Archiv für Januar, 2012

Die Amerikanerin Nora Davis (Letícia Román) reist als Touristin nach Rom, doch sie wird vom Pech verfolgt: Erst entpuppt sich der freundliche Sitznachbar im Flugzeug als Haschischschmuggler, dann verstirbt die freundliche alte Dame, bei der Nora eingemietet hat, kaum dass die ihr Zimmer bezogen hat. Als sie panisch die Wohnung verlässt, wird sie erst von einem Taschendieb überfallen und dann schließlich Zeuge eines Mordes an einer jungen Frau. Dummerweise will ihr niemand glauben, halten alle den „Mord“ für die Einbildung einer vorübergehend Unzurechnungfähigen. Doch dann findet Nora Hinweise darauf, dass der Mord auf das Konto des einst umtriebigen „Alphabet-Killers“ geht, der seine Opfer nach den Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen auswählte: Und weil die Buchstaben A, B und C schon abgearbeitet sind, muss nun folglich Nora Davis um ihr Leben fürchten. Nur der freundliche Arzt Dr. Marcello Bassi (John Saxon) steht ihr zur Seite …

Die Gelehrten mögen sich darüber streiten, ob es sinnvoll ist, LA RAGAZZA CHE SAPEVA TROPPO als frühen Giallo zu bezeichnen, als frühen Vertreter eines Subgenres, das mit Bavas ein Jahr später entstandenem SEI DONNE PER L’ASSASSINO seine verbriefte Geburtsstunde feierte: Ich finde, es gibt durchaus gute Gründe, ihn als nicht ganz unwichtige Vorstudie Bavas zu jenem Meisterwerk zu betrachten, und die Tatsache, dass die Schundromane, die dem Giallo den Namen gaben, in LA RAGAZZA explizit Erwähnung finden, ist wohl der beste dieser guten Gründe. Gleich zu Beginn liest Nora in einem pulpigen Kriminalroman und im weiteren Verlauf des Films wird ihr das in diesen Büchern vermittelte Wissen immer wieder zugutekommen. Tim Lucas behauptet in seiner ultimativen Bava-Huldigung „All the Colors of the Dark“ zu Recht, dass man die sich an diese Eröffnung anschließende Geschichte auch als Visualisierung von Noras Lektüre interpretieren könnte, kommt aber schließlich zu dem Schluss, dass der Film diese Lesart – wie einige weitere auch – verwirft. Seine Kritik – LA RAGAZZA sei uneinheitlich (wohl auch, weil insgesamt sechs Autoren sich im Drehbuch mit ihen Ideen verewigen durften), versäume es, interessante Ansätze zu vertiefen, und setze stattdessen auf eine allzu glatte und „logische“ Auflösung – ist zwar durchaus nachvollziehbar, aber sie scheint mir gerade nicht geeignet dazu, LA RAGAZZA seinen Status als Proto-Giallo streitig zu machen: Nach meiner Erfahrung ist es nicht das abstruse Ende an sich, das den Giallo auszeichnet, sondern vor allem die Kluft zwischen dem Aufbau und der Auflösung oder, mehr noch, eine allgemeine Disparität des Ganzen; und diese Voraussetzung erfüllt LA RAGAZZA gerade weil er seine besten Ideen zugunsten schlechterer verwirft. Was ihn meines Erachtens am meisten von späteren „augereiften“ Giallos unterscheidet, ist sein Ton: LA RAGAZZA überschreitet die Grenze zur Kriminalkomödie mehr als nur einmal, ist insgesamt deutlich wärmer und herzlicher, ja: putziger, als die späteren Giallos, deren Betonung der Form ja auch immer etwas ausgesprochen Kaltes hat.

Aber egal ob nun Giallo oder nicht, LA RAGAZZA hat zahlreiche Reize zu bieten. Vor allem natürlich die von Bava zu erwartende stil- und stimmungsvolle Fotografie und Kamerarbeit, die den Film als späten Nachfahren des Gothic Horrors erkennen lässt. Immer wieder schieben sich bedrohliche Schatten ins Bild, schälen sich bleiche Gesichter mit weit aufgerissenen Augen aus dem Schwarz, und die Szene, in der Nora nachts ins Zimmer der Vermieterin eilt, um ihr ihre Medizin zu verabreichen, nur um schließlich ihrem Tod beizuwohnen, treibt einen als Zuschauer fast gemeinsam mit der panischen Protagonistin auf die Straße, so effektiv ist sie komponiert. Eigentlich könnte ich an dieser Stelle jede der großen Suspense-Szenen des Films beschreiben, weil sie alle toll sind: der Mord im Anschluss an Noras geschilderte Flucht, eine Szene, in der sie ihre Wohnung wie ein Spinnennetz mit Fäden durchzieht, um den Mörder gegebenenfalls zum Stolpern zu bringen, ihre Verabredung mit einem anonymen Anrufer. Die im Schwarzweiß bedingte Düsternis des Films wird immer wieder durch komische Momente aufgebrochen und dieses Nebeneinander von Bedrohung und Leichtigkeit stützt letztlich auch den Paranoia-Aspekt von Bavas Film: Ist alles nicht doch bloß die Einbildung einer jungen Frau, die zum ersten Mal in der alten Welt weilt und vor lauter Eindrücken – der überwältigenden Kulisse Roms und dem Tod ihrer Vermieterin – den Überblick verliert? Bava ist nicht der erste Regisseur, der diese Deutung suggeriert, mit seiner Auflösung aber eine ganz andere – enttäuschend eindeutige – Antwort gibt. Dem Gelingen des Films tut das – hier widerspreche ich Tim Lucas – keinen Abbruch, auch wenn LA RAGAZZA nicht ganz an Bavas Großtaten heranreicht.

Minou (Dagmar Lassander), die junge, etwas unterforderte und deshalb Alkohol und Tabletten nicht ganz abgeneigte Ehefrau des Unternehmers Peter (Pier Paolo Capponi), wird in Abwesenheit ihres Gatten von einem Unbekannten (Simon Andreu) überfallen. Der Mann macht ihr nicht nur eindeutige Avancen, er behauptet auch, bei Peter handle es sich um einen Mörder. Wenig später erhält die verunsicherte Minou den Beweis für diese Behauptung in Form einer Tonbandaufnahme. Der Versuch, das inkriminierende Beweisstück in ihren Besitz zu bringen, führt sie aber nur auf die Matratze des Erpressers, der so gerissen ist, das gemeinsame Liebesspiel fotografisch festzuhalten. Minou gerät immer stärker unter Druck …

Die erste Regiearbeit von Ercoli bildet den Auftakt zu seinem fabelhaften Giallo-Dreigestirn, dessen anderen beiden Teile LA MORTE CAMMINA CON I TACCHI ALTI und LA MORTE ACARREZZA A MEZZANOTTE ich hier schon frenetisch bejubelt habe. Wie in diesen zeichnet sich auch LE FOTO PROIBITE durch eine tolle visuelle Gestaltung und einen sehr ruhigen Aufbau aus, bei dem die Spannungskurve nur langsam, aber stetig ansteigt, und der weniger den äußeren Plot akzentuiert als vielmehr die psycholgisch Verwirrung seiner Protagonistin. Schon der Anfang ist bemerkenswert, weil er seine Hauptfigur ganz nebenbei während der Auftaktcredits, aber eben ganz entscheidend charakterisiert, sodass man dies beinahe übersieht, weil man noch gar nicht richtig im Film angekommen ist: Zu Ennio Morricones betörend schöner Musik (die seinerzeit auf der „Mondo Morricone“-CD enthalten war) macht sich Minou für den Abend fertig. Erst erklärt sie, dass sie ab heute auf Zigaretten, Alkohol und Beruhigungsmittel verzichten wolle, um ihrem Mann einen Gefallen zu tun, sinniert über ihre Pläne, allein auszugehen, ergeht sich anschließend in Fantasien darüber, wie sie ihren Mann mit der Nachricht einer erfundenen neuen Liebschaft und dem Scheidungswunsch auf die Palme bringen könne, nur um ihn danach umso zärtlicher zu empfangen, bevor sie sich an den Rat ihrer Freundin Dominique (Susan Scott) erinnert, sich nicht so hausfräulich zu kleiden, und die oberste Schleife ihres Minikleidchens lüpft. Wenig später folgt schon der Überfall des Unbekannten, der das Fräuleinwunder auf den Boden der Tatsachen zurückholt: Was Ercoli hier in den ersten fünf Minuten seines Films mit seiner Protagonistin anstellt, sucht seinesgleichen.

Und er knüpft in den folgenden 90 Minuten nahtlos an die erlittene Verunsicherung an. LE FOTO PROIBITE ist eher Hitchcock als Bava verpflichtet und anstatt einen schwarz gewandeten Messermörder loszulassen, auf dass er sich durch die Besetzungsliste schlitze und mittels gezielter Schocks auch den Zuschauer in Mitleidenschaft ziehe, bleibt er aufreizend defensiv. Man wartet darauf, dass sich die latente Bedrohung endlich in einem handfesten Angriff manifestieren möge, doch der kommt einfach nicht. Wird ein Schritt in diese Richtung gemacht, drosselt Ercoli das Tempo danach umso mehr, mit dem Ergebnis, dass LE FOTO PROIBITE für den Zuschauer genauso enervierend ist wie für Minou, die bald nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht, und deren gute Vorsätze vom Anfang schnell vergessen sind. Ähnlich wie bei Sergio Martinos brillanten „Laster“-Giallos – LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH und IL TUO VIZIO È UNA STANZA CHIUSA E SOLO IO NE HO LA CHIAVE – wird auch dieser Film weniger von sichtbaren Handlungen, von körperlichen Angriffen, Morden, Messern, Wunden, Blut und abgetrennten Gliedmaßen, bestimmt, sondern von den dahinter verborgenen Gedanken und Gefühlen. Auch die Fotos im Titel verweisen auf dieses „Indirekte“: Es geht nicht so sehr um den Ehebruch, als vielmehr um das Bild des Ehebruchs. Nicht um die Tat als solche, sondern darum, was sie gesellschaftlich bedeutet. Der ganze Film spiegelt in seinem Entwurf den bösen Plan, der auch hinter den Taten des Unbekannten steht.

Ich hatte geahnt, dass es Ercoli nicht ganz zur Zufriedenheit gelingen würde, zum Finale hin den Schritt vom Vagen, Diffusen, Psychischen hin zum Direkten, Klaren, Körperlichen zu machen. Dass der Schlusstwist  vorhersehbar ist, ist verzeihlich, nicht aber, wie seltsam plump er in Szene gesetzt wurde. Die schlangenhaft-windige Elastizität der vorangegangenen 90 Minuten ist wie weggeblasen. Und als wäre das nicht genug, schiebt Ercoli wie einst Hitchcock in PSYCHO auch noch einen erklärenden und ultimativ redundanten Monolog hinterher, der noch einmal expliziert, was eigentlich keiner Explizierung mehr bedarf. Das ist so steif, dass man es eigentlich kaum anders als als Kommentar auf die Banalität des Lebens betrachten kann. Die Schlussszene, ein Happy End mit bunten Kleidern und lachenden Gesichtern, ist geradezu grotesk – aber auch deshalb wieder sehr effektiv. Weil der Bruch, der sich darin manifestiert, so hart ist, kann man dem Friede-Freude-Eierkuchen-Szenario nicht trauen. Und da ist es dann wieder, das ungute Gefühl, dass einem etwas durch die Lappen gegangenen ist, das zwischen den Zeilen steckt. Ein großer Film. Bitte mehr Ercoli auf DVD!

(Ich sehe gerade, dass der Film seinerzeit in Deutschland als FRAUEN BIS ZUM WAHNSINN GEQUÄLT vermarktet wurde. Herr im Himmel!)

Kitty (in der deutschen Version „Katja“: Susan Scott) beobachtet mit dem Münzfernrohr den Mord an einer Frau. Es stellt sich heraus, dass es bereits der zweite Messermord an einer Balletttänzerin innerhalb kürzster Zeit war. Kittys Ehemann, der Künstler Alberto (Robert Hoffmann) gerät in Verdacht, weil er aufgrund einer Verletzung hinkt und der Mörder Spuren mit einem Gehstock am Tatort hinterlassen hat. Gemeinsam mit dem ermittelnden Inspektor Merughi (George Martin), der Journalistin Lidia (Anuska Borova) und seiner Frau versucht Alberto den Mörder zu finden, um so seine Unschuld zu beweisen. Doch alle, die helfen können, fallen dem Mörder zum Opfer …

Der titelgebende „Tanz auf der Rasierklinge“ (deutscher Titel: DIE NACHT DER ROLLENDEN KÖPFE) ist auch ein missglückter Tanz auf dem schmalen Grat zwischen exploitativer, aber stilvoller Giallo-Uunterhaltung und feistem Schund. Maurizio Pradeaux rutscht zwar nicht ganz so tief in den Sumpf wie sein Kollege Ferdinando Merighi mit dem tolldreisten CASA D’APPUNTAMENTO, aber mit seiner arthritischen Handkameraführung, den schmucklosen Settings, der preisgünstigen Ausleuchtung, dem stulligen Script und den inflationär eingesetzten, aber völlig sinnlosen Sex- und Nacktszenen kommt er dem schon ziemlich nahe. Es sind vor allem die wie immer bildschöne Susan Scott und der schnurrbärtige Robert Hoffmann, die dem Film einen funzeligen Anschein von Klasse verleihen, wo eigentlich nur stumpfer Pulp regiert. Das muss nicht schlecht sein und PASSI DI DANZA ist dann auch durchaus unterhaltsamer Quatsch, der immer wieder durch die Zurschaustellung weiblicher Brüste aufgelockert wird und dessen fiese Kehlenschnitte (die dem Film seinerzeit die Indizierung in Deutschland bescherten) zudem ziemlich unangenehm anzuschauen sind. Als spannungsgeladener Krimi versagt der Film aber völlig, weil er nur die nötigen Plotpunkte abhakt, ohne diese aber durch einen roten Faden – dieses Dingsbums namens „Dramaturgie“ – zu verbinden: Wer sich da wiewaswarum durch Roms weibliche Balletttänzerinnenschar schlitzt, bleibt bis zur Auflösung ein unergründliches Rätsel und auch die finale Enthüllung scheint eher der Notwendigkeit geschuldet, als dass sie sich sinnvoll aus den vorangegangenen 80 Minuten ergäbe. Die deutsche Synchro, die viel, viel Quark von sich gibt und „Lidia“ beständig als „Lühdia“ bezeichnet, trägt zum Reiz des Films auch einen nicht unerheblichen Teil bei. Ich war trotzdem irgendwie erleichtert, als er zu Ende war.

suspiria (dario argento, italien 1977)

Veröffentlicht: Januar 28, 2012 in Film

Es gibt eigentlich nur zwei mögliche Reaktionen auf SUSPIRIA: Entweder man erkennt ihn als absolut einzigartigen Ausdruck eines großen Stilwillens und Kunstverstandes oder aber man wirft ihm vor, er habe keine Handlung, sei unlogisch oder dumm. Letzteres verbietet sich eigentlich, es sei denn man hat ein sehr altmodisches und eindimensionales Verständnis davon, was Film ist, sein sollte und darf. SUSPIRIA ist ein Paradebeispiel für einen Film, der in einer ganz eigenen Welt spielt, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und nur ganz oberflächlich mit unserer übereinstimmt. Wenn eine Stimme aus dem Off zu Beginn nüchtern berichtet, dass die Balletttänzerin Susie Banyon (Jessica Harper) mit dem Flieger von New York nach München reist, um dort – genauer gesagt in Freiburg – an einer Ballettschule zu studieren, dann wird mit dieser Nüchternheit und der sie begleitenden Faktentreue, mit der geografische Namen und Uhrzeiten wiedergegeben werden, eine Verwandtschaft mit der uns bekannten Welt nur vorgetäuscht. Die expressive Farbgebung und Lichtsetzung, die aus Volksmärchen bekannten archetypischen Figuren und Situationen, die (Alb-)Traumästhetik, die Argento entwirft, sie mögen zwar zu tiefenpsychologischen Ausdeutungen inspirieren, doch letztlich genügt SUSPIRIA sich selbst. Und das ist zumindest für mich mittlerweile, nach etlichen Sichtungen, ein echtes Problem.

SUSPIRIA wird meist als Argentos Meisterwerk, als Kulmination seines Schaffens bezeichnet, als der Film, in dem Argento jeden Ballast abgeworfen und zu seiner reinsten Form gefunden habe. Ich bin mir da nicht so sicher. So sehr man ihn auch als Film des Italieners erkennt, so sehr sich einzelne seiner Elemente, seien es nun inhaltliche und motivische oder aber formale Aspekte, die sich wie ein roter Faden durch sein Werk ziehen, auch in diesem wiederfinden (das ganze Drama beginnt etwa damit, das Susie die Worte einer Mitschülerin nicht versteht und sich krampfhaft an diese zu erinnern versucht), so sehr fällt SUSPIRIA in seiner krassen Künstlichkeit auch wieder aus diesem heraus. Die eine Szene, in der Argento kurz vor Schluss für ein paar Minuten in die „Realität“ und einen Dialog entführt, dessen expositorischer Charakter aus dem Kontext des Films völlig herausfällt, hätte in keinem seiner sonstigen Filme so deplatziert gewirkt wie hier. Noch nicht einmal der nachfolgende INFERNO, nach diesem ersten der zweite Teil der erst 2007 vollendeten Mütter-Trilogie, der SUSPIRIA noch recht nahesteht, wirkt nicht so durchgehend fremdartig und außerweltlich wie dieser.

SUSPIRIA ist sicherlich der Film des Italieners, der auf den Uneingeweihten am stärksten wirkt: Man kann sich seinen Reizen nur schwer verschließen, er überfällt einen ja förmlich. Meine Probleme mit Argento, die in den vergangenen Jahren immer mal wieder zu mehr oder weniger hitzigen Diskussionen geführt haben, verkörpert SUSPIRIA in Reinkultur. Keinen seiner Filme habe ich in den letzten 18 Jahren häufiger gesehen – aber auch keiner hat sich in dieser Zeit so stark abgenutzt wie dieser. Dabei gibt es an seiner formalen Meisterschaft beim besten Willen keinen Zweifel. Jedes seiner Bilder, jede seiner Szenen und Sequenzen ist für sich genommen großartig. Die Ankunft Susies am Flughafen, die anschließende Fahrt durch einen sehr unheimlichen Wald, die blutrote Fassade der Tanzschule im Regen, der erste Mord in einem Apartmenthaus, in dessen Treppenhaus ein kubistischer Innenarchitekt Amok gelaufen zu sein scheint, Susies Gang durch die Flure der Schule, wo sie der Haushälterin begegnet, die einen eigentümlichen Kristall poliert, die Übernachtung in einem provisorischen Schlafsaal, der Angriff eines unsichtbaren Flugungeheuers auf den blinden Pianisten, der Mord an Susies Freundin, schließlich das Finale: Diese Momente brennen sich unauslöschlich ins Gedächtnis ein, nicht nur, weil sie fantastisch inszeniert und fotografiert sind, sondern auch weil sie an über Jahrhunderte der Zivilisation verschüttete Ängste rühren. (Niemand hat etwa das zutiefst Beunruhigende der Volkstümelei jemals so trefflich ins Bild gesetzt wie Argento in der kreuzunheimlichen Brauhaus-Szene.)

Doch offenbart SUSPIRIA diese Qualitäten – von gestalterischen Feinheiten vielleicht abgesehen – eben auch schon bei der ersten Begegnung: Er ist so ziemlich das Gegenteil von einem subtilen Film. Das ist für sich genommen nicht schlimm, weil er auf die denkbar spektakulärste und stilvollste Art und Weise plump ist. Ich glaube, ich bin tatsächlich zu traditionell „veranlagt“, um heute noch so begeistert von SUSPIRIA zu sein wie ich es mal war: Der Film verändert sich nicht mehr, ich vermisse neue Einsichten und Erkenntnisse, wenn ich ihn sehe. Er erzählt mir nichts mehr. Und für eine „irrationale“, emotionale Reaktion kenne ich ihn einfach zu gut. Und wenn ich heute auch etwas empfänglicher bin für die psychologische Komponente des Films, so fügt dies dem Film nichts wirklich Wesentliches hinzu: Es ist einfach nur eine weitere Ebene seines abstrakten Verweissystems, so wie die Kunstgeschichte eine andere ist. Sehr schade, denn der Film ist schon sehr toll. Aber das ist eben keine wirklich gefühlte Erkenntnis mehr, sondern bloß eine rational gedachte. Ich kann SUSPIRIA eigentlich nur noch als Technokrat betrachten. Und so will ich Filme nicht schauen.

Für die Filmgazette habe ich Walerian Borowczyks erotischen Epsiodenfilm CONTES IMMORAUX rezensiert, der unter seinem deutschen Titel UNMORALISCHE GESCHICHTEN dieser Tage bei Bildstörung auf DVD erschienen ist. Eine unbedingte Pflichtanschaffung für aufgeschlossene Filmfreunde: Warum, kann man hier lesen.

Der Frauenknast auf der sinnig benannten Isla del Muerte wird mit eiserner Hand geführt: Die psychotisch-nervöse Wärterin Thelma Diaz (Mercedes McCambridge) bestraft das kleinste Vergehen mit Kerkerhaft, ihr Vorgesetzter, der Gouverneur Santos (Herbert Lom), gibt sich nicht allzu viel Mühe, sie in Zaum zu halten. Die neu angekommene Insassin (Maria Rohm), nach ihrer Häftlingsnummer nur Nr. 99 genannt, muss gleich am eigenen Leib erfahren, was auf sie zukommt: Als sie um Hilfe für eine unter Entzugsschmerzen leidende Zellengenossin ruft, handelt sie sich eine schöne Strafe ein. Die Häufung von mysteriösen Todesfällen ruft allerdings die Regierung auf den Plan, die die Beamtin Leonie Carroll (Maria Schell) zur Untersuchung der vorherrschenden Zustände schickt. Ihre Versuche, bessere Bedingungen für die Häftlinge zu schaffen, werden aber schließlich von der Flucht dreier Damen, darunter auch Nr. 99, unterwandert …

DER HEISSE TOD gilt als Startschuss für die neue Welle von Frauenknastfilmen, die vor allem in den Siebzigerjahren über die Bahnhofskinos schwappte und dem so entstandenen Subgenre sogar ein eigenes Kürzel bescherte: WiP – Women in Prison. Etwas zu Unrecht werden die WiP-Filme meist mit schlimmstem Schmuddelkram assoziiert, dabei sind die frühen Vertreter jener Welle, wie etwa dieser hier, CAGED HEAT, THE BIG DOLL HOUSE oder auch THE BIG BIRD CAGE, durchaus respektabel; exploitativ zwar, sicherlich, aber deutlich weniger niederträchtig, billig und schäbig als das, was da etwas später, etwa unter der Regie von Mattei und Konsorten, das Licht der Welt erblicken und den Frauenknastfilm als eine besonders ekelhafte Form von Gewaltpornografie abstempeln sollte. Auch DER HEISSE TOD ist, wie eigentlich alle in jener Zeit vom Briten Harry Alan Towers produzierten Filme des Spaniers, gediegen inszeniert, gut besetzt und geschmackvoll ausgestattet, deutlich näher dran am großen, bunten und gutgelaunten Abenteuerkino der Sechzigerjahre als an der dreckigen, wütenden und hässlichen Exploitation des Folgejahrzehnts. Natürlich sind alle Zutaten, die den Frauenknastfilm auch später noch definieren sollten, schon drin: schöne Frauen (neben den bereits genannten noch Luciana Paluzzi und die tolle Rosalba Neri, die hier die ganze Zeit ganz fasziniert von ihren eigenen bestrumpften Beinen ist), Lesbensex, eine sadistische Wärterin, ein nazihafter Politiker in Militäruniform und eine Portion Sadismus. Auch die Handlungsstruktur – auf den harten Knastalltag folgt irgendwann die Flucht, die meist jedoch scheitert – wurde in späteren Filmen nur noch milde variiert. In DER HEISSE TOD ist also alles noch eine ganze Spur zahmer und gesitteter – der Sex (sehr psychedelisch meist in disorientierenden Close-ups gefilmt, die mehr andeuten als zeigen), die Gewalt (eigentlich immer offscreen) – und mit dem Einsatz von Maria Schell als stets besorgt dreinblickender Pädagogin gelingt es Franco manchmal fast, einen davon zu überzeugen, hier eines ernsthaften Human-Interest-Dramas um unmenschliche Haftbedingungen ansichtig zu werden (zumindest scheint er Maria Schell davon überzeugt zu haben, in einem solchen mitzuspielen).

Wer mit Jess Franco bislang nichts anfangen konnte, wem seine Filme immer zu billig, zu krude, zu dusselig oder zu schlampig waren, der hat mit den in Kollaboration mit Towers entstandenen Filmen – z. B. THE BLOOD OF FU MANCHU, MARQUIS DE SADE: JUSTINE, IL TRONO DI FUOCO oder EUGENIE – vielleicht eine Chance, doch noch mit dem Werk des umtriebigen Spaniers warm zu werden. Ich bin da hin- und hergerissen: EUGENIE halte ich bislang für den stärksten Film Francos, DER HEISSE TOD jedoch ist mir eine Spur zu langweilig geraten. Da würde ich dann den weniger aufwändigen, dafür aber völlig wahnsinnigen SADOMANIA jederzeit vorziehen. Kommt wohl drauf an, was man will: Die Towers-Francos sind handwerklich besser, haben bessere Production Values und sind insgesamt etwas „gebügelter“ als die anderen Francos. Ich bin mittlerweile soweit, dass ich seine Filme gerade wegen ihrer Idiosynkrasien zu schätzen weiß.

Für Filme mit gefräßigen Haien habe ich ein Faible, seit mich Spielbergs JAWS mit acht Jahren zum Filmfan gemacht hat. Für Hard Sensations habe ich jetzt zwei neue Vertreter dieses Subsubsubgenres rezensiert, die dieser Tage auf DVD veröffentlich wurden: MEGA SHARK VS. CROCOSAURUS und SHARKTOPUS. Einmal unfasslicher Schrott, einmal größte anzunehmende Freude. Den Text gibt’s hier. Viel Vergnügen!

stanley (william grefé, usa 1972)

Veröffentlicht: Januar 23, 2012 in Film
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Nach der Rückkehr aus dem Vietnamkrieg zieht sich der Seminole-Indianer Tim Ochopee (Chris Robinson) von seinem Stamm und den Menschen zurück und widmet sich den Schlangen, mit denen er in seinem Haus in den Sümpfen zusammenlebt. Das Angebot des Modeherstellers Thomkins (Alex Rocco), der Gürtel und Schuhe aus Krokodil- und Schlangenleder anfertigt, für ihn zu arbeiten, lehnt Tim aus moralischen Gründen ab – und weil er weiß, dass Thomkins‘ Männer einst für den Unfalltod seines Vaters verantwortlich waren. Als es wenig später zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden Parteien kommt, in dessen Folge auch einige von Tims Schlangen getötet werden, brennt bei dem eh schon labilen Veteran eine Sicherung durch. Mit seiner Lieblingsklapperschlange Stanley geht er auf die Jagd …

Dieser Film dümpelt schon seit gut zwei Jahrzehnten in den Untiefen meiner Erinnerung rum, weil er nämlich im legendären Horrorfilm-Lexikon von Bastei-Lübbe sogar mit einem Foto vertreten war. Die DVD von Code Red hat es möglich gemacht, dieser Erinnerung nun mit etwas Handfestem zu begegnen. Und jetzt, wo ich den Film gesehen habe, kann ich ihn endlich vergessen. Man muss nicht viel sagen über STANLEY, einen Film des findigen Billigheimers William Grefé, der nur einer von zahlreichen umtriebigen Filmemachern der Sechziger- und Siebzigerjahre war. Einer jener Regisseure die die Autokinos mit eiligst runtergekurbelter Ware wie RACING FEVER, STING OF DEATH, THE DEVIL’S SISTERS, DEATH CURSE OF TARTU oder MAKO: THE JAWS OF DEATH versorgte, die die zahlungsbereiten Jugendlichen mit reißerisch aufgemachten Plakaten locken sollten. Auch diesem Beitrag zum Vietnamheimkehrer-mit-Dachschaden-dreht-durch-Subgenre merkt man seine Bestimmung in jeder Sekunde an: Die rudimentäre Handlung wird mit einer Engelsgeduld und unter großzügiger Streuung unwichtiger Dialogszenen abgespult, die dem Publikum ausgiebig Gelegnehiet geben, sich a) neues Popcorn und neue Getränke zu holen oder b) Zunge und Hände in feuchtere Gefilde ihrer Begleitung gleiten zu lassen. So kriecht STANLEY nach langen 105 Minuten deutlich weniger elegant als seine tierischen Helden über die Ziellinie, obwohl auch 80 Minuten locker ausgereicht hätten. Die wenigen wirklich gelungenen Szenen – etwa die Rache Tims an einer Nachtclubtänzerin, die auf Geheiß ihres geschäftstüchtigen Mannes einem von Tim gestifteten Tier den Kopf abbeißt, oder die lustigen Auftritte Alex Roccos, dessen Thomkins seinen schlabbrigen Körper mit lustig-ineffizienten Fitnessübungen „stählt“ – verpuffen wirkungslos, weil Grefé jedes gewonnene Momentum sofort wieder mit über Gebühr breitgetretenen Dialogszenen verspielt. STANLEY kommt einfach nie richtig in Fahrt, auf die Rache des Schlangenbeschwörers kann man über eine Stunde lang warten. Dass ich ihn trotzdem irgendwie mag, kann ich eigentlich kaum dem Film selbst anrechnen. Ich habe einfach eine Schwäche für diese bräsigen Schundepen jener Tage, von Filmemachern, die ihre zweieinhalb guten Einfälle mit jeder Menge Streckmittel und Spucke auf Spielfilmlänge brachten, und Prouzenten, die ein Posterartwork dazu entwerfen ließen, dass den Zuschauern das Blaue vom Himmel herunterlog, und danach dreckig lachend das Geld zählten; Filme, die ein bisschen soziale Relevanz vorgaukelten, um unter diesem Deckmantel tolldreisten Unfug für die niedersten Instinkte unters Volk bringen zu können. STANLEY kritisiert gemeinsam mit seinem Protagonisten ein bisschen den Vietnamkrieg, ein bisschen die Politik gegen die amerikanischen Ureinwohner, ein bisschen die Konsumgesellschaft, letztlich und tückischerweise aber vor allem das verweichlichte Hippietum mit seinen Ökofantasien. Anders kann man sich ja sonst kaum erklären, mit welcher Sorglosgkeit hier echte Schlangen onscreen gekillt werden oder dass der Protagonist seinen toten Tierchen sogar einen Miniaturfriedhof mit ebensolchen Kreuzen spendiert – by the way der wohl lustigste Einfall des Films. Im Grunde geht es aber vor allem darum, das Publikum mit kalkulierten Schlangenschocks zu bombardieren. Hätte er sich etwas mehr an sein Konzept – give ‚em snakes! – gehalten, wäre STANLEY wahrscheinlich besser geworden. So ist er immerhin ein hübsches Zeitzeugnis mit allem, was dazugehört: hässlichen Billigsettings, abgerissenen Darstellern, unmotivierten Szenen, verrauschtem Liveton und viel zu langen Dialogen.

 

Nachdem sie nach einem Nervenzusammenbruch aus dem Krankenhaus entlassen wird, bezieht Alice Jarrett (Lynne Adams) mit ihrem Mann Martin (Pierre Lenoir) ein neues Haus, an dem Handwerker noch letzte Sanierungsarbeiten vornehmen. Als Alice nachts von Geräuschen geweckt wird und deren Ursache nachgeht, trifft sie zu ihrer Überraschung auf einen Tischler (Wings Hauser), mit dem sie sogleich ins Gespräch kommt. Die Zuneigung des Mannes baut nicht nur ihr angekratztes Selbstwertgefühl wieder auf, er schafft ihr auch einen übergriffigen Bauarbeiter blutig vom Hals. Aus der Freundschaft entwickelt sich bald eine handfeste Romanze. Doch wer ist der Mann eigentlich?

Hoppla, was war denn das? THE CARPENTER, der bei uns auf Video ziemlich geschnitten war und jetzt endlich ungekürzt auf RC-1-DVD veröffentlicht wurde, ist weit mehr als bloß ein Film fürs Kuriositätenkabinett, zu dem ich ihn aufgrund seines Besetzungscoups – Wings Hauser mal nicht in einem Actionfilm –  „vorverurteilt“ hatte, sondern ein exzellent inszenierter, sehr feinfühliger und weitestgehend subtiler Psychothriller. Schon bei der Auftaktsequenz wurde mir klar, dass THE CARPENTER eigene Wege gehen würde: Man sieht eine Frau, blass, mit dunkel geschminkten Augen, die ins Leere starren. Schnitt auf die Frau in der Totalen, sie stützt sich verträumt auf einen Besen, schaut zur Verandatür hinaus. Erneuter Schnitt auf die Frau, jetzt liegt sie im Bett, mit offenen Augen und voll bekleidet, gedankenverloren. Schnitt. Sie steht auf, geht an den Kleiderschrank, greift sich einen dunkeln Anzug, legt ihn aufs Bett, setzt sich dazu. Schnitt. Sie nimmt eine Schere und beginnt den Anzug hoch konzentriert und fast zärtlich in kleine Rechtecke zu zerschneiden. Schnitt auf die Zimmertür, ihr Ehemann tritt ein, bleibt abrupt stehen, als er seine Frau mit ihrem Werk auf dem Bett sieht. Er braucht einen Augenblick, um die Situation zu erfassen, dann fragt er ganz ruhig: „Rough day, huh?“ Seine Frau lächelt ihn an, es ist ein ein süßes, sanftes, mädchenhaftes Lächeln. Auch seine Lippen umzuckt kurz ein Lächeln. Dann beendet ein weiterer Schnitt die Szene und der Zuschauer befindet sich mit der Frau und dem Mann im Krankenhaus. Sie will wieder nach Hause, sagt, es gehe ihr wieder gut. Er antwortet scherzhaft, dass er sich auf Dauer nicht so viele Anzüge leisten könne. Auf sehr ungewöhnliche, ruhige und sensible Art und Weise hat Wellington in die Ausgangssituation des Films eingeführt.

Und er verfährt in diesem Stil weiter. Der Schnitt des Films ist großartig, auffällig vor allem der geschickte Einsatz von Überblendungen, die sowohl eine traumgleiche Atmosphäre schaffen als auch helfen, den psychischen Zustand von Alice zu illustrieren. Wenn Martin ihr das neue Haus zeigt, wechselt Wellington mittels solcher sanfter Überblendungen zwischen Detailansichten des Hauses und dem Gesicht der staunenden Frau, damit sofort die mentale Bindung zwischen den beiden schaffend, um die es im Folgenden (auch) gehen wird. Wunderbar aufgelöst ist auch eines der nächtlichen Treffen zwischen Alice und dem Tischler (er hat keinen Namen): Im Garten besucht sie ihn bei der Arbeit, er steht an einem Tisch und sägt Holzlatten zurecht, sie setzt sich zu ihm, sie unterhalten sich. Er spricht über seine Einstellung zur Arbeit: Wie wichtig es sei, sorgfältig und geduldig zu sein, beharrlich zu sein, keine schlechte Arbeit abzuliefern, sondern so lange an einer Sache zu feilen, bis sie wirklich fertig ist, notfalls bis in die Nacht hinein zu arbeiten, vergleicht den Flow, in den er während der Arbeit kommt, schließlich mit der Musik und diese wiederum mit der Liebe. Das Gespräch wird in Schuss/Gegenschuss-Aufnahmen aufgelöst und jedes Mal, wenn der Tischler ins Bild kommt, hat er sich einer anderen Tätigkeit zugewendet: Zuerst sägt er – Schnitt -, dann hämmert er – Schnitt -, dann schleift er. Und währenddessen fließt das Gespräch ganz einfach weiter. Auch hier wieder: einerseits die perfekte bildliche Umsetzung für die Äußerungen des Tischlers, dann wieder die Akzentuierung des Träumerischen, der Wahrnehmung Alice‘. In einer anderen Szene beweist Wellington ähnliche Raffinesse mit dem Einsatz des Tons: Als Martin von seiner Geliebten angerufen wird, muss er ein geschäftliches Gespräch vortäuschen, weil Alice anwesend ist. Als sie sich wieder entfernt und außer Hörweite ist, setzt er das Gespräch normal fort. Die Kamera folgt Alice, die sich auf der Couch mit ihrem Frühstück niederlässt, doch auf der Tonspur hören wir weiterhin Martin am Telefon mit der Geliebten. In Verbindung mit Alice‘ Gesichtsausdruck – sie schaut nicht genervt, vielmehr völlig gleichgültig – ergibt sich der unmissverständliche Eindruck, dass Alice vom Betrug ihres Mannes weiß, dass ihr das aber vollkommen egal ist, sie für seine erfolglose Heimlichtuerei nicht einmal mehr Verachtung übrig hat. Und seine Versuche, seine Liebschaft zu vertuschen, wirken nur noch jämmerlicher.

Das führt nun auch zum Kern des Films: THE CARPENTER ist trotz seines Titels (auf dessen Implikationen ich gleich noch eingehen werde) ein sehr weicher, ja, weiblicher Film. Es geht um einen Mann und seine über den Tod hinausgehende Bindung an das von ihm errichtete Haus, aber noch mehr um eine dysfunktionale Liebesbeziehung, ja um die Dysfunktionalität heterosexueller Beziehungen überhaupt. Die Frau, der Mann, das unbekannte Wesen. Das exerziert Wellington hier par excellence durch: Die Ehe, die er zeichnet, liegt in Trümmern, ohne dass sich dies aber in krassen Ereignissen oder Handlungen niederschlüge. Da erreichen sich zwei Menschen einfach nicht mehr. Die Kommunikation ist gestört, hoffnungslos. Und während der Mann alle Versuche, daran etwas zu ändern, einstellt, flüchtet sich die Frau nach innen und erträumt sich einen starken, einen „richtigen“ Mann, einen der sie beschützt, sie versteht und liebt. Einmal erzählt Martin – er ist Dozent an der Uni – von Paul Bunyan, der amerikanischen Sagengestalt, einem Holzfäller mit riesenhaften Körperausmaßen und in Begleitung eines gewaltigen Bullen, der das Männliche in Reinkultur verkörpere. Es ist klar, dass er, der langweilige Anzugtyp, dessen Versuche, „männlich“ zu sein, allesamt anmaßend bis lächerlich wirken, diesem Idealbild krass widerspricht; aber auch die Handwerker, die an dem Haus arbeiten, sind erbärmliche Gestalten: ungehobelt, dumm, uncharmant. Erst in dem Phantomtischler stehen körperliche Stärke, Intelligenz und Einfühlsamkeit (einmal bittet er Alice im weißen Anzug zum Tanz) anscheinend in einem ausgewogenen Verhältnis, das Männlichkeit erst aus- und ihn somit für Alice interessant macht. Aber die bedingungslose Liebe führt selten ins Glück, den Menschen ohne Makel gibt es nicht.

THE CARPENTER ist ein sehr ungewöhnlicher, überraschend eigenständiger Thriller, der viele interessante Denk- und Deutungsansätze bietet – die Parallelisierung von Haus und Geist müsste den oben angerissenen Themenkomplexen noch hinzugefügt werden -, sich aber nicht dazu versteigt, diese alle wirklich zu Ende zu denken. Er ist eben auch ein Exploiter, ein kleiner Genrefilm, der nebenbei auch noch ein paar krude Effekte und ein knalliges Ende liefern muss, um sein Publikum zufriedenzustellen. Der schon während des Films aufkeimende Verdacht, dass die vielen Fäden unmöglich zu einem befriedigenden Schluss zusammengeführt werden, bestätigt sich, ohne dass dies der Freude über diesen ungewöhnlichen Film einen Abbruch täte. Am Schluss setzt es Kintopp: Die Leichen der vom Tischler entsorgten Menschen stapeln sich, Alice erkennt, dass auch diese Beziehung zum Scheitern verdammt ist. Zusammen mit dem Haus zerstört sie auch den Tischler und kann fliehen, in eine ungewisse Zukunft. Klar ist nur eins: In diesem Haus wohnt Alice nicht mehr.

Eine Minderjährige wird ermordet in einer Herberge aufgefunden, beinahe zeitgleich der Sohn eines Mailänder Unternehmers entführt. Der Staatsbeamte Paolo Germi (Claudio Cassinelli) taucht tief in den Sumpf des Rotlichtmilieus ein und kommt einer weit verzweigten verbrecherischen Organisation auf die Schliche …

MORTE SOSPETTA DI UNA MINORENNE oder auch SUSPICIOUS DEATH OF A MINOR ist ausnahmsweise kein Giallo, sondern eine recht unorthodoxe bzw. eben typisch italienische Melange aus Krimi, Polizei- und Actionfilm und Komödie, von Martino gewohnt souverän inszeniert und mit einigen packenden Actionsequenzen versehen, die den Film über Fernsehkrimi-Niveau heben. Eine lange Autoverfolgungsjagd zwischen einem Polizei-Fiat und einer verbeulten Ente ist tatsächlich sehr rasant und rutscht auch deshalb niemals in die Lächerlichkeit ab, weil Martino die Hatz durch die Mailänder Straßen mit etlichen Slapstick-Elementen garniert, die man heute so garantiert nicht mehr zu sehen bekäme: Ein Fahrradfahrer findet sich unvermittelt auf einem Einrad wieder, nachdem ihm das Vorderrad von den Protagonisten der Jagd „abgefahren“ wird, ein Fußgänger wird beinahe umgefahren, vollzieht beim hinfallen einige Headspins und rennt dann schließlich orientierungslos vor einen Laternenpfahl. Höhepunkt ist sicherlich die Schießerei auf einer Achterbahn, aber auch das Duell auf dem Dach eines Kinos, das sich automatisch öffnen lässt, ist ein Hingucker.

Der dramaturgisch spannendste Kniff dieses Films, der wie gewohnt die miesen Machenschaften der oberen Zehntausend thematisiert, gegen die der Staat eigentlich nur noch mit Gewalt etwas unternehmen kann, weil das Rechtssystem regelmäßig versagt, ist wohl Gastaldis Idee, erst nach ca. der Hälfte des Films zu verraten, was der Protagonist eigentlich im Schilde führt. Cassinellis Germi könnte ein Verbrecher sein, ein Psychopath oder ein auf eigene Faust handelnder Privatmann. Mit seinem Zorn auf die laffe Justiz und die großzügige Auslegung der Gesetze ist er ein Gesinnungsgenosse jener italienischer Cops, die als italienische Antwort auf DIRTY HARRY durch die Straßen Roms, Mailands oder Neapels hetzten. Dass Cassinelli äußerlich eher wie ein Denker denn wie ein Tatmensch aussieht, trägt erheblich zur Verwirrung des Zuschauers während der ersten 45 Minuten und damit auch zum Gelingen des Films bei. Kein Muss, aber eine durchweg runde Sache (mit Kanten).