Eigentlich fängt meine filmische Weltreise erst jetzt so richtig an. Bislang bewegte ich mich noch auf vertrauten Pfaden, doch mit diesem Film beginnt die kontinuierliche Entfremdung von westlichen Erzählstandards und ich darf mich in den nächsten Tagen auf fremdartige Filmwunder aus dem ehemaligen Ostblock, dem Nahen Osten und Vorderasien freuen. Die Grenzüberschreitung in dieses doch weitgehend unbekannte Territorium mit dem noch zu Zeiten der UdSSR entstandenen lettischen Spielfilm ZIRNEKLIS (was schlicht „Spinne“ bedeutet) ging noch relativ sanft vonstatten – lediglich das Fehlen einer verständlichen Ton- oder Untertitelspur gab einen Vorgeschmack auf den noch bevorstehenden Kulturschock.
Auch wenn erzählerische Details somit an mir vorbeigegangen sind, ein paar Lücken erst durch Hypnosemaschine Alex‘ Text geschlossen werden konnten (der mir diesen und zahlreiche der kommenden Filme netterweise zur Verfügung gestellt hat – vielen Dank nochmal ganz offiziell!), fühlte ich mich in ZIRNEKLIS doch noch einigermaßen gut aufgehoben. Er erinnert ein wenig an erwachsene tschechische Märchenfilme wie etwa VALERIE A TYDEN DIVU, wenn er auch dessen formale Brillanz vermissen lässt, roher, ungeschliffener und, ja, auch etwas „billiger“ rüberkommt. Er erzählt die Geschichte der hinreißend schönen Vita (Aurelija Anuzhite), die einem Maler Modell für ein Marienporträt stehen soll. Unter dem Einfluss dessen expressiver, etwas an die Werke von Hieronymus Bosch erinnernder Gemälde gerät Vita in Trance und kann sich nur mühsam den folgenden sexuellen Avancen des Künstlers entziehen. In den folgenden Tagen leidet sie immer wieder an Albträumen und Halluzinationen, in denen sie von einer riesigen Spinne vergewaltigt wird. Aus Sorge um Vita schickt die Mutter ihre Tochter zu Verwandten an die Küste des baltischen Meeres, wo sich die Gute gleich in einen stattlichen Jüngling verliebt. Doch der teuflische Maler will sich seine Errungenschaft nicht so leicht abspenstig machen lassen und folgt ihr …
ZIRNEKLIS besticht wahrscheinlich nicht nur für den des Russischen nicht mächtigen Zuschauer durch seine Bilder: Die in der Gegenwart angesiedelte Geschichte wirkt durch verschiedenste visuelle Mittel einer konkreten Zeit enthoben, traumgleich. Für ersteres ist vor allem der intensive Braunstich verantwortlich, der alles mit der Patina vergangener Jahrhunderte bedeckt, für letzteres sowohl der Einsatz von Weichzeichner als auch Mass‘ Verwendung natürlichen Gegenlichts, das die Bilder oft verschwimmen, ja beinahe transparent werden lässt. ZIRNEKLIS lullt den Zuschauer mit dieser Technik ein, macht ihn empfänglich für seine Sinnestäuschungen und stellt ihn somit auf eine Stufe mit der orientierungslosen Vita. Ganz im Gegensatz zu dieser das Materielle anscheinend scheuenden Bildsprache stehen die kruden, vielleicht aber gerade deshalb beeindruckenden Spezialeffekte. Vor allem die „Sexszenen“ mit der Riesenspinne bleiben im Gedächtnis, weil sie sich stilistisch wunderbar in das Gesamtbild einfügen. Statt auf technische Perfektion, die sich Mass wahrscheinlich nicht leisten konnte, setzt der Regisseur auf Atmosphäre und einen desorientierenden Schnitt. Wunderschöne Stop-Motion-Effekte ergänzen das Effektinventar und zwingen den Zuschauer dazu, eine kindlich-staunende Perspektive einzunehmen. Vielleicht trifft der Begriff des „magischen Realismus“ am besten, was Mass mit ZIRNEKLIS geleistet hat: Der Film widmet sich einem ganz und gar weltlichen Thema – das Erwachen der Sexualität -, formt dieses aber zu einen verstörenden Märchen über böse Magier, gute Priester, wilde Fantasien und die Verlockung des Bösen um. Dass die lettische Küste, an der Teile des Films entstanden, aussieht wie gemalt, spielt ihm dabei nicht wenig in die Karten. ZIRNEKLIS ist sicher kein Film, den ich mir jeden Tag ansehen müsste, dafür ist er in seinen expositorischen Szenen ein klein wenig zu unbedarft (zumindest wirkt es so, wenn man nichts versteht), aber einer, der einem schmerzhaft klar macht, welches große künstlerische Potenzial einst hinter dem Eisernen Vorhang fernab der westlichen Aufmerksamkeit schlummern musste und bis möglicherweise heute unentdeckt geblieben ist.
Ein paar Impressionen noch, dann geht es weiter nach Weißrussland.
Gern geschehen! Du hast ein paar Sachen in dem Film gesehen, die mir nicht so aufgefallen waren, die Parallele zu VALERIE z.B. ist in der Tat recht frappant. Was den magischen Realismus betrifft, gibt es da ja auch verschiedene Definitionen, bei den meisten der darunter subsumierten Werken stellen die übernatürlichen Elemente aber keine wirkliche „Bedrohung“ für die Protagonisten dar, auch wenn sie zunächst so scheinen, aber das ist wohl auch Auslegungssache. Ansonsten wage ich die Prognose, daß es dir in Weißrussland noch etwas mehr gefallen wird als in Lettland. 😉
[…] mann hat eine ausführlicher formulierte, allgemeinere ansicht zu dem film geäußert. Teilen?Gefällt mir:Gefällt mirSei der Erste, dem diese(r) Artikel […]