, dass man auch als vermeintlich passiver Betrachter einer Verantwortung unterliegt, scheinen besagte Vertreter von dieser Verantwortung gerade zu entheben: Wenn es die eine Wahrheit eh nicht gibt, ist alles erlaubt. Erstaunlicherweise ist THE OUTRAGE dennoch kein rigider, moralisch strenger Film. Im Gegenteil blickt er im Verlauf seiner Spielzeit mit einem zunehmenden Lächeln auf das Versagen des Menschen, auf seine geradezu Mitleid erregenden Versuche, sich selbst in ein möglichst positives Licht zu rücken. Vor allem die Männer kommen schlecht weg in Ritts Film, was man dann am ehesten als konkrete Sozialkritik aus THE OUTRAGE filtern könnte: Carrasco ist ein brutaler, ungebildeter Gernegroß, sein Opfer ein impotenter Pseudokriegsheld und die Frau, über die der tödliche Streit entbrennt, nutzt diese günstige Konstellation, um sich aus den Fesseln männlicher Dominanz zu befreien – worauf diese wiederum allzu gern hereinfallen.

Aber nicht nur die Geschichte schlägt zwangsläufig immer einen neuen Haken, auch in der Betrachtung verändert sich THE OUTRAGE stetig: Nach furiosem Auftakt – die Fotografie von Howe ist schlichtweg sensationell – wird der Film zusehends mechanischer, bevor er mich zu einem Zeitpunkt, in dem ich mich ihm schon mehr als einen Schritt voraus wähnte, auf völlig falschem Fuß erwischte. Die Besetzung Newmans als mexikanischer Bandit, ist schwer zu schlucken, liegt aber genau auf der taktischen Linie dieses Films, der mich mit seinem abrupten Ende dann schließlich total aus dem Tritt gebracht hat. Es gäbe noch viel mehr zu sagen, bis ich RASHOMON gesehen habe, muss es dabei aber erst einmal bleiben. Nur so viel: Der Begriff des Meisterwerks verbietet sich bei einem Quasi-Remake ja eh, zu diesem Zeitpunkt war Ritt aber absolut reif für ein solches. Next Stop: THE SPY WHO CAME IN FROM THE COLD. WIr sehen uns.

the keeper (keoni waxman, usa 2009)

Veröffentlicht: März 25, 2011 in Film
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Nachdem der Polizist Roland Sallinger (Steven Seagal) den Mordversuch seines korrupten Partners schwer verletzt überlebt und die Reha gut überstanden hat, flattert von seinem Arbeitgeber unerwartet die Pensionierung isn Haus. Doch Sallinger fühlt sich noch zu fit fürs Altenteil und deshalb nimmt er das Angebot seines alten Freundes Conner (Steph DuVall) dankend an, den Bodyguard für dessen Tochter Nikita (Liezl Carstens) zu geben, die soeben mit viel Glück einem Kidnapping-Versuch entkommen konnte …

Auch wenn THE KEEPER nach den von mir jetzt schon oft genug gelobten URBAN JUSTICE, PISTOL WHIPPED und DRIVEN TO KILL ein Stück abfällt, setzt er die in diesen Filmen deutlich erkennbare Linie dennoch erfolgreich fort. Wie man vielleicht schon der schmucklosen Inhaltsangabe entnehmen kann, ist THE KEEPER von augenfälliger Geradlinigkeit und Schnörkellosigkeit und viel mehr als an einer raffinierten Geschichte daran interessiert, seinem Hauptdarsteller ausreichend Gelegenheit zu bieten, Nasenbeine zu zertrümmern, Arme zu brechen und Brustkörbe zu durchlöchern. Die Actionszenen – mit den heute marktüblichen Postproduction-Spielereien aufgemotzt – sind allesamt sehenswert und von jener brachialen Härte, für die man einst Filme wie OUT FOR JUSTICE oder MARKED FOR DEATH so verehrte, allerdings ohne deren ins Comichafte neigenden Hang zum Splatter. Zugegeben, wenn Roland einen Schurken am Ende durch einen gezielten Fünffingerstoß die Halsschlagader öffnet, dann mag das nicht gerade als authentische Darstellung von Hand-to-Hand-Combat durchgehen, aber Waxman vermeidet es, diesen eh schon reichlich jenseitigen Einfall noch mit übermäßigem Kunstbluteinsatz zu betonen. Leider lässt THE KEEPER die Trockenheit, die in der Inszenierung der Gewalt- und Actionszenen zum Ausdruck kommt, auf erzählerischer Ebene etwas vermissen bzw. will sich nie zu 100 % zu dieser verpflichten: Waxmans Film macht teilweise einen etwas unentschlossenen Eindruck, weiß die Laufzeit von 89 Minuten nicht zu füllen, ohne dann doch auf abgegriffene Klischees zurückzugreifen, die im Kontext des Films einfach nicht überzeugend sind, oder sie mit erzählerischem Ballast anzufüllen. Die sich langsam entwickelnde Freundschaft zwischen dem Bodyguard und seinem Schützling, die in einem Film wie Tony Scotts MAN UNDER FIRE durchaus ihre dramaturgische Berechtigung hat, ist hier komplett überflüssig und sorgt lediglich für einige unangenehme Szenen Seagal’scher Altvorderen-Erotik. Und die Exposition des Films um den Verrat von Rolands Partner, seine Verwundung und die nur wenig später folgende Gelegenheit zur Rache sowie seine selbstverordnete Reha ist dafür, dass es letztlich nur darum geht, Roland als frühpensionierten Cop einzuführen, arg ausführlich geraten. Zumal solche erzählerische Schlenker später komplett abwesend sind: Den Plottwist, den man die ganze Zeit erwartet, ja, den Roland sogar selbst ankündigt, wenn er vermutet, sein Freund verschweige ihm etwas Wichtiges, stellt sich nie ein. Und was sich hinter dem Entführungsplan der Schurken verbirgt ist so unspektakulär, dass es fast wie ein Konventionsbruch anmutet. Hätte man sich dazu entschlossen, THE KEEPER nach der Maßgabe „kurz, aber heftig“ als fettfreien 80-Minüter zu fertigen, nicht auszudenken, welche Kollateralschäden er beim Zuschauer verursacht hätte. So ist er leider nur ein ziemlich guter Actionfilm geworden, der knapp unter dem Niveau der oben genannten Masterpieces bleibt. Dass auf der DVD der Trailer von Lundgrens COMMAND PERFORMANCE enthalten ist, kann man da schon fast als Wink mit dem Zaunpfahl begreifen: Der nimmt im Schaffen des Schweden nämlich haargenau dieselbe Rolle ein.

hud (martin ritt, usa 1963)

Veröffentlicht: März 24, 2011 in Film
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Irgendwo in Texas: Hud Bannon (Paul Newman) ist ein Zyniker vor dem Herrn, der säuft, sich prügelt, rumhurt und seine Mitmenschen ausnahmslos mit kaltschnäuziger Herablassung behandelt. Sein Vater, der Rinderfarmer Homer (Melvyn Douglas), hat seinen missratenen Sohn schon lange abgeschrieben, spätestens seit dieser bei einer nächtlichen Alkoholfahrt einen Unfall verursachte, bei dem sein älterer Bruder ums Leben kam. Nun gilt seine Hoffnung dem Enkelsohn Lonnie (Brandon de Wilde), der an dem ungezügelten Onkel jedoch mehr und mehr Gefallen findet. Als Homers Rinderherde wie aus dem Nichts von einer gefährlichen Seuche befallen wird und er vor den Trümmern seiner Existenz steht, kommt es zur Konfrontation zwischen ihm und seinem Sohn … 

Martin Ritts erster wirklich großer Film baut auf einem Familienunglück auf, dem schon sein Debüt EDGE OF THE CITY einen handfesten Vater-Sohn-Konflikt zu verdanken hatte, den er nun aber vor der endlosen kargen Weite der texanischen Wüste ausbreitet, die der Zuschauer sofort mit dem Western assoziiert. Kamen Ritts vorangegangene Filme noch etwas pädagogisch daher, weil es ihm noch nicht recht gelungen war, seine gesellschaftskritischen Beobachtungen in die Handlung zu integrieren, er seine Protagonisten stattdessen in Dialogszenen zu aus dem homogenen Gesamtbild herausfallenden Reden anheben ließ, so löst in HUD allein die fantastische (und Oscar-prämierte) Kamerarbeit von James Wong Howe all die Assoziationen aus, die Worte nahezu überflüssig machen.

HUD ist ein Spät-Spätwestern, ein Zivilisationswestern, dessen einsamer Cowboy Homer die Welt um ihn herum, deren unnachgiebigster Vertreter sein eigener Sohn ist, nicht mehr versteht. Die Maul- und Klauenseuche, die seine Herde – darunter auch zwei der selten gewordenen Longhorns – befällt und ihre Tötung unumgänglich macht, ist ja nur ein ganz besonders teuflischer Bote des Niedergangs, der sich sowieso überall abzeichnet und dem sich auch ein alter Haudegen wie Homer nicht mehr länger entziehen kann. Billig aus Mexiko eingekaufte Rinder sind Schuld daran, dass er sein Hab und Gut verliert; ein Hab und Gut, auf dass auch Hud berechtigte Hoffnungen hatte und deshalb – ganz im Kapitalismus angekommen – versucht, seine Besitztümer zu wahren. Erst, indem er den Vater versucht, davon zu überzeugen, die kranken Rinder an nichtsahnende Bauern zu verscherbeln, die Verbreitung der Seuche billigend in Kauf nehmend, dann, als der Bankrott unabwendbar ist, indem er droht. den Vater für unmündig erklären zu lassen und dessen Land an eine Ölfirma zu verkaufen. Hud weiß, dass das unmoralisch ist: Aber er hat sich damit abgefunden, dass es einen Paradigmenwechsel gegeben hat. Richtig ist nicht mehr, was gut ist, sondern was Gewinn einbringt. Keine Zeit für falsche Sentimentalitäten.

Hud ist ein gebrochener Mann; nicht, weil ihn die Schuld am Tod seines Bruders zermürbt hätte, sondern weil seine Verdrängungs- und Rationalisierungsprozesse im Gegenteil viel zu gut funktioniert haben. Er ist ein Mann ohne Ideale, für die er sich einsetzen würde, ohne Träume, auf deren Erfüllung er hinarbeiten könnte. Er nimmt sich, was er will, und was er nicht bekommen kann, interessiert ihn nicht mehr. Die Auswirkungen seiner Taten sind ihm egal, weil er weiß: „Nobody gets out of life alive.“ Aber diese brutale Nüchternheit, so zweckmäßig sei sein mag, sie isoliert ihn: „You live just for yourself. And that makes you not fit to live with.“, wie es Homer sagt. Und dann wird auch klar, dass dieses Land, das sich von Horizont bis Horizont in unerbittlicher Kargheit erstreckt und die Menschen einst dazu inspirierte, eine Zivilisation aufzubauen, in den Bildern von James Wong Howe eine andere Qualität erhält: Es ist die Seelenlandschaft eines Mannes, der alle vertrieben hat, dem die Sensibilität für Zwischentöne abhanden gekommen ist, der nur die Erde unter seinen Füßen und den Himmel über seinem Kopf als gegeben annimmt.

Das Ende ist niederschmetternd: Nachdem Homer gestorben ist und Lonnie seinem Onkel enttäuscht und angewidert den Rücken zugekehrt hat, betritt Hud das Haus, das nun ihm allein gehört. Er nimmt sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank, trinkt einen Schluck, tritt an das Fenster und blickt seinem Neffen nach. Man meint für einen Augenblick, nun müsse die Selbsterkenntnis Einzug halten und wenn schon nicht zu einem Umdenken, so doch wenigstens zu einem sichtbaren Ausdruck des Bedauerns führen. Doch dann lacht Hud in sich hinein und wischt diesen Gedanken mit einer wegwerfenden Geste weg, als sei er von einem hoffnungslosen Träumer erdacht worden und nicht eine Sekunde seiner kostbaren Zeit wert. Hud wird seinen Weg machen. Aber wir müssen ihm dabei zum Glück nicht mehr zusehen.

Der Posaunist Ram Bowen (Paul Newman) ist ein in der Jazz-Szene anerkannter Musiker. Gemeinsam mit dem Saxophonspieler Eddie Cook (Sidney Poitier) begeistert er Abend für Abend das Publikum in einem kleinen Pariser Nachtclub und arbeitet nebenbei an einer großen Komposition. Als Ram und Eddie die beiden amerikanischen Touristinnen Lilian (Joanne Woodward) und Connie (Diahann Carroll) kennen lernen, entwickeln sich zwei Liebesbeziehungen, die die Musiker ihre bisherigen Lebensentwürfe hinterfragen lassen …

Während der Title-Sequenz wohnt der Zuschauer der rauschhaften Begeisterung bei, die Ram, Eddie und ihre Band mit ihrer Musik in dem kleinen Kellerclub auslösen: Die Menschen tanzen, klatschen, schnippen mit den Fingern, scatten und singen oder sind einfach nur tief versunken in den Harmonien und dem Rhythmus. Ein harter, unvermittelter Schnitt erlaubt danach den Blick auf die nun von keinem Laut gestörte Morgendämmerung über Paris, die Kamera gleitet nach rechts, schwenkt das unglaubliche Panorama der Metropole ab, bevor sich ein Gebäude dazwischen schiebt und die Kamera langsam in die sich hinter diesem öffnende Straßenschlucht hinuntersinkt. Sie fängt eine Frau ein, die die Tür zu besagtem Nachtclub öffnet, in dem Ram und Eddie nun zwar keine Menschen mehr unterhalten, aber immer noch ganz im Dienste der Musik an einer Komposition feilen. In nur wenigen Sekunden hat Ritt deutlich gemacht: Diese beiden Männer leben Musik. In den folgenden 90 Minuten wird es in PARIS BLUES darum gehen, die Konsequenzen dieser Tatsache auszuloten. Zwei Frauen treten in das Leben der Männer, ohne Vorankündigung platzen sie in ihre Pläne und stellen deren Unverrückbarkeit in Frage. Paris, das wird klar, ist nicht nur der geografische Ort, an dem diese Geschichte angesiedelt ist, Heimat der lebensfroher Beatniks und Poeten, es ist auch die Utopie, die Ram und Eddie davor bewahrt, sich mit dem Leben jenseits ihrer Profession beschäftigen zu müssen, an dessen Existenz die beiden Frauen sie nun wieder erinnern.

Ritts Liebes- und Künstlerfilm folgt natürlich der für letzteren gemeinhin etablierten dramaturgischen Blaupause: Die Profession macht den Künstler zum Außenseiter, der letztlich unfähig ist, ein „normales“ Leben zu führen, weil neben seiner Kunst alles andere zur Nebensache verkommt – auch die Liebe. Ram, dessen wie zum Selbstschutz errichtete arrogante, ja unhöfliche Fassade von Lilian zum Bröckeln gebracht wird, sieht sich durch die Zuwendung der Frau in seiner Existenz zwar bedroht, lässt sich aber auf das Abenteuer ein, bevor er schließlich die für ihn unvermeidbare Entscheidung trifft. Doch wie man es von Ritt erwarten darf, tischt er dem Zuschauer kein Märchen vom Genius auf, der seine Befähigung teuer bezahlen muss und als tragischer Held der verlorenen Liebe nachweint, vielmehr erdet er seine beiden männlichen Protagonisten in einer eher unromantischen sozialen Realität: Eddies Liebe zu Paris ist keine unbedingte, sondern nicht zuletzt Folge der rassistischen Verunglimpfungen, die er in den USA zu ertragen hatte, und Rams nonkonformistisches Künstlerdasein ist nicht unabdingbare Voraussetzung für seine Produktivität, sondern in nicht unerheblichem Maße einer Bequemlichkeit geschuldet, die ihn auch in der Sphäre der Musik irgendwann am Fortkommen hindern wird und mit der er sich auseinandersetzen muss, wenn er seine Träume einst verwirklicht sehen möchte.

PARIS BLUES begeistert natürlich in erster Linie durch die Verbindung von Duke Ellingtons wunderbarem Jazz-Score und der traumhaften Schwarzweiß-Fotografie, die die Atmosphäre der französischen Hauptstadt perfekt einfängt und ungemein inspirierend wirkt, sodass man am liebsten in den Film hineinsteigen möchte, um dort mit Ram und Eddie zu feiern und die Nächte durchzumachen. Ein Auftritt des großen Louis Armstrong bringt Authentizität mit, die es aber eigentlich kaum bräuchte, weil es Newman als Ram Bowen dank seiner angeborenen Lässigkeit mühelos gelingt,  ein eher nicht mit diesem Begriff assoziiertes Instrument wie die Posaune noch unverschämt cool aussehen zu lassen, und Poitier in der Rolle des  sachlich-detailversessenen Cook den Schauspieler hinter der Rolle ebenfalls vergessen lässt. Die Integration solcher Themen wie Rassismus und Drogensucht gelingt hingegen deutlich weniger leichtfüßig, was aber wahrscheinlich einfach der Zeit zuzuschreiben ist. Dass Ritts Film in den betreffenden Passagen etwas didaktisch und pädagogisch anmutet, ließ sich wohl kaum vermeiden, sprach er doch Probleme an, deren Thematisierung im Hollywoodkino noch längst keine Selbstverständlichkeit war.