Nachdem er acht Jahre zu Unrecht wegen Totschlags seiner Geliebten eingesessen hat, wird Hannes Teversen (Curd Jürgens) aus der Haft entlassen. Draußen muss sich der ehemalige Kapitän und Reedereibesitzer erst einmal wieder zurechtfinden. Seinen Beruf kann er wegen seiner Vorstrafe nicht mehr ausüben, das Geld ist knapp, seine einstige Heimat St. Pauli hat sich schwer verändert: Jugendliche Rockerbanden überziehen die Stadt mit einer Serie von Einbruchsdiebstählen und brutalen Raubüberfällen, Schlägertrupps erpressen arglose Geschäftsmänner zur Schutzgeldzahlung. Bei seinem alten Freund Pitter (Heinz Reincke) und dessen Schwester Martha (Heidi Kabel) findet Hannes Unterkunft. Pitter betreibt ein marodes Hippodrom und wird ebenfalls von den Schlägern bedroht, seine Tochter Antje (Jutta D’Arcy) ist mit dem jungen Bäcker Karl (Klaus-Hagen Latwesen) liiert, der jedoch auf die schiefe Bahn und in den Dunstkreis der Rockerbande gerät. Bei Hannes reift der Entschluss, gegen die Leute vorzugehen, die ihn einst durch Falschaussagen in den Knast brachten: Lauritz (Fritz Tillmann), sein einstiger Geschäftspartner und außerdem Ehemann der Toten, sowie einige weitere alte Kollegen, die, wie Hannes bald herausfindet, sowohl hinter den Schutzgelderpressungen als auch hinter den Überfällen stecken …
Olsen verleiht der Neuverfilmung des Hans-Albers-Klassikers von 1954 einen der damaligen Mode entsprechenden, deutlich exploitativeren Anstrich, mit Rockern, Drogenhandel, Mord und Totschlag sowie einer dezenten Prise Erotik. Wer seinen ein Jahr zuvor gestarteten St.-Pauli-Zyklus kennt – die anderen Titel lauten DER ARZT VON ST. PAULI, DAS STUNDENHOTEL VON ST. PAULI, DER PFARRER VON ST. PAULI sowie KÄPT’N RAUHBEIN AUS ST. PAULI –, der weiß, was er hier erwarten darf und wird kaum enttäuscht werden. Im Zentrum von AUF DER REEPERBAHN NACHTS UM HALB EINS steht „der normannische Kleiderschrank“ Curd Jürgens, um den das restliche Personal samt dazugehöriger Subplots kreist wie kleine Planeten um die Sonne oder die Kinderlein um die dicke Mama. Der immense Reiz von Olsens St.-Pauli-Filmen entspringt der Verbindung dieser beiden Elemente: Auf der einen Seite die kolportagehaften Geschichtchen um kleine und große Gauner, ehrliche kleine Leute und schöne Mädchen, von Olsen schwungvoll inszeniert und mit der Verve und dem Anspruch eines Groschenromans erzählt, auf der anderen der große Curd Jürgens, der seine Rollen mit dem ihm eigenen heiligen Ernst und der völligen Unfähigkeit zur Mäßigung oder ironischen Selbstdistanz interpretiert, ganz so, als seien diese Filme sein persönliches Vermächtnis für die Nachwelt. Über allem leuchtet die Hafenkulisse St. Paulis und natürlich der Reeperbahn mit ihren unzähligen Versuchungen, verleiht den Filmen ihr unnachahmliches Lokalkolorit und ihre lebendige Atmosphäre. Das ist bestes bundesdeutsches Entertainment, saft- und kraftvoll, das die ganze emotionale Palette abdeckt, große Bilder und Charaktere aufbietet und die Herzen von Zeitgenossen wie Zu-spät-Geborenen gleichermaßen mit bleischwerer Nostalgie erfüllt.
Aber ich komme nicht drum herum, AUF DER REEPERBAHN NACHTS UM HALB EINS wäre ohne seinen Star nur die Hälfte wert, ohne Olsens Leistung damit schmälern zu wollen. Jürgens war ein absoluter Superstar, einer der wenigen deutschen Weltstars und brachte neben seiner unbestreitbaren körperlichen Präsenz und seinem Schauspieltalent eben auch eine überbordende Persönlichkeit mit, die von seinen Rollen nicht zu trennen war. Sein wahrscheinlich sowieso schon nicht gerade kleines Ego wurde durch seine Erfolge noch weiter aufgeblasen und damit wuchs auch sein Mitteilungsbedürfnis: Jürgens versuchte sich als Sänger und Schriftsteller und entwickelte als Schauspieler die Angewohnheit, stets 120 % zu geben, auch wenn 80 % gereicht hätten. Dieser Übermut spiegelte sich auch in seinem Lebenswandel: Jürgens pflegte seinen Ruf als Lebemann, der schönen Frauen genauso wenig widerstehen konnte wie einem guten Schlückchen und anderen weltlichen Genüssen. Laut Wikipedia antwortete er auf die Frage, wie viele Flaschen Whiskey er trinke: „Ich glaube, das ist höchstens eine am Tag.“ Ich meine, in dieser Antwort steckt auch etwas von dem, was sein Spiel für mich so faszinierend macht: Ich sehe darin eine Art kindlicher Unbedarftheit und Naivität, die Abwesenheit jeglichen Kalküls oder auch nur des Bewusstseins für äußere Realitäten. Er bezahlte diese Unbedarftheit mit seiner Gesundheit – seiner ersten Herzoperation 1967 folgten bis zu seinem Tod an Multiorganversagen 1982 im Alter von nicht ganz 67 Jahren etliche weitere –, hatte ihr aber eben auch die Befähigung zu verdanken, Filme wie AUF DER REEPERBAHN NACHTS UM HALB EINS mit einem commitment anzugehen, als spiele er um das Bundesverdienstkreuz: Sein stahlblauer Blick schweift immer wieder pathetisch in die Ferne, es gefällt ihm, seinen tiefen Bariton anheben und schwellen zu lassen, ihn dann wieder zu einem introvertiert-nachdenklichen Säuseln zu schrumpfen, und manchmal erwartet man, dass er anfängt, seine Dialogzeilen zu singen. Dann wieder scheint er völlig abgekapselt vom Film um ihn herum, starrt aus regungsloser Miene ins Nichts, als habe der Weltschmerz Teversens Besitz von ihm ergriffen, als habe er vergessen, dass er Jürgens und eben nicht Teversen ist. Das Parallelwelt-St.-Pauli, das Olsen zeichnet, diesen Ort, an dem (fast) alle Menschen ehrliche Häute sind, bedacht darauf, mit einem Lachen durch den Tag zu kommen, und wo es nichts Schöneres gibt, als sich mit einem echten Kameraden Bier und Rum auf die Leber zu gießen und sich in einer zünftigen Keilerei seiner Kraft zu versichern, nimmt Jürgens für bare Münze und verkauft es dem Zuschauer als Realität. Und in der sich anbahnenden Liebe zu der gerade 20-Jährigen Antje, die sich später als seine Tochter herausstellt, entwickelt er eine Überzeugungskraft, die erahnen lässt, welche raubtierhaften Qualitäten Jürgens im echten Leben bei den Frauen entwickelt haben könnte. Es ist schon mehr als nur ein bisschen unheimlich, wie er seinen ganzen priesterlich-onkelhaften Charme aufbietet, um das Mädchen langsam mürbe zu machen, den sabbernden Lustgreis hinter der “ Miene eines antizölibatären Kardinals“ versteckt. Sehr schön auch, wie er Teversen einmal behaupten lässt, er sei „fast mehr als doppelt so alt wie Antje“: Eine Zeile, mit der der 54-jährige Jürgens seine Eitelkeit pflegte und sich schlappe 14 Jahre jünger machte als er tatsächlich war. (Und überhaupt: Wie bizarr ist diese Satzkonstruktion „fast mehr als doppelt so alt“ eigentlich? Darin entbirgt sich die ganze Schizophrenie von Jürgens, der auf der einen Seite eine gewisse Altersweisheit und Väterlichkeit pflegte, das dafür erforderliche Alter dann aber doch nicht so recht eingestehen wollte.)
Den absoluten Gipfel des Jürgens’schen Sleaze erreicht der Film aber nach ca. zwei Dritteln der Laufzeit, in einer unbeschreiblichen Montage-Sequenz, in der sich AUF DER REEPERBAHN NACHTS UM HALB EINS in den Olymp der deutschen Psychotronik hineinhalluziniert. Teversen und Pitter beschließen, mal so richtig einen draufzumachen, weil es bekanntlich nichts Schöneres gibt, als sich einmal die Reeperbahn rauf- und wieder runterzusaufen. Untermalt von ihrem zunehmend unkontrollierter und ekstatischer werdenden Gesang (beide intonieren sowohl „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ als auch „Eine Nacht in St. Pauli“) ziehen sie in videoclipartiger (und damit gewissermaßen authentifizierender) Inszenierung durch verschiedene Etablissements, die anwesenden Gäste mit ihrer entfesselten Laune unweigerlich mitreißend – ob diese nun wollen oder nicht. Letzteres scheint vor allem auf die beiden jungen Mädchen zuzutreffen, die sich in den Armen der beiden Männer wiederfinden und die Jürgens wahrscheinlich selbst handverlesen hat. Während ihm die blutunterlaufenen, wässrigen Augen fast aus den Höhlen treten, er völlig selbstvergessen in den Raum grölt und sie nicht aus seinen starken Armen lässt, schauen die beiden Mädels sichtlich beunruhigt, so als fragten sie sich, in was für eine Nummer sie denn nun hineingeraten sind. Man kann sich angesichts der Bilder sehr gut vorstellen, wie Jürgens bei den Dreharbeiten die Pferde komplett durchgegangen sind und er, vom Alkohol und der St.-Pauli-Verbundenheit noch zusätzlich angeheizt, die wenigen noch verbliebenen Hemmungen gänzlich fallen ließ. Wenn er zum Höhepunkt der entfesselten Sequenz die Bühne erklimmt, eine Trompete ergreift, in den Song einstimmt und dabei einen hochroten Kopf bekommt, macht man sich wirklich Sorgen, dass ihm gleich ein wichtiges Gefäß platzen könnte. Selten habe ich einen großen Schauspieler so dermaßen die Kontrolle verlieren sehen – und das wohlgemerkt vor der Kamera! Es ist diese Szene, die aus einem schönen Film ein Monument macht.