Anne (Jeanne Goupil) und Lore (Catherine Wagener) stecken beide mitten in der Pubertät, kommen aus wohlhabendem Hause und werden in einer katholischen Klosterschule erzogen. In ihrer gemeinsamen Abneigung gegen die lustfeindliche, bigotte Umgebung und ihrer Faszination für alles, was dort als „böse“ und sündhaft angesehen wird, sind sie bald unzertrennlich. Mit Beginn der Sommerferien richten sich beide ein kleines Zuhause im riesigen Anwesen von Annes Eltern ein, necken den tumben Bauerssohn mit ihren erblühenden weiblichen Reizen, zünden Heuhaufen an, töten die Vögel des geistig zurückgebliebenen Gärtners und vermählen sich schließlich in einem blasphemischen Ritual, bei dem sie Satan ewige Treue schwören. Doch ihre lange Zeit noch als spielerische Grenzüberschreitung zu entschuldigenden Taten erreiche eine neue, verbrecherische Qualität, als sie einen mit dem Auto im Niemandsland gestrandeten Geschäftsmann in ihr gemeinsames Haus einladen und damit beginnen, ihn zu becircen. Kurz nachdem er über Lore hergefallen ist, liegt er mit einem eingeschlagenen Schädel tot auf dem Boden …
Man kann sich gut vorstellen, wie diese Geschichte in einem sozialkritischen, pädagogisch wertvollen deutschen Fernsehfilm oder einem amerikanischen Thriller behandelt würde. Viel Energie und Zeit würde dann darauf verwendet werden, das gesellschaftliche Umfeld der beiden Mädchen zu konturieren, zu zeigen, wie beide von ihren Erziehungsberechtigten vernachlässigt und missverstanden werden, wie die Eltern so in ihre eigenen Interessen und ihre Karriere vertieft sind, dass sie darüber vergessen, ihren Kindern Zuneigung und Wärme zu spenden. Es würde kein Zweifel daran gelassen werden, dass Anne und Lore zwei gute Mädchen sind, die lediglich durch den Mangel an Liebe und Verständnis – und vielleicht durch falsche Freunde – auf die schiefe Bahn geraten, die zunehmend abschüssiger wird, bis ihr Fall nicht mehr zu bremsen ist. Diese Filme wären wahrscheinlich im Stile des sozialen Realismus (wie er etwa aus dem britischen Kino bekannt ist) gehalten, dialoglastig, ungekünstelt, nüchtern und sachlich. Sie endeten mit der Botschaft, dass wir Verantwortung für unsere Kinder haben, dass sie zu Verbrechern werden, wenn wir uns nicht um sie kümmern.
Joël Séria geht glücklicherweise einen ganz anderen Weg, macht seinen Punkt dadurch aber noch deutlicher klar und legt vor allem einen zauberhaften, wunderschönen, aber auch provokanten Film vor, ein kleines schwarz funkelndes Juwel des ungewöhnlichen europäischen Kinos, statt eines lehrreichen, betroffen machenden Stücks verfilmter Sozialpädagogik. Was MAINS NE NOUS DÉLIVRE PAS DU MAL am meisten von einem solchen abhebt, ist die Tatsache, dass er seine beiden Protagonistinnen weder als tragische Opfer noch als schlecht erzogene Monster zeichnet: In einer fürchterlich perspektivlosen Welt, in der es lediglich unterleibsamputierte Geistliche, einfältige Bauern und fantasielose Bürgerliche gibt, sind sie die einzigen, die leben, fühlen, genießen und kreativ sind. Bis zum Schluss lassen sich ihre Handlungen eigentlich allesamt als Resultate eines ungezügelten jugendlichen Überschwangs verzeihen. Ihr liebäugeln mit „Satan“ ist ja keinesfalls ernstzunehmen, sondern lediglich einem gewissen infantilen Pathos geschuldet, dem Bedürfnis, das eigene geordnete Leben mit etwas Drama aufzupeppen. Dass sie diesen Weg wählen, liegt vor allem darin begründet, dass sie ständig mit Konzepten von Gut und Böse und Begriffen wie „Sünde“ konfrontiert sind, gegen die sie im Laufe der Zeit einen nur zu verständlichen Widerwillen entwickeln. Was verboten wird, wird interessant.
Aber all das erzählt Séria eher beiläufig. MAINS NE NOUS DÉLIVRE PAS DU MAL ist in erster Linie das bewegende und, ja, durchaus fröhliche Porträt einer Jugendfreundschaft und eines ereignisreichen, magischen Sommers. Man stelle sich vor, Rollin drehe einen seiner Mädchenfreundschafts-Filme und verzichtete dabei auf die Übersinnlichkeit und die Über-Sinnlichkeit. Es wird nicht viel geredet und wenn, dann geht es fast nie darum, irgendwelche Informationen zu vermitteln, sondern darum, in die Vorstellungswelt dieser beiden Mädchen einzudringen, an ihren Fantasien und Träumen teilzuhaben. Der Film folgt gewissermaßen einer Eskalationsdramaturgie, aber über weite Strecken ist er nicht daran interessiert, wie sich die einzelne Sequenz in den großen Gesamtentwurf einfügt, welche Sprosse sie auf der Leiter zum Ziel ist, sondern lediglich daran, den Moment zum Klingen zu bringen. Wie nur wenige fängt er die Stimmung eines jugendlichen Ferientages ein, an dem die Zeit stehengeblieben scheint, die Zukunft unendlich weit entfernt ist, und man nichts anderes tut, als die Sonne aufzusaugen und sich treiben zu lassen. Obwohl MAINS NE NOUS DÉLIVRE PAS DU MAL von einer Reise in die Nacht erzählt, verharrt er lange schwerelos im Stillstand – und hätte von mir aus ewig weitererzählen können, wie Anne und Lore ihre Tage miteinander verbringen, mit dem Fahrrad über Wiesen und Felder fahren, dann und wann einen Bauern mit einem Blick unter ihren Rock reizen – noch nicht einmal dieser eine Übergriff entfaltet so etwas wie Schicksalsschwere – und sich abends Schundromane vorlesen. Aber bekanntlich hält nichts ewig, und in dieser Welt, die Kinder am liebsten einpferchen möchte, schon gar nicht. Wenn Anne anfängt zu weinen, nachdem sie einen kleinen Vogel in ihrer Hand zerquetscht hat, dann scheint das mindestens ebenso sehr der Erkenntnis geschuldet, dass dieser – ihr letzter – Sommer bald zu Ende sein wird, wie der Tat selbst.
Die Darstellerin der Anna, Jeanne Goupil, ist das I-Tüpfelchen auf einem nahezu perfekten Film, ihre Darbietung ein Glücksfall, wie er alle Jubeljahre mal zu bewundern ist. Ihr Spektrum ist immens und ihr Charakter ist das Herz, das im Zentrum des Mysteriums von MAINS NE NOUS DÉLIVRE PAS DU MAL schlägt. Im einen Moment kindlich, unschuldig und naiv, im nächsten verschlagen, altersweise und undurchsichtig, zieht sie alle Aufmerksamkeit auf sich, und verkörpert mit dieser Vielseitigkeit ein Werk, das in jeder Sekunde alles und gleichzeitig das Gegenteil davon bedeutet.