Um TO KILL A MOCKINGBIRD tanze ich schon seit Jahren herum. Als Hollywood-Klassiker war mir Mulligans Film natürlich ein Begriff, doch hatte ich ihn immer als etwas angestaubtes Stück moralisierendes Message-Kino einsortiert und beiseitegeshoben. Mit Mitteln des Unterhaltungskinos gegen Rassismus und für Gleichberechtigung und Toleranz zu werden, ist zwar löblich, zumal im Jahr 1962, als Afroamerikaner in den USA wegen ihrer Hautfarbe immer noch offen diskriminiert oder sogar umgebracht wurden, aber heute dann vielleicht nicht mehr ganz so tragfähig. Außerdem habe ich immer Probleme mit Filmen, die so offen eine Agenda verfolgen. Film als Sozialkundeunterricht, dafür bin ich irgendwie zu alt (und zu asozial). Und mir liegt Film als Kunstform zu sehr am Herz, um ihn solchermaßen instrumentalisiert sehen zu wollen. Wie gut, dass TO KILL A MOCKINGBIRD nur ganz am Rande politisches Erbauungskino ist, sondern eine sehr eigenständige, geradezu märchenhafte Auseinandersetzung mit der Rassenthematik bietet und darüber hinaus noch sehr viel mehr.
TO KILL A MOCKINGBIRD ist vor allem die Geschichte zweier Kinder, Jem (Philip Atford) und Scout (Mary Badham), die in der Zeit der Depression in den frühen Dreißigerjahren in einem Südstaatenkaff aufwachsen. Ihre Mutter ist tot, ihr Vater, der Anwalt Atticus Finch (Gregory Peck), bemüht sich erfolgreich, sie liebevoll zu verantwortungsbewussten Menschen zu erziehen. Viel Zeit verwendet Regisseur Mulligan darauf, die Stimmung in dem kleinen Städtchen zu zeichnen. Die Sommertage sind heiß und lang und voller Abenteuer. Das verrammelte Nachbarhaus von Boo Radley, über den sich die Kinder zahlreiche Gruselgeschichten erzählt, ist Quelle der Fantasie und Zentrum von kleinen Mutproben, mit denen sich die Kinder die Zeit vertreiben. Lange Zeit mäandert der Film anscheinend ebenso ziellos umher wie Jem und Scout, die noch keine Pflichten kennen und sich durch ihre Ferientage treiben lassen, spontanen Eingebungen folgen, immer ganz im Augenblick gefangen. Und obwohl er die Perspektive der Kinder dabei niemals verlässt, entwirft er quasi im Vorbeigehen ein sehr genaues Porträt jener Zeit.
Der eigentliche Plot ist beinahe eine Fußnote: Die junge Mayella Ewell (Collin Wilcox Paxton) wurde misshandelt und ihr Vater (James Anderson) hat den Schuldigen schnell parat. Es handelt sich um den Schwarzen Tom Anderson (Brock Peters), einen einfachen Arbeiter, dessen Gutmütigkeit brutal ausgenutzt wird. Weil er die Avancen Mayellas abweist, werden die Schläge, die sie von ihrem Vater dafür einsteckt, sich mit einem „Neger“ abgegeben zu haben, ihm zulasten gelegt. Atticus steht als Verteidiger des Angeklagten auf verlorenem Posten. Die Kleinstadtwelt ist noch nicht bereit dazu, einen Schwarzen freizusprechen, wenn das bedeutet, die Schuld einem Weißen zuzuschieben. Jem und Scout beobachten diesen Prozess, der nur eine Episode ihres Sommers ist (genauer gesagt handelt es sich um zwei Sommer, aber das nur am Rande), mit Neugier und Spannung. Es ist klar, dass der Kampf ihres Vaters sie prägen, ihnen vermitteln wird, dass die Menschen gleichberechtigt sind, sie sich durch ihre Taten definieren und nicht durch ihre Hautfarbe. Diese abstrakte Lehre lernen sie aber noch auf eine andere, konkretere Weise. Denn nach dem Prozess ist TO KILL A MOCKINGBIRD ja noch nicht zu Ende: Ihnen kommt jemand zur Hilfe, vor dem sie sich bisher immer gefürchtet haben, und beweist ihnen damit endgültig, dass die Wahrheit vom Anschein manchesmal überdeckt wird. Es lohnt sich, hinter die Fassade zu schauen und sich nicht zu vorschnellen Urteilen hinreißen zu lassen.
TO KILL A MOCKINGBIRD verdankt seinen Titel einer Erklärung von Atticus, der davon erzählt, wie er als Kind auf Vögel geschossen hat. Sein Vater hatte ihm eingebläut, dass man nur auf bestimmte Vögel schießen darf, keinesfalls auf Singvögel, deren Gesang den Menschen erfreuen soll. Die Anwendung des Titels auf den Film ist vielleicht sein einziger Schwachpunkt, weil er ein schiefes Bild bemüht. Die getöteten Singvögel, das sind in diesem Bild die guten Menschen, die zu Unrecht beschuldigt werden, während die eigentlichen Schädlinge davonkommen. Ansonsten ist Mulligans Film makellos: Die Hitze, die Trägheit, die schwelende Aggression in jenen Sommertagen in der Depression macht er eindrucksvoll greifbar. TO KILL A MOCKINGBIRD ist ungemein dicht und lebendig, reich an Eindrücken und Stimmungen, mehr als an Plot. Fast meint man, die aufgehitzte Kleinstadtluft riechen zu können – das derzeit vorherrschende Wetter hat sicherlich zur erfolgreichen Horizontverschmelzung beigetragen. Auch wenn sein Thema nicht mehr von brennender Aktualität sein mag, er seine Zeit kaum leugnen kann (seine Dialoge, deren arglose Verwendung des Wortes „Neger“ in der deutschen Synchro manchmal geradezu aufschrecken lässt, sind deutlich angestaubt), ist er dennoch erstaunlich gut gealtert, eben weil er eher auf sinnliche Erahrungen denn auf Themen fokussiert. TO KILL A MOCKINGBIRD ist gewiss einer der besten Filme mit kindlichen Protagonisten, ungemein warm und weise, ohne dabei jemals altklug oder geschwätzig rüberzukommen. Und er bewahrt ein gewisses Mysterium in seinem Kern. Ich bin mir sicher, dass Steven Spielberg, Joe Dante oder auch Rob Reiner sich diesen Film sehr oft sehr genau angeschaut haben.
Lustig, dass wir in der ersten Hälfte ähnliche Einstiege gefunden haben (auch ich erwähne bei mir zuerst, dass ich den Film lange vor mir herschob, um dann zu merken, dass er zuvorderst von zwei Kindern handelt).