Archiv für Februar, 2013

Was zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts mit dem an die Agenten- und Politthriller der Siebzigerjahre angelehnten THE BOURNE IDENTITY begann, endete 2007 mit THE BOURNE ULTIMATUM, der die intensified continuity auf die Spitze trieb – und also mit dem ursprünglichen Retro-Appeal des ersten Teils rein gar nichts mehr gemein hatte. Es schien kaum möglich, dieses formale Gewitter noch zu überbieten, weshalb der Abgang von Hauptdarsteller Matt Damon vielleicht sogar ein Glücksfall war. Mit einem neuen inhaltlichen Start konnte auch stilistisch ein neuer Weg eingeschlagen werden. Unter Regisseur Tony Gilroy wird hinsichtlich Schnittfrequenz und desorientierender Kameraperspektiven dankenswerterweise ein Gang zurückgeschaltet. THE BOURNE LEGACY mutet gegenüber den Vorgängern beinahe aufgeräumt an. Das trifft auch auf die Handung zu: Fein säuberlich sind die Actionszenen um den neuen Superagenten Aaron Cross (Jeremy Renner) vom Rest getrennt. Es ist fast so, als schaute man zwei Filme: einen mäßig aufregenden Politthriller, der mit viel Buhei ins Nichts läuft, und einen Actionfilm, der ständig unterbrochen wird. Der Übergang von Jason Bourne zu einer neuen Identifikationsfigur wird inhaltlich gut bewältigt. Nur leider ist der Film, der zu diesem Zweck entstanden ist, kaum mehr als ein auf zwei Stunden ausgedehnter Teaser.

Die Kontroverse um den abtrünnigen Agenten Jason Bourne führt die Verantwortlichen zu dem Entschluss, das Programm, aus dem er hervorging, abzusetzen. Alle noch existierenden Superagenten müssen sofort ausgeschaltet werden. Zu diesen Agenten gehört auch Aaron Cross, der gerade sein Überlebenstraining mitten in der Wildnis absolviert – und das Glück hat, dass ihm niemand die für ihn gedachte Todespille überreichen kann. Auch den Dronen, die auf ihn angesetzt werden, kann er mit knapper Not entgehen. Totgeglaubt sucht er die Wissenschaftlerin Dr. Marta Shearing (Rachel Weisz) auf: Er braucht dringend seine Medikation. Und weil sie als Mitarbeiterin an dem Programm eine ungeliebte Mitwisserin ist, kann sie Cross‘ Hilfe gut gebrauchen. Die Jagd beginnt …

Wie schon THE BOURNE ULTIMATUM springt auch THE BOURNE LEGACY ein Stück gegenüber dem Vorgänger zurück, mit dem Vorteil, dass man sich als Zuschauer sofort im Mittelpunkt des Geschehens wiederfindet. Der Beginn ist dann auch recht stimmungsvoll: Während die Staatsbeamten über das weitere Vorgehen beratschlagen, kämpft sich Aaron Cross wie ein alter Krieger durch die Einöde. Jeremy Renner ist vielleicht der einzige echte Pluspunkt des Films. Das Starpotenzial, das ihm abgeht, macht er durch Kampfgeist wett: Seine etwas untersetzte, gedrungene Gestalt und das knautschige Arbeitergesicht prädestinieren ihn für solche Kämpferrollen. Zum Vorgänger Matt Damon verhält er sich beinahe so wie Daniel Craig zu Pierce Brosnan oder Roger Moore. Leider muss sich Renner aber durch ein Sequel arbeiten, dessen Macher alle Konzentration darauf verwendeten, eine erfolgreiche Serie schlüssig fortzusetzen und keine darauf, einen für sich allein funktionierenden, guten Film zu machen. THE BOURNE LEGACY hat zwei gute Actionsequenzen – eine zu Beginn, eine zum Ende – und dazwischen jede Menge bedeutungsschwangeres Geschwätz, dass ausschließlich für Leute interessant ist, die um jeden Preis wissen wollen, wie eine eigentlich abgeschlossene Geschichte weitergeht – und denen es dabei egal ist, ob es diese Geschichte überhaupt wert ist, erzählt zu werden. Damit wir uns da nicht falsch verstehen: Ich habe gar nichts gegen dialoglastige Filme, zumal Dialoge ein wichtiges gestalterisches Merkmal des Politthrillers sind. Aber in THE BOURNE LEGACY ergibt sich überhaupt kein Zusammenhalt zwischen den Elementen. In ihrer Struktur erinnern mich die Auftritte von Scott Glenn, Edwart Norton oder Stacy Keach an die „Hauptrollen“, die abgehalfterte Stars in preisgünstigen B- und C-Kloppern einzunehmen pflegen: Zeitlich und räumlich völlig unabhängig vom Rest des Films sitzen sie meist an einem Schreibtisch und telefonieren, ohne dass auch nur ein anderer Schauspieler das Bild betreten würde. THE BOURNE LEGACY verlässt sich blind darauf, dass der Name „Bourne“ die Leute auch dazu bewegt, sich einen Film anzuschauen, der ieigentlich nur der aufgeblasene, langweilige Mittelteil eines anderen, spannenderen Films ist. Wehe, wenn der Nachfolger nicht richtig kickt: Dann ist THE BOURNE LEGACY wirklich kaum mehr gewesen als eine ziemlich teuere Zeitverschwendnung.

Die Schublade, die ich für SHAME nach dem Lesen einiger Rezensionen vorgesehen hatte, lautete auf den Namen: „AMERICAN PSYCHO mit Sex statt Morden“. Ich befürchtete einen dieser zeitgeistigen Filme, in denen die Welt zwar vollgestellt ist mit attraktiven Menschen in teurem Zwirn und schicken Designermöbeln, aber dafür jedes Sinnes, jeder Emotion beraubt. Einen jener Filme, in dem diese beziehungs- und liebesunfähigen, materialistischen Menschen sich in irgendwelche absurden Obsessionen stürzen, in denen ihre ganze Verkommenheit zum Ausdruck kommt. Hier eben: Sex. Und mit dem Sex ist das ja so eine Sache: Obwohl seine soziale Funktion kaum unterschätzt werden kann, er bestimmendes Thema zwischenmenschlicher Beziehungen ist und der Köder, mit dem Werke der Populärkultur immer noch erfolgreich ihr Publikum locken, hat Sex immer auch etwas Anrüchiges, sobald ein gewisses Maß – qualitativ oder quantitativ – überschritten wird. Und so ahnt man ja schon, dass ein Film, der sich mit einem „Sexsüchtigen“ befasst, kaum zu dem Schluss kommen wird, dass der mit seiner Sucht besser dran ist als ein Drogenabhängiger. Natürlich führt die Obsession den Protagonisten von SHAME in Grenzbereiche, natürlich leidet sein Leben an der Sucht, natürlich vernachlässigt er für sie die Dinge, die wichtiger scheinen. Natürlich muss er einen Ausweg aus der Sackgasse finden, bevor es zu spät ist. Immerhin lässt SHAME das Thema Aids außen vor. Fast ein Wunder, möchte man meinen.

Dennoch ist SHAME nicht die moralinsaure Lehrstunde in Sachen Oberklassen-Zynismus, die ich befürchtet hatte. Über weite Strecken, vor allem während der ersten beiden Drittel, bemüht sich McQueen um Differenzierung. Der erfolgreiche, allein lebende Geschäftsmann Brandon (Michael Fassbender) ist kein gefühlskaltes Raubtier (auch wenn er in der Anfangssequenz, in der eine Frau durch eine U-Bahn-Station verfolgt, so erscheint) und auch kein Frauenhasser wie es Patrick Bateman war. Er ist ein sympathischer Mann, charmant und gewinnend im Umgang mit Frauen, eher still und zurückhaltend, als forsch und offensiv. Man merkt, dass seine Isolation selbst gewählt ist: Tief verletzt und voller Misstrauen hat er sich zurückgezogen. Sein Hobby wäre unproblematisch, wenn es nicht seinen Alltag komplett dominierte: Auf seinem Bürocomputer hat man Unmengen an Pornografie gefunden, mehrfach am Tag muss er eine Toilette zum Onanieren aufsuchen, auch zu Hause wird als erstes Internetpornografie konsultiert, wenn nicht gerade eine Prostituierte da ist. Mit diesem ausgefüllten Alltag hat es ein Ende, als Brandons Schwester Sissy (Carey Mulligan) bei ihm Unterschlupf sucht. Die sensible, mittellose Sängerin hat mehrere Selbstmordversuche hinter sich und die Tendenz, den falschen Männern hinterherzurennen. Sie behindert den Bruder in der Ausübung seines Hobbys und zieht deshalb immer mehr seinen Zorn auf sich. Und wohl auch, weil sie ihn daran erinnert, was mit ihnen einst passiert ist – der Film deutet das wirklich nur kurz an, aber es drängt sich der Verdacht auf, dass beide als Kinder missbraucht wurden. Sissy erstickt alle Menschen, die ihr nahekommen mit ihrer Anhänglichkeit, Brandon kann zu niemandem ein Beziehung aufbauen, die länger als ein paar Wochen dauert. Da leben zwei Menschen auf engstem Raum zusammen, deren Traumatisierung sich in  genau entgegengesetzte Richtungen auswirkt.

Leider gelingt es McQueen trotz dieser guten Ansätze leider nicht gänzlich, Brandons Sucht zu entskandalisieren. Gerade im Showdown, in dem er sich nach einem heftigen Streit mit seiner Schwester auf eine Ficktour begibt, die der Regisseur zum Abstieg in die Hölle hochstilisiert, kippt der Ton des Films: Distanz und Neutralität werden zugunsten der dramatischen Pointierung und Skandalisierung aufgegeben. Völlig entfesselt fingert Brandon eine Frau am Tresen einer Bar, legt sich dann geradezu todessehnsüchtig mit ihrem schlagkräftigen Freund an und hetzt danach mit Schürfwunden im Gesicht und wie ein Junkie den nächsten Kick suchend durch die nächtlichen Straßen. Alles ist in ein infernalisches Rot getaucht, die Konturen des Bildes verschwimmen, Brandons ganze Identität scheint in Auflösung begriffen. Wie in Trance geht er einem Mann hinterher, folgt ihm in einen kargen Club, der von ohrenbetäubendem Techno erfüllt wird und lässt sich von diesem dann in einem dreckigen Kellerloch fellationieren. Das ist der Moment, in dem der Film seine Aufrichtigkeit aufgibt und stattdessen auf billigen shock value setzt. Als sei es so besonders verblüffend, dass ein Mann, der täglich mehrfach ejakulieren muss, sich im Notfall auch von einem Mann bedienen lässt. Schlimmer noch: Als sei daran irgendetwas per se schockierend. Er steckt seinen Pimmel einem anderen Mann in den Mund! Jetzt ist er wirklich am Ende. So zumindest wirkt diese Szene auf mich und sie verrät die bis dahin gemachten Bemühungen und seinen Protagonisten. Abgefedert wird sie durch eine weitere, sich anschließende Sexszene, in der sich Brandon mit zwei Traumfrauen und unter goldenem Licht in geradezu paradiesische Ekstase vögelt. In diesem Moment wird klar, dass dieser Mann mit seinem speziellen Hobby nicht nur überirdische Glückszustände erreicht, sondern dass er auch ziemlich gut ist in dem, was er da tut. Wahrscheinlich hatte McQueen Angst vor dieser Erkenntnis, weshalb Brandon pünktlich zum Orgasmus in tränenschwangere Verzweiflung verfällt.

In dieser Art taumelt der Film nun seinem Ende entgegen. Das Abgleiten ins Melodram wird immer wieder eben so verhindert, bevor die nächste kitschige Szene einen neuen Anlauf nimmt. Brandon begreift, dass seine Schwester sich umbringen wird, findet sie blutend auf dem Badezimmerboden. McQueen entscheidet sich dankenswerterweise dafür, sie nicht sterben zu lassen, beschert seinem Protagonisten dafür dann aber einen effektvollen Zusammenbruch im Regen. Und ein offenes Ende – hat Brandon sich geändert oder nicht? – suggeriert dann doch wieder das schlummernde Raubtier aus der U-Bahn-Sequenz. Ich weiß nicht. Einerseits hat mir SHAME deutlich besser gefallen, als ich das erwartet hatte, andererseits hat er einige meiner schlimmsten Vorurteile bestätigt. Es scheint einfach nicht möglich, Filme dieser Art ohne die große menschliche Katastrophe erzählen zu können. Die Überspitzung am Ende kollidiert heftig mit der Distanz, die McQueen über weite Strecken hält. Am Ende ist SHAME dann doch ein ziemlich herkömmlich strukturierter Film, dessen Thema „Sexsucht“ nahezu austauschbar ist. Gut gespielt und erlesen fotografiert ist er aber dennoch.

Als vor ein paar Jahren die Nachricht umging, dass Sam Raimi seine SPIDER-MAN-Reihe nicht fortsetzen würde, weil ein Reboot anstünde, war das Unverständnis groß. Nun hatte es ein Comicheld endlich mal auf ansprechendem Niveau bis zum dritten Teil geschafft, war der Boden für kommende Abenteuer, für die Arbeit an den Details und den akribischen Ausbau des Helden-Universums, bestellt worden, da machten ihm irgendwelche Studiofuzzis schon wieder ein Ende, nur um – mal wieder – von vorn zu beginnen. Dass SPIDER-MAN 3 insgesamt eine milde Enttäuschung war, schien kein ausreichender Grund für die Entscheidung, bei null anzufangen.

Wenn man sich die Kommentare der Nerds durchliest, etwa auf den Seiten ihres Zentralorgans Ain’t it cool news, wird man schnell auf stichhaltige Beweise gestoßen, warum THE AMAZING SPIDER-MAN Schrott ist, der es nicht verdient at, das Erbe Raimis anzutreten: er werde – wie immer – den Comics nicht gerecht und er sei ein Schnellschuss, von der Universal nur gemacht, um die Rechte an der Figur (die ein nomineller Protagonist für den nächsten AVENGERS-Film wäre) zu behalten, auf die Paramount schon ein Auge geworfen habe. Und dann ist da natürlich das absolut kriegsentscheidende Detail: die Sneakers, die zum Spider-Man-Kostüm gehören.

Ohne die fundamentalistische Verblendung des Comicfans betrachtet, ist THE AMAZING SPIDER-MAN ein wunderbar runder Film, der Raimis Serie tatsächlich relativ schnell vergessen macht, weil er ein ganz ähnliches Geschick und Herz in der Zeichnung seiner Charaktere zeigt. Spider-Man ist wahrscheinlich der menschlichste und zugänglichste Held des Marvel-Universums und daran ändern auch die etwas düsterere Ausrichtung und Garfields rebellischerer Peter Parker nichts. Orientierte sich Raimi eher am klassischen Silver-Era-Spiderman der 60er-Jahre, mit einem moralisch reinen Protagonisten, bekommt er in der Interpretation von Webb ein paar mehr Ecken und Kanten ab: Seine Jagd auf Verbrecher wird nicht zuletzt von einer fast selbstmörderischen Lust am Adrenalinkick angetrieben, in seinem selbstsicheren Autreten und seiner großmäuligen Art kommt der Narziss zum Vorschein, der bisher von seiner eigenen Minderwertigkeit gehemmt worden war. Die sprücheklopfende, biegsame Inkarnation des Helden, die man etwa aus den McFarlane-Comics kennt, findet ohne Reibungsverlust vom Comic auf die Leinwand. Die Kluft zwischen dem abtrünnigen Vigilanten und diesem Superhelden, sie ist sehr viel schmaler als bei Raimi. Im Versuch, Spider-Mans Fähigkeiten wissenschaftlich zu unterfüttern, liegt ein weiterer großer Unterschied zu den Vorgängern –  abgesehen natürlich von den Details der Origin-Story. Aus dem Fotografen ist ein angehender Naturwissenschaftler mit genialischen Zügen geworden, der nicht nur Kostüm und Ausrüstung nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen konstruiert, sondern auch die Gleichung liefert, der der Forscher Dr. Curt Connors (Rhys Ifans) seine Wandlung zum Lizard verdankt.

Die Schwächen von THE AMAZING SPIDER-MAN kennt man hingegen schon aus etlichen anderen Superhelden-Comicverfilmungen: Webb braucht so lang für seine Origin-Story, dass der Lizard am Ende zwangsläufig zu kurz kommt. Der Showdown wirkt übereilt und kann nicht mehr wirklich einen oben drauf setzen. Verschmerzbar, da Webb Spideys Fähigkeiten mit genau jenem sense of wonder ablichtet, der uns die Comics überhaupt erst ans Herz wachsen ließ. Wenn die Kranfahrer ihre Kräne am Ende so ausrichten, dass der verwundete und entkäftete Held sie benutzen kann, um sich entlang der Fifth Avenue zum Ziel zu hangeln, ist das einer eben jener wunderbar übertriebenen, pathetischen Momente, die in Heftform gleich eine  ganze prächtig gestaltete Seite abzubekommen pflegten. Nicht unwesentlichen Reiz bezieht Webb aus dem ausgiebigen Einsatz der Spinnenfäden: In einer kreativen Sequenz spinnt Spider-Man ein Netz in der Kanalisation, um darin auf ein Lebenszeichen vom Lizard zu warten. Wer gedacht hatte, Raimi habe alle bildlichen Möglichkeiten eines sich durch Manhattan schwingenden Helden ausgeschöpft, sieht sich schnell eines Besseren belehrt.

Angesichts dieses Ergebnisses kann man die Entscheidung der Universal, den Raimi-Spidey abzusetzen, kaum noch kritisieren. Man vermisst an THE AMAZING SPIDER-MAN vielleicht etwas die Unschuld, die typisch für die Silver-Era-Comics ist und die Raimis Film zu einem aller modernen Tricktechnik zum Trotz sehr nostalgischen Werk machte, aber die Möglichkeiten, die sich mit diesem Peter Parker eröffnen – und seine Liaison mit Gwen (Emma Stone) –, machen das mehr als verschmerzbar. Nice.

 

 

 

 

Ti Wests THE HOUSE OF THE DEVIL gehört zu den zehn besten Horrorfilmen der vergangenen zehn, wenn nicht gar zwanzig Jahre. Mitten hinein in eine Welle mit abgegriffenen CGI-Schockeffekten zugekleisterter oder sich in fehlgeleiteter Ehrerbietung für vergangene Genregroßtaten ergehender Horrorfilme platzte sein Ultra-Low-Budget-Okkult-Schocker und entdeckte die ultradoomslowe Langsamkeit, die noch der beste Nährboden für prickelnde Gänsehaut und aufgerichtete Nackenhaare ist. Hier und nur hier zeigte sich, was die so oft gefeierten Exploiter der Siebzigerjahre wirklich auszeichnete: nicht grelle Charaktere und Gimmicks, sondern eben diese kriechende Langsamkeit, die die Nerven der Zuschauer so weit dehnt, bis sie tatsächlich zum Zerreißen gespannt sind – und jeder Schock einen echten Kollaps auslöst. Es gibt ein britisches Sprichwort, das besagt: „The chase is better than the catch.“ Auf THE HOUSE OF THE DEVIL übertragen bedeutet das: Das Warten ist spannender als die Entladung. THE INNKEEPERS, Ti Wests neuer Genrebeitrag zeigt zum einen, dass der Vorgänger keine Eintagsfliege war, der Regisseur das Spiel mit der Erwartung und dem endlosen Herauszögern vielleicht so gut beherrscht wie derzeit kein zweiter. Zum anderen wird aber auch deutlich, dass Ti West kein Interesse daran hat, sein Dasein als Retrofilmer und Dienstleister für Seventies-Aficionados zu fristen: THE INNKEEPERS vollzieht den Schritt zum großen, publikumsträchtigen Mainstreamkino, ohne sich dabei korrumpieren zu lassen. Vielleicht kann man ihn ein wenig mit THE FRIGHTENERS vergleichen, mit dem sich Jackson vor 15 Jahren als kommender Hitlieferant empfahl. So sehr ich die Rohheit von THE HOUSE OF THE DEVIL vermisst habe: Ti Wests neuer Film ist erstklassig.

Claire (Sara Paxton), eine asthmatische Mittzwanzigerin ohne echtes Ziel, und Luke (Pat Healy), ein hoffnungsloser Slacker mit Faible für Paranormales und eigener Website, teilen sich die Schichten an der Rezeption des altehrwürdigen „Yankee Pedlar Inn“, das in einer knappen Woche für immer die Pforten schließen wird. Der schleppende Betrieb im Haus – nur zwei Gäste haben sich dort eingemietet – lässt beiden viel Zeit für Dosenbier, lange Gespräche und die Suche nach dem hauseigenen Geist. Vor allem Claire nimmt die Forschungen immer ernster, will unbedingt Kontakt aufnehmen. Doch mit ihrem Enthusiasmus bringt sie sich in Lebensgefahr …

Mit Robert Wise‘ THE HAUNTING vollzog sich im Geisterfilm ein Wandel: Der Spuk stand danach immer im Verdacht, sich nur in den Köpfen der Betrachter abzuspielen. THE INNKEEPERS scheint zunächst den Weg so vieler Geisterfilme der letzten Jahre zu gehen: Mit Kamera, Mikro und Aufnahmegerät prüfen Claire und Luke das Haus auf Herz und Nieren und immer, wenn man eines ihrer Videos ansichtig wird, fühlt man sich wie in einem Found-Footage-Film. Doch die typischen shocks and scares, die man etwa aus PARANORMAL ACTIVITY kennt, stellen sich nicht ein. Während man den beiden sympathischen Verlierern bei der Arbeit zusieht, gerät fast ein wenig in Vergessenheit, dass THE INNKEEPERS doch ein Horrorfilm ist. Fast. Denn mit zunehmender Wartezeit steigt auch die Gewissheit, dass bald etwas passieren muss. Ti West führt den Zuschauer so mit schlafwandlerischer Sicherheit auf jenen schmalen Grat zwischen Erwartung und Furcht, den man auch Angstlust nennt.

Wenn ich oben den Vergleich zu THE HAUNTING zog, so hinkt der doch unübersehbar. Wo Wise sehr deutlich das Erkenntnisinteresse seiner psychisch labilen Charaktere ins Zentrum rückt und so verdeutlichte, dass der Spuk Produkt ihrer überspannten Fantasie ist, erzählt West seine Geschichte sehr straight und ohne sich offen für eine der beiden Möglichkeiten – echter Spuk oder Einbildung – zu entscheiden. Das ist eine kaum zu unterschätzende Willensleistung Wests, der nie dem Reiz der Effekthascherei verfällt, und dem es auch ohne Hokuspokus gelingt, die Spannung in ungeahnte Höhen zu treiben: etwa in der versuchten Geisterbeschwörung Claires, bei der sich Luke zusammen mit dem Zuschauer in ein bibberndes Nervenbündel verwandelt. THE INNKEEPERS hält seine Offenheit bis zum Schluss. Das macht ihn so stark, verleiht ihm nachhaltige Wirkung und große emotionale Durchschlagskraft. Die ganze Tragweite des Dramas, das sich in dem ausgedienten Hotel abspielt, eröffnet sich dem Zuschauer eigentlich erst, wenn der Film längst vorbei ist.

Auch wenn THE INNKEEPERS auf den ersten Blick etwas stromlinienförmiger erscheint als THE HOUSE OF THE DEVIL: Der Film ist ein kleiner Triumph. Wunderbar geschrieben, gut gespielt, mit untrüglichem Gespür für Timing inszeniert – ganz groß, wie West den einen obligatorischen romantischen Moment buchstäblich auflöst! – und dabei auf gänzlich unaufdringliche Art doppelbödig. Ti West ist der derzeit beste (neue) Regisseur im Horrorgenre.

Sidney Bruhl (Michael Caine), einst Autor gefeierter Broadway-Stücke, steht nach dem vierten Flop im Folge vor dem Karriereaus und der großen Sinnkrise. Just zu diesem Zeitpunkt flattert das Erstlingswerk von Clifford Anderson (Christopher Reeve) ins Haus: Der junge Mann hatte einst ein Seminar von Bruhl besucht und liefert dem verzweifelten Autor genau jenes makellose Script, das der braucht, um seine Karriere zu retten. Er lädt Clifford zu sich nach Hause ein, fest entschlossen, ihn zu töten und sich das Buch unter den Nagel zu reißen. Und so kommt es dann auch, sehr zum Entsetzen von Bruhls Gattin Mya (Dyan Cannon), die ihren Mann nicht mehr wiedererkennt. Doch der ist noch zu sehr viel mehr fähig …

DEATHTRAP hatte ich eigentlich nach einer knappen halben Stunde abgehakt. Die schwarzhumorige Murder Mystery war bis zu diesem Zeitpunkt zwar sehr gefällig, schien ihr ganzes Pulver aber bereits verschossen zu haben. Er schien mir der typische Fall eines kleinen Zeitvertreibs eines ungleich profilierteren Regisseurs zwischen zwei größeren Filmen: Nett, aber nur wenig nachhaltig. Doch wie bei jenen Thrillern, mit denen Bruhl seinen Ruhm erlangte, muss man sich auch bei DEATHTRAP auf die ein oder andere Überraschung gefasst machen. Zwar ist das gewissermaßen Sinn und Zweck eines solchen Films, aber Lumet bringt seine Life-imitates-art-imitates-life-imitates-art-Geschichte deutlich stil- und niveauvoller zu Ende, als man das von vergleichbaren Werken gewohnt ist. Lumet beackert 15 Jahre, bevor Craven das mit SCREAM tat, ein ganz ähnliches Terrain, nur dass er dafür nicht auf den Slasher-Film zurückgreift, sondern auf die überkonstruierten Murder Mysteries, wie man sie von Agatha Christie kennt. Der ausgebrannte Thrillerautor bedient sich zunächst seines Wissens darüber, wie man einen perfekten Mord verübt, um sich seines Konkurrenten zu entledigen – zumindest lässt Lumet das den Zuschauer glauben, denn eigentlich ist dieser Mord nur Bestandteil eines noch größeren Plans, den Sidney gemeinsam mit dem vermeintlichen Konkurrenten geschmiedet hat, um sich seiner Gattin zu entledigen. Doch kaum ist dieser Plan in die Tat umgesetzt, kommt ihm Clifford mit einem neuen Plan in die Quere: Er will das Verbrechen auf die Bühne bringen, indem er es wieder in ein Script übersetzt. Dagegen hat nun wiederum Sidney etwas, fürchtet er doch zu Recht, dass auch die Öfentlichkeit in der Lage ist, den Rückschluss auf die Realität zu ziehen. Am Ende wird „Deathtrap“, die Geschichte, die sich im Haus des Autors zugetragen hat, tatsächlich zum Broadway-Renner avancieren, aber eben ganz anders, als es sich die Protagonisten des Films DEATHTRAP ausgemalt haben. Und mit einem ganz anderen Autor.

DEATHTRAP hat vor allem ästhetischen Wert: Er begeistert als makelloses Handwerk, lückenloses, höchst funktionales Konstrukt – insofern ist der weiter oben geäußerte Verdacht, Lumet habe hier vor allem seine Fingerfertigkeit geschult, den Film eher als technische Herausforderung gesehen, denn als persönlichen Ausdruck, vielleicht gar nicht so aus der Luft gegriffen. DEATHTRAP ist sicherlich einer von Lumets weniger themenschweren Filmen und man nimmt als Zuschauer keine bleibenden, tiefgreifenden Erkenntnisse daraus mit. Dass der Fokus eher eng ist, erkennt man schon in der Anlage des Films als Zwei-bis-Vier-Personen-Kammerspiel. Ja, wenn man möchte, kann man darüber nachdenken, wie viel von Lumet in Sidney steckt. Und natürlich kann man das spaßige Katz-und-Maus-Spiel als Auseinandersetzung mit den Fragen begreifen, wie Ästhetik und Moral zusammenhängen und welche Verantwortung dem Autor zukommt. Aber diese Auseinandersetzung steht nicht im Zentrum des Interesses weder Lumets noch des Zuschauers. Während der eine seine kreativen Messer wetzt und erprobt, wie viele Metaebenen er sinnvoll ineinanderfalten kann, ohne dabei die Dramaturgie aus den Augen zu verlieren, besteht der Reiz für den Zuschauer eben darin, sich diesem Spiel auszusetzen und sich über die zahlreichen, genau getimten Twists und Turns zu freuen. DEATHTRAP ist mit dem Zauberwürfel auf dem Plakat tatsächlich sehr treffend illustriert: Wie das ikonische Spielzeug fesselt der Film als Denksport, als gleichzeitig einfaches wie verblüffend komplexes Gebilde, in das man sich stundenlang vertiefen kann, um es danach in einer Schublade verschwinden zu lassen. It’s fun.

Dass der Film über seine Laufzeit von 115 Minuten fast durchweg brillant unterhält, liegt natürlich nicht zuletzt am Zusammenspiel von Michael Caine und Christopher Reeve. Das Spiel mit den in stetigem Wechsel begriffenen Machtverhältnissen gelingt beiden mit Bravour. Den von teuflischen Mordplänen besessenen Sidney, der seine Gier hinter dem vorgetäuschten britischen Gentleman-Charme kaum noch verbergen kann, interpretiert Caine mit der ihm eigenen Mischung aus trockenem Humor und brennender Intensität gewohnt souverän. Die eigentliche Entdeckung ist Christopher Reeve, den man aufgrund seiner eher breit angelegten Darbietung in den SUPERMAN-Filmen und seinem jungenhaft guten Aussehen immer etwas unterschätzt hat: Den nahezu übergangslosen Wechsel vom unbedarft-naivem Opfer zum unberechenbaren Psychopathen meistert er mühelos und seine zwei, drei kurzen aggressiven Ausbrüche lassen einem tatsächlich das Blut in den Adern gefrieren. Die beiden fügen sich also nahtlos ins Gesamtbild ein: Alle Beteiligten haben ihr ihr ausnahmslos Bestes gegeben und einen doppelbödigen, immens kurzweiligen Thriller geschaffen, auf den Sidney Bruhl mit absoluter Berechtigung stolz gewesen wäre – oder getötet hätte, um ihn unter seinem Namen zu veröffentlichen.

hickey & boggs (robert culp, usa 1972)

Veröffentlicht: Februar 11, 2013 in Film
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Al Hickey (Bill Cosby) und Frank Boggs (Robert Culp), zwei ausgebrannte Privatdetektive, haben alle Mühe, das Geld für ihre laufenden Rechnungen zusammenkratzen. Beide haben ihre Frauen verloren, Boggs ertränkt seine Trauer darüber im Alkohol, Hickey sucht die Versöhnung mit der Verflossenen. Ein neuer Auftrag kommt beiden sehr gelegen: Der homosexuelle Rice (Lester Fletcher) engagiert sie, um eine Frau ausfindig zu machen – eine Privatangelegenheit, wie er vorgibt. Doch die Privatdetektive bemerken bald, dass sie nicht die einzigen sind, die Interesse an der Dame haben. Kein Wunder: Sie ist im Besitz eines prall mit Geld aus einem Bankraub gefüllten Koffers, der eigentlich dem Gangsterboss Brill (Robert Mandan) gehört. Während sie in L.A. einen Abnehmer für die heiße Ware sucht, setzt Brill seine Killer auf sie und alle möglichen Interessenten an. Und Hickey und Boggs befinden sich mitten in der Schusslinie zwischen den Parteien …

Nach Sichtung dieses Films fragt man sich unweigerlich, wie viele Perlen des Crimefilms die Siebzigerjahre eigentlich noch bereithalten, wie viele Filme, von denen man vielleicht noch nie vorher gehört hat, darauf warten, geborgen zu werden. HICKEY & BOGGS war bei Erscheinen wahrscheinlich keine ganz kleine Nummer, vereinte er mit Cosby und Culp doch immerhin die beiden Stars der beliebten Fernsehserie I SPY erneut vor der Kamera. Cosby hatte zudem in der Zwischenzeit seine erste eigene Fernsehshow bekommen und war auf dem besten Weg, ein absoluter Superstar zu werden. HICKEY & BOGGS konnte leider weder bei den Kritikern noch an der Kinokasse großen Eindruck hinterlassen und geriet schnell in Vergessenheit. (In Deutschland, wo er unter dem Titel MAGNUM HEAT gelaufen war, wurde er erst 1988 auf Video veröffentlicht.) Heimlich, still und leise erlebte er im vergangenen Jahr seine „Wiedergeburt“ im DVD-Zeitalter über die On-Demand-Schiene von MGM als schmucklose Bare-Bones-DVD-R, immerhin aber in guter Qualität. Dabei ist HICKEY & BOGGS – wie etwa auch Peter Hyams‘ BUSTING, der ein ähnliches Schicksal erfahren hat – ein potenzieller Kultfilm, den man sich gut in einer schicken Collector’s Edition im Pappschuber, mit Booklet und zahlreichen Extras vorstellen kann. Wer auf den staubtrockenen Crimefilm der Siebzigerjahre steht, würde damit definitiv glücklich werden.

L.A. ist hier zwar sonnig, vor allem aber schmutzig und runtergekommen, die Sonne taucht alles in ein bleiches Licht. Hickey und Boggs hängen in schäbigen Bars rum, wenn sie nicht in ihrem deprimierenden Büro sitzen. Tagein, tagaus tragen sie denselben Anzug, Hickey kaut auf stinkigen Zigarren hrum, Boggs säuft Schnaps aus der Pulle. Zu ihren rar gesäten Aufträgen fahren sie mit einer maroden Rostlaube und um sich das Geld für die Parkuhr zu sparen, haben sie immer eine Papiertüte mit der Auschrift „Out of Order“ zur Hand. Der ganze Film hat etwas zutiefst Deprimierendes. Er zeigt eine Menschheit, die unter prekären Umständen lebt: Niemand ist glücklich und wenn doch, dann hat er garantiert Dreck am Stecken. HICKEY & BOGGS beginnt kongenial mit der gesuchten Frau, die – noch bevor man irgendeine Ahnung hat, worum es im Folgenden gehen wird – die Mutter Gottes um Hilfe anfleht: „Madre de dios, protect us all.“ Dieses Flehen um Hilfe für eine unbestimmten erste Person Plural wird den ganzen folgenden Film prägen, dessen Krimigeschichte zur existenziellen Parabel transzendiert wird. HICKEY & BOGGS ist ein Film über den Kampf des einfachen Bürgers, der sein Leben dafür riskieren muss, seinen Unterhalt zu bestreiten; jeder Versuch, etwas vom Kuchen abzubekommen, endet in Leid und Tod. Doch trotz dieser wenig optimistischen Weltsicht ist Culps Film niemals depressiv, zynisch oder resignativ. Da ist auch ein leiser, lakonischer Humor am Werk, der das Ganze erträglich macht. Und die Freundschaft der beiden Partner, die sich immer wieder gegenseitig aus der Scheiße ziehen. Jeder Tag ist ein Kampf, lass ihn uns angehen!

Die Kritik bemängelte damals nicht zuletzt Walter Hills Drehbuch: Es sei zu komplex und selbstzweckhaft überfrachtet, zu arm an Charakterzeichnungen. Vorwürfe, die sich meines Erachtens nach kaum aufrechterhalten lassen, denn es ist nicht zuletzt die Undurchsichtigkeit, die HICKEY & BOGGS seine Spannung verleiht – und zudem den Eindruck unterstreicht, dass alle blind für das große Ganze in der Welt umherirren. Stück für Stück und unter fast vollständigem Verzicht auf expositionelle Dialoge entfaltet sich das Ausmaß des Falles vor den Augen des Zuschauers, der den beiden Helden immer nur ein kleines Stück voraus ist. Seine Charaktere mögen nicht bis ins Detail ausgefeilt sein: Aber das ist auch nicht nötig, wir verstehen sie auch so. Auch Robert Culps Inszenierung lässt deutlich mehr Potenzial erkennen, als ihm zugestanden wurde: HICKEY & BOGGS blieb sein einziger Spielfilm. Er zeigt ein ungalublich gutes Auge für ausgefallene Bildkompositionen und hat großen Anteil daran, dass der Film nicht nur spannend ist, sondern auch emotional nachhallt. Doch natürlich steht und fällt ein solcher Film mit seinen Set Pieces: Das Geduldsspiel verschiedener Parteien mit verschiedenen Zielen, die sich an unterschiedlichen Treppenaufgängen im menschenleeren Stadion der LA Rams ist ein Höhepunkt von fast hitchcock’scher Qualität; der Shootout zum Finale reichlich bleihaltig – aber eben auch nicht ohne die menschliche Note, die uns das Morden überhaupt erst nahebringt. Das Liebespaar, das den großen Coup geplant hatte, um seinen armseligen Lebensumständen zu entkommen und dazu auch den Tod in Kauf nahm, verendet im Sand, sich umarmend. In Liebe vereint. Hickey und Boggs haben nur sich selbst. Aber immerhin.

bad lieutenant (abel ferrara, usa 1992)

Veröffentlicht: Februar 10, 2013 in Film
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Harvey Keitel nackt. Harvey Keitel koksend. Harvey Keitel Heroin rauchend. Harvey Keitel mit der Heroinspritze im Arm auf dem Klo, wegdösend. Harvey Keitel onanierend gegen ein Auto gelehnt, die minderjährigen Insassinnen beschimpfend und demütigend. Harvey Keitel stöhnend, wimmernd, weinend. Harvey Keitel, einer Jesus-Erscheinung die Füße küssend. Harvey Keitel, auf Darryl Strawberry hoffend. Harvey Keitel außer Rand und Band. Harvey Keitel ist nicht nur der bad cop, er ist der bad lieutenant.

BAD LIEUTENANT rollte damals mit der Macht einer Planierraupe über uns hinweg. Ich habe ihn wohl ein paar Jahre nach seinem Erscheinen gesehen, im Zuge des ersten Splatting-Image-Studiums und einer neuen, gesteigerten Filmbegeisterung. Als es plötzlich mehr gab, als das, was mir die TV Spielfilm als „Tip des Tages“ verkaufen wollte und auch die Videotheken immer mehr Lücken im Angebot offenbarten. Harvey Keitel war damals einer der Protagonisten dieser neuen Begeisterung, auch dank seiner Beteiligung an RESERVOIR DOGS und PULP FICTION (bei aller heute gängigen Häme gegenüber QT: Er war – zumindest für mich und den Kreis meiner ebenso filmbegeisterten Freunde – damals immens wichtig): Er gehörte zu einem Kreis von Darstellern und Filmemachern, die uns damals in ihren Bann zogen und ganz anders waren, als die Stars, die uns Hollywood verabreichte: älter, weiser, echter, mutiger. Auch Abel Ferrara, heute wieder weitestgehend in der Versenkung verschwunden, gelangte damals zu ungeahnter Bekanntheit. Und was war den beiden mit BAD LIEUTENANT für ein Film gelungen? Ein Monster.

BAD LIEUTENANT ist einer der großen Klassiker der Neunzigejahre. Es handelte sich nicht um einen Hollywood-Blockbuster, sondern um eine Indieproduktion, trotzdem hat er eine immense Berühmtheit erlangt, die sich nicht in Einspielergebnissen messen lässt. Was erstaunlich ist, denn Abel Ferrara hat alles andere als einen leichten Film gemacht – zumindest auf dem Papier. Die Geschichte des spiel- und drogensüchtigen Cops, der geradezu todessehnsüchtig Hab und Gut in Sportwetten einsetzt und mehr Schulden anhäuft, als er jemals wieder zurückzahlen können wird, schließlich in den Ermittlungen um die Vergewaltigung einer Nonne eine Jesuserscheinung hat und eine Gnade findet, die ihn läutert und sein unausweichliches Schicksal akzeptieren lässt, erzählt Ferrara mit pseudodokumentarischem Blick. Einen klar herausgearbeiteten Plot sucht man ebenso vergebens wie herkömmliche Charakterisierungen. Man wird als Zuschauer vor vollendete Tatsachen gestellt, mit dem Cop konfrontiert, der zu Beginn des Films schon kurz vor dem unausweichlichen Ende steht. Wie er der geworden ist, der er ist, interessiert Ferrara nicht weiter, genauso wenig wie die üblichen Methoden, dem Zuschauer einen ambivalenten Charakter sympathisch zu machen. Ferrara heftet sich an die Fersen seiner Titelfigur, überlässt ihr die Struktur, hält auch in seinen privatesten, peinlichsten und schmerzhaftesten Momenten noch gnadenlos drauf und enthält sich dabei jeglichen Kommentars. Er liefert ein Porträt des Exzesses, zeigt wie Drogen jeden Realitätssinn auflösen, einen Menschen nicht nur zerstören, sondern vielmehr seinen Drang zur  Selbstzerstörung fördern. Es ist Ironie des Schicksals, dass sich das Leben selbst gegen den bad lieutenant zu verschwören scheint. Als wolle es ihn nicht davonkommen lassen, sondern ihm die Chance geben, geläutert aus dem Leben zu scheiden. Ausgerechnet die Dodgers, der Verein, von dessen Umzug nach L.A. in den späten Fünfzigerjahren sich mancher Brooklynite bis heute nicht erholt hat, besiegeln seinen Untergang, indem sie in den Play-offs zur World Series nach drei gewonnenen Spielen das Kunststück fertigbringen, die folgenden vier zu verlieren. (Eine Erfindung des Films: Es gab nie eine Play-off-Paarung zwischen den beiden Vereinen.) Und es sagt natürlich auch einiges über diesen bad lieutenant, dass er gegen sein Hometeam wettet – auch dann noch, als ihr Triumph immer wahrscheinlicher wird. Jemand, der sich so sehr selbst hasst, kann im Leben kein Glück finden. Das sichert ihm unser Mitleid, auch wenn er sich wie ein Arschloch verhält.

Ich habe den Film gestern zum ersten Mal seit vielen Jahren wiedergesehen und was mich mehr als alles andere verblüfft hat: BAD LIEUTENANT ist keineswegs der harte, unerträgliche, hässliche Film, den ich in Erinnerung hatte. Na klar, die Szenen, die den namenlosen Titelhelden mit seiner Drogenfreundin beim Fixen zeigen, sind so unangenehm wie diese Szenen immer sind, wenn sie halbwegs ehrlich eingefangen werden; die erwähnte Onanierszene lädt zur Fremdscham ein und zeigt einen Mann auf dem absoluten Tiefpunkt. Aber in seinem Verzicht auf einen strengen Plot ist BAD LIEUTENANT auch von erstaunlicher Leichtigkeit. Er ist die krass unsentimentale Version eines Sommerfilms: Die Liveübertragungen der Endspiele zwischen den Dodgers und den Mets bilden den Hintergrund-Soundtrack zum Untergang des bad lieutenants. Die allgemeingültige Moritat um den crooked cop erhält mit diesem Hintergrund etwas sehr Konkretes, Spezifisches. Man spürt die Euphorie in der Stadt angesichts des immer greifbarer werdenden Triumphes. Und auch das Schicksal des bad lieutenants wird transzendiert im Kontrast zwischen seinem persönlichen Leid und dem Glück der New Yorker, die den Sieg ihrer Mannschaft feiern. Die Mahnfabel verwandelt sich von einer allgemeinen Bestandsaufnahme – meinetwegen zum Zustand des Polizeiwesens – in ein ganz individuelles Drama. Es macht den bad lieutenant menschlich, dass er nicht in der Lage ist, seinem Leben eine Wendung zu geben. Und sein von Beginn an absehbares Ende wirkt auf den Film zurück und belegt ihn mit dem Wissen, dass dieser Mann bald erlöst sein wird. Anders als so viele andere Filme, die ihren Helden nüchtern beim Untergang begleiten, hat dieser hier nichts Schmerzliches, er ist eine Befreiung. Der bad lieutenant hat seinen Weg gewählt, er geht sehenden Auges in den Tod – aber er bekommt kurz vor dem Ende noch einmal die Gelegenheit zu beweisen, dass er nicht bloß ein selbstherrlicher, drogenvernichtender, amoralischer Popanz ist, sondern ein Mensch. Und er nutzt sie. Auch der Zuschauer kann sich mit diesem Mann am Ende versöhnen.

BAD LIEUTENANT ist der schönste hässliche Film aller Zeiten.

Ein puertoricanischer Gangster wird vom Polizisten Mike Brennan (Nick Nolte) erschossen – in Notwehr wie der Polizist behauptet und mehrere Zeugen bestätigen. Der Staatsanwalt Al Reilly (Timothy Hutton), ein Anfänger, wird damit beauftragt die Ermittlungen zu leiten – und das vorgefertigte Urteil „Notwehr“ am Ende zu bestätigen. Doch Reilly stößt schnell auf Ungereimtheiten: Es sieht so aus, als habe Brennan den Gangster förmlich hingerichtet – doch auf wessen Auftrag? Er stößt bei seinen Nachforschungen nicht nur auf eine lange Geschichte der Korruption, sondern auch auf unter der Oberfläche schwelenden Rassismus. Kann er sich selbst davon freisprechen?

Mir fällt nicht wirklich etwas Schlaues zu Q&A ein – weshalb ich dann auch wieder einmal den ganz konservativen Einstieg mit Inhaltsangabe gewählt habe. Mit SERPICO und PRINCE OF THE CITY hat Lumet Klassiker des Polizeifilms geschaffen; Filme, die bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren haben und als definitive Statements zu Korruption im Polizeidienst gelten dürfen. Q&A hat dem nichts wesentlich Neues hinzuzufügen: Der Idealist Reilly stößt auf einen bis in die Mikrostruktur des Systems reichenden Filz, der sich auch dann nicht beseitigen lässt, wenn man ein paar Köpfe ihrer gerechten Strafe zuführt. Am Ende sind einige Sündenböcke geopfert worden, doch der politisch ambitionierte Chef des Morddezernats Quinn (Patrick O’Neal), ein Hardliner mit geheim gehaltener krimineller Vergangenheit, darf weiter im Amt bleiben. Mit gewohnt unprätentiösem Professionalismus erzählt Lumet diese Geschichte mit etwas weniger Konzentration, als ihr gut getan hätte. Die Ermittlungen – die der Titel ins Zentrum rückt – treten schnell zugunsten der Fokussierung auf die involvierten Gangsterbosse in den Hintergrund. Armand Assante gibt den Belastungszeugen Bobby Texador als schmierigen Verführer und beansprucht so etwas zu viel Aufmerksamkeit. Die Mafia mischt auch noch mit und tritt in den genretypischen Kleinkrieg mit dem Puertoricaner, inklusive konspirativer Treffen, Verrat und Auftragsmorden. Das alles verwässert den Film und wirkt im Jahr von GOOD FELLAS wie ein Zugeständnis an den Zeitgeist. Wenn man sich daran erinnert, was Lumet aus seinem Kammerspiel 12 ANGRY MAN herauszuholen wusste, der ahnt, dass die hier vollführten Handlungssprünge von New York nach Miami nach Puerto Rico und zurück nicht sein Steckenpferd sind.

Zu sich kommt der Film in den leisen Momenten. Im romantischen Subplot, sonst meist lästige Beigabe, tritt am klarsten hervor, worum es Lumet eigentlich geht. Während der Zeugenbefragungen trifft Reilly seine ehemalige Freundin, die Puertoricanerin Nancy (Jenny Lumet), wieder. Sie hatte ihn vor sechs Jahren ohne Nennung von Gründen verlassen, war von einem Tag auf den anderen aus seinem Leben verschwunden. Nun ist sie mit dem Gangster Bobby Texador liiert. Als Al sie, immer noch schwer verletzt von ihrer Trennung, konfrontiert, erfährt er, was sie damals dazu brachte, so abrupt aus seinem Leben zu verschwinden: es war sein Blick, als er feststellte, dass der Vater seiner Geliebten ein Schwarzer ist. Reilly muss akzeptieren, dass er sich von dem Allagsrassismus, den er in der Polizei am Werk sieht, selbst nicht frei machen kann. Die Probleme, auf die er in seinem Job stößt, haben ihren Ursprung in jedem einzelnen Individuum. Der Film schließt mit Reillys Voice-over. Er hat Nancy auf einer kleinen Karibikinsel ausfindig gemacht, auf die sie sich nach der Ermordung Bobbys zurückgezogen hat. Schweigend sitzen sie nebeneinander am Strand, schauen wortlos aufs Wasser. Solange, bis er selbst mit sich im Reinen, der Keim des Rassismus in seinem Innersten abgetötet ist. Es ist der stärkste Moment des Films. Schade, dass man 2 Stunden auf ihn warten muss.

2631A trip down memory lane. Zwar habe ich REMO WILLIAMS: THE ADVENTURE BEGINS jetzt zum ersten Mal gesehen – endlich, wie ich hinzufügen möchte –, aber der Film spielte dennoch eine gewisse Rolle in meiner Kindheit. In der Bravo, die ich damals regelmäßig las, wurde REMO – UNBEWAFFNET UND GEFÄHRLICH, wie er bei uns hieß, groß beworben, mit dem damals üblichen Film-Foto-Roman, der meine Fantasie immens beflügelte und mir jetzt das Gefühl vermittelte, einen guten, alten Bekannten wiederzutreffen. Der Film hat tatsächlich alles, was das Jungsherz höher schlagen lässt: einen kernigen Helden mit geheimer Mission und Lizenz zum Töten, einen koreanische Martial-Arts-Ausbilder, der Sprüche klopft, Kugeln ausweichen kann und allerhand weitere an Magie grenzende Tricks auf Lager hat, eine atemberaubende Actionsequenz auf der Statue of Liberty und teuflische Schurken. Mit Guy Hamilton nahm sich ein Mann dieses bunten Potpourris an, der mit den Bond-Filmen DIAMONDS ARE FOREVER, LIVE AND LET DIE und THE MAN WITH THE GOLDEN GUN seine Eignung sowohl für übermenschlich begabte Superhelden als auch für die grelle Mischung aus Acton und Komödie unter Beweis gestellt hatte. Alles in Butter also für die überfällige Sichtung?

Leider nicht. REMO WILLIAMS: THE ADVENTURE BEGINS ist definitiv hübsch und liebenswert, sammelt mit seiner Verbindung von Selbstjustiz-Action, Superheldencomic und Agentenfilm Sympathiepunkte. Fred Ward in einer Hauptrolle zu sehen, ist immer ein Vergnügen und so hat man kaum eine andere Wahl als auch REMO WILLIAMS: THE ADVENTURE BEGINS in sein Herz zu schließen, selbst wenn das, was Hamilton aus dem vorliegenden Potenzial gemacht hat, eigentlich eher ernüchternd ist. Man muss den Film am besten mit einem zugekniffenen Auge schauen und die vielen offenkundigen Schwächen in der eigenen Fantasie überlagern, um den Film zu sehen, den man sich erhofft hatte. Das größte Problem ist seine Anlage als Auftakt zu einer Reihe, die es dann leider nie gegeben hat. Sein Versagen erinnert an zahlreiche Superhelden-Comicverfilmungen der letzten Jahre, die erst die eigentlich bekannte Origin-Story ihres Protagonisten abarbeiten mussten und denen dann der Atem für einen dringend benötigten Konflikt fehlte. Auch Hamilton lässt sich viel Zeit Remos Ausbildung zu einem Martial-Arts-Meister zu beleuchten, versäumt es aber, einen griffigen Schurkenplot aufzubauen, in dem sich sein Held dann beweisen kann. Die einzelnen Elemente des Films kommen nie so ganz zusammen, alles bleibt letzten Endes irgendwie oberflächlich. Der ganze Film ist ein Versprechen, dessen Einlösung dann leider nicht mehr zustande kam. All das, was Remo von seinem Meister beigebracht wird, kommt kaum zum Einsatz und das Finale lässt trotz einiger Schauwerte seltsam kalt. REMO WILLIAMS: THE ADVENTURE BEGINS sollte vor Leben überschäumen, aber er bleibt seltsam leer.

Schade, wie gesagt, denn auf dem Papier ist das ein Gewinner – und es ist ja auch nicht so, dass er nicht seine Momente hat. Ich bin mir sicher, dass die Figur des Remo Williams und die Organisation, die sich seiner Dienste bedient, für zukünftige Filme interessanten Stoff geboten hätte. Man erahnt die sich anbahnenden Probleme des Mannes, der von zwei selbstherrlichen alten Männern gezwungen wird, seine Leben für die Sicherheit seines Landes zu riskieren. REMO WILLIAMS: THE ADVENTURE BEGINS ist auch deshalb so verführerisch, weil er diese staatliche Grausamkeit in das Gewand eines Popcorn-Films kleidet. Hamilton reflektiert das überhaupt nicht, fällt ganz auf den Reiz des heroischen Elitesoldaten herein, zeichnet sein Leben als buntes Abenteuer, ohne zu erkennen, das hier ein Ansatz für scharfe Ideologiekritik liegt. Leder kam es ja nicht dazu. Hätte man nur ein bisschen mehr gezeigt, was diesen Remo auszeichnet, was ihn  von andere Superhelden abhebt, was sein Kampf ist, anstatt all das auf ein mögliches Sequel zu verlegen, sich damit zu begnügen, ihn gegen eine völlig persönlichkeistarmen Gegner antreten zu lassen, der Held wider Willen hätte seine zweite Chance möglicherweise bekommen. So blieb es bei dem gescheiterten Versuch, der einen mit einer Träne im Knopfloch zurücklässt.

Um es mal ganz direkt zu formulieren: Wer Stallone als einen reinen Actiondarsteller bezeichnet, hat keine Ahnung. Im Gegensatz zu Kollegen wie Chuck Norris, Jean Claude Van Damme, Steven Seagal oder Arnold Schwarzenegger war Sly kein Quereinsteiger, sondern gelernter Schauspieler. Und wer weiß, wie seine Karriere verlaufen wäre, wenn dieser Film des Oscarpreisträgers Norman Jewisons mehr Erfolg beschieden gewesen wäre. Unmittelbar nach Stallones Durchbruch mit ROCKY hätte F.I.S.T. – ein hoch ambitionierter, epischer Film, der die komplexe Beziehung der USA zum organisierten Verbrechen thematisiert, ähnlich wie das zuvor etwa Coppola mit THE GODFATHER getan hatte oder später De Palma mit SCARFACE tun sollte – seinem Hauptdarsteller zu jenem Maß an Respektabilität verhelfen können, das ihm von Vielen bis heute versagt geblieben ist. Leider war Jewisons Film ebenso ein finanzieller Fehlschlag wie Stallones zahlreiche andere Versuche, sein Spektrum zu erweitern. An seinen Leistungen hat es dabei meist eher nicht gelegen. Stallone mag limitiert sein, aber in „seinen“ Rollen war er immer überzeugend. Das gilt auch für F.I.S.T.

Die USA in der Depression: Arbeiter sind bessere Sklaven, werden schlecht bezahlt, leisten Überstunden ohne Entgelt, sind nicht krankenversichert und können aus einer Laune heraus fristlos gekündigt werden. Johnny Kovak (Sylvester Stallone) geht die Willkür seines Vorgesetzten gegen den Strich: Er zettelt eine Meuterei an und erwirkt schließlich bessere Bedingungen für sich und seine Kollegen. Die Ernüchterung, als sie am Morgen nach dem vermeintlcihen Triumph gemeinsam vor verschlossenen Türen stehen und erfahren, dass sie ihren Job verloren haben, ist groß. Doch Johnnys Auftritt hat Eindruck auf den Gewerkschaftsmann Mike Monahan gemacht. Er bietet ihm und seinem Freund Abe (David Huffman) einen Job an. Ihre Aufgabe ist es, Mitglieder für F.I.S.T. – die „Federation of Interstate Truckers“ – zu gewinnen. Johnnys offenherzige Art und seine Wurzeln im Arbeitermilieu verhelfen ihm zu hervorragenden Quoten und der Gewerkschaft somit zu einem rasanten Mitgliederzuwachs. Doch ihrer Macht sind dennoch Grenzen gesetzt, wie sie während eines Streiks erfahren müssen, der blutig niedergeknüppelt wird. Johnny holt sich den Mob zur Hilfe – nicht ahnend, dass er die gute Sache damit nachhaltig schädigt und außerdem den Grundstein für den eigenen Niedergang legt …

F.I.S.T. orientiert sich am Werdegang Jimmy Hoffas, der vom Arbeiter zum Präsident der Gewerkschaft „Teamsters“ aufstieg und 1975 auf mysteriöse Weise verschwand. Jewison hält sich – sofern ich das nach dem Kurzstudium des Wikipedia-Eintrags zu Hoffa beurteilen kann – relativ eng an dessen Geschichte. Mehr als an einem minutiös recherchierten Biopic ist er aber am Sündenfall der Arbeiterbewegung interessiert, der ein wichtiges Mosaiksteinchen zum Verständnis der Geschichte der USA und des modernen Kapitalismus generell liefert. Kovak und seine Leute stehen vor dem Problem, nicht genug „push“ zu haben, wie es im Film so schön heißt. Menschen, die Arbeit brauchen, gibt es genug. Und um ihre Familien zu ernähren, sind sie auch bereit, unter prekären Bedingungen zu arbeiten. Selbst wenn sie also im Streik die Arbeit niederlegen, sitzen die Firmeninhaber am längeren Hebel. Die Lösung verspricht der Gangster Vince Doyle (Kevin Conway): Gegen einen kleinen Gefallen stellt er Johnny die Schläger des Mobs zur Verfügung. Die Rechnung geht auf, die neue Macht ist zunächst ungemein verlockend, doch in der Folge sieht sich die Gewerkschaft immer neuen Verpflichtungen gegenüber und zu weiteren „Gefälligkeiten“ gezwungen. Die Organisation, die sich für die Interessen und Rechte der Arbeiter einsetzen wollte, degeneriert zu einem Geschäftsarm des organisierten Verbrechens. Es dauert nicht lang, bis sich die Justiz in Vertretung des Senators Madison (Rod Steiger) beginnt, für die Machenschaften von F.I.S.T. zu interessieren – und Johnny begreift, dass die Verbindung zur Mafia nicht einseitig aufkündbar ist.

F.I.S.T. erzählt zunächst vom Aufstieg des ehrlichen Johnny Kovak zu einem charismatischen Anführer – eine Paraderolle für Stallone. Sein Johnny hat das Herz auf dem rechten Fleck, mit seiner direkten, oft derben Art kommt er bei den Arbeitern in demselben Maße an, wie er die reichen Firmenbosse reizt und verprellt. Die gewonnene Macht begeistert ihn und macht ihn auch ein Stück blind für den verhängnisvollen Weg, den er einschlägt, als er eine Partnerschaft mit Babe Milano (Tony Lo Bianco) eingeht. Es ist schließlich alles für die gute Sache. Aber der Zweck heiligt die Mittel eben nicht. Jewison macht ungefähr zur Halbzeitmarke einen großen Sprung über mehrere Jahrzehnte: Aus dem kleinen, ehrgeizigen und kämpferischen Gewerkschafter ist ein abgebrühter Geschäftsmann geworden, der weniger von einem Wunsch getrieben wird, als vielmehr eine Rolle ausfüllt. Es spricht für seine Macht, dass er in zähen Tarifverhandlungen schließlich die eigene Forderung durchbringt – er hat nun jenen „push“, der ihm zu Beginn fehlte –, aber die Art und Weise, wie er das tut, ist ernüchternd: Kovak kämpft nicht mehr, er sitzt aus, wissend, dass nun er die besseren Karten in der Hand hält. Aufgepumpt unter feinen Oberhemden, dekadent an fetten Zigarre saugend, ist er zum Ebenbild jener Menschen geworden, die er zu Beginn seiner Laufbahn mit unverhohlener Beachtung taxierte. Doch seine Macht ist endlich. Und für Leute wie Milano, die hinter ihrem freundlichen Lächeln ein Haifischgebiss verbergen, ist er nur ein kleines Licht. In der zweiten Hälfte stößt auch Stallone an seine Grenzen, aber das ist es schließlich auch, was Kovaks Sturz besiegelt: Er ist in Sphären vorgedrungen, in denen er sich nicht auskennt, in denen er nicht zu Hause ist. Die Mafia macht Geschäfte mit ihm, aber sie betrachtet ihn nicht als einen der Ihren. Er ist immer noch der Sohn ungarischer Einwanderer, der sein Geld mit dem Beladen von LKWs verdiente. Er lebt von der Gnade Milanos. Und Stallone gibt diesem „fish out of water“ ein Gesicht.

Ich habe Jewisons Film zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren wiedergesehen. Erstaunlicherweise hatte ich ihn zu einer Zeit entdeckt, als ich ihn noch gar nicht wirklich verstehen konnte: Meine Begeisterung für Stallone war wohl die Ursache. Aber die erste Hälfte des Films nimmt einen tatsächlich sehr direkt in Beschlag. Die Bilder brauner Industrielandschaften, des tristen Arbeiteralltags, der Kämpfe um die Existenz, die sich im Malochen und dem Trinken von waschwasserartigem Bier am Abend erschöpft, haben etwas ungemein Einnehmendes. Stallone zieht einen sofort auf seine Seite. So, wie er die Arbeiter packt, packt er auch mich vor dem Bildschirm. Und es ist schmerzhaft diesem eigentlich doch herzensguten Kerl dabei zusehen zu müssen, wie es ihm nicht gelingt, auf den richtigen Weg zurückzukehren, nachdem er einmal falsch abgebogen ist. Das ist die schmerzhafteste Erkenntnis des Films: Manche Fehler lassen sich tatsächlich nicht mehr wiedergutmachen. Und das gilt zum Glück nur für Kovak, nicht für Stallone. Im Jahr darauf kehrte er mit ROCKY II zurück auf bekanntes Terrain. F.I.S.T. ist der bessere Film, aber das wissen leider nicht so viele Menschen.