Staffel 4 steht zunächst vor einer unlösbar scheinenden Aufgabe: Der Fall, der in den ersten drei Staffeln mal mehr, mal weniger im Mittelpunkt stand, die Zerschlagung des Drogenimperiums von Avon Barksdale und Stringer Bell, ist mit dem Ende von Season 3 abgeschlossen worden. Zwar wurde mit der Ankunft des brutalen Jungdealers Marlo Stanfield (Jamie Hector) damals auch eine neue Zielperson für die Zukunft eingeführt, dennoch ist zu Beginn der vierten Staffel ein Gefühl der Leere nicht zu leugnen. Zuvor wichtige Charaktere sind plötzlich weg (Dominic West, Darsteller der bisherigen Hauptfigur Jimmy McNulty, ist bis auf einige wenige kurze Auftritte abwesend) und mit ihnen ist in gewisserweise auch der Sinn abhanden gekommen, die Richtung und das Ziel. Ein Neuanfang ist angesagt und der ist nicht leicht. Er gelingt, weil David Simons Serie genauso wenig an Gesichter wie an Plotentwürfe gebunden ist. Er kann etwas ganz anderes machen, ohne das Konzept von THE WIRE dabei zu verraten oder zu sehr vom eingeschlagenen Weg abzuschweifen. Wie ich zuvor bereits über Staffel 3 gesagt hatte: Jeder neue Schwung Episoden entpuppt sich weniger als nur inhaltliche Fortsetzung, sondern vielmehr als konzeptionelle Weiterentwicklung, als Fokusverlagerung und Felderweiterung, mit dem Ziel der Zeichnung eines umfassenden Gesellschaftsbildes. Nachdem es in Staffel 3 um die Frage gegangen war, wie sich Verbrechensbekämpfung verändern muss, um eine Gesellschaft nachhaltig verändern zu können, und am Ende ein dialogisches Miteinander als Utopie im Raum stand, die Idee des Polizisten als Street Worker, der im engen Kontakt mit den Bürgern seines Viertels steht, widmet sich Staffel 4 nun noch direkter der Prävention: Sie wendet sich den Menschen zu, die die Drogendealer der Zukunft werden – den Kindern und Jugendlichen. Dabei gerät nun konsequenterweise das Bildungsystem in den Blick. Und wieder einmal steht am Ende die Erkenntnis, dass stattliche Bildung und Erziehung nichts anderes als Spiele sind. Spiele, die nach den gleichen Regeln gespielt werden, die auch in anderen Systemkreisen gelten. Es geht nicht so sehr um das Wohl des Individuums als vielmehr um den messbaren „Erfolg“ der Instanz. Und was ein Erfolg ist, das wird von oben vor allem nach ökonomischen, weniger nach ideellen Kriterien definiert. Anstatt also das Problem der Drogenkriminalität vorsorglich und langfristig anzugehen, festigt das Schulsystem den Status quo. Wer sich eh schon auf der schiefen Bahn befindet, den treibt die Schule noch zusätzlich in den Abgrund, indem sie seine Defizite bescheinigt, seine Schm verstärkt, die Kluft vergrößert, aber keinen Ausweg anbietet. Doch das Schulsystem zu reformieren kostet Geld und bringt der Politik kein Prestige. Wie es eine Figur ausdrückt: „Kids don’t vote.“
Wie man es in THE WIRE bisher bereits kennen und schätzen gelernt hat, wird die Jugend- und Bildungsthematik von verschiedenen Seiten betrachtet, in mehreren Handlungssträngen, die jeweils an entscheidenden Punkten miteinander verknüpft sind. Übergeordnet befasst sich Staffel 4 mit dem Wahlkampf des demokratischen Bürgermeisterkandidaten Carcetti (Aidan Gillen): Im von Afroamerikanern dominierten Baltimore muss er geschickt taktieren, um den amtierenden (schwarzen) Bürgermeister Royce in der Gunst der Wähler zu überflügeln. Als ihm das gelingt, ist er damit jedoch noch längst nicht am Ziel. Den nicht in seine Pläne passenden und ebenfalls schwarzen Polizeipräsidenten Burrell (Frankie Faison) würde er zwar gern rausschmeißen, doch er ist an ihn gebunden, will er es sich nicht mit seinen schwarzen Unterstützern verscherzen. Jede Entscheidung ist mit enormen Risiken verbunden, jedem Argument steht ein triftiges Gegenargument gegenüber, und die Politik, die Carcetti gern machen würde, scheint aufgrund taktischer Erwägungen kaum noch möglich. Dennoch weht eine frische Brise durch die Hallen des Polizeipräsidiums: Unter Carcetti soll Schluss sein mit dem numbers game, einer statistikfixierten Interpretation der Verbrechensbekämpfung, die langfristige Prävention durch eine kurzfristige Symbolpolitik der „starken Hand“ ersetzt. Diese Entwicklungen schlagen sich jedoch erst im Verlauf der 13 Episoden nieder: Die Ruhe, die die Zerschlagung von Barksdales Imperium mit sich brachte, veranlasst die internen, reaktionären Kräfte zunächst dazu, in alte Muster zurückzufallen. Die Major Crimes Unit wird vom neu eingesetzten Lieutenant Marimow (Boris McGiver), einem konservativen, autoritären und unkreativen hack, förmlich kastriert und zum Einsatzkommando für spontane street rips, letztlich wirkungs- und hilflose Razzien, umfunktioniert. Die verzweifelte Suche nach einer Leiche lässt jedoch langsam die Ahnung keimen, dass der Frieden auf den Straßen ein trügerischer ist. In Wahrheit verstecken die Killer die Opfer von Marlos gnadenlosem Machtstreben in hunderten von leerstehenden Häusern, die die desolaten Viertel Baltimores zieren. Doch ein Toter, den niemand vermisst, ja von dem gar niemand weiß, ist in den Augen der Polizei ein guter Toter: Er taucht in keiner Statistik auf und sollte nach Möglichkeit dort bleiben, wo er ist.
Während also die engagierteren Beamten der Polizei von Baltimore darauf hoffen, dass die von Carcetti angekündigten Veränderungen schnell greifen, bemühen sich zwei Ehemalige in anderer Funktion um die heranwachsenden Drogendealer, die sogenannten corner boys, deren Weg durch die Karrieren ihrer Eltern – entweder selbst Dealer oder aber Abhängige – bereits vorgezeichnet ist. Roland Prybylewski (Jim True-Frost), ehemaliges Mitglied der Major Crimes Unit, das den Dienst wegen der versehentlichen Erschießung eines Kollegen quittieren musste, tritt seinen Dienst an einer Grundschule an und wird mit Kindern konfrontiert, die nicht einmal die Grundregeln sozialer Interaktion, geschweige denn Mathematik oder ihre Sprache beherrschen. Gleichzeitig engagiert sich „Bunny“ Colvin (Robert Wisdom), der nach seinem gescheiterten Experiment mit den Free Zones ebenfalls aus dem Polizeidienst ausscheiden musste, in einem sozialpädagogischen Sonderprogramm an derselben Schule: Es hat zum Ziel, die besonders schweren Fälle vom Rest zu isolieren und über ein spezielles Training zu reintegrieren. Beide, sowohl Prybylewski und Colvin, werden immer wieder mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert, die auch ihre ehemaligen Polizeifreunde verzweifeln lassen: Am Ende des Tages müssen zählbare, aber letztlich wertlose Ergebnisse vorgelegt werden, die dem System auch dann noch bestätigen, dass alles richtig läuft, wenn in Wahrheit alles in Trümmern versinkt.
Diese lange – und dennoch oberflächliche – Skizzierung des Inhalts lässt erahnen, dass es auch am Ende dieser Staffel keine sauberen Lösungen gibt. Für einzelne, etwa den Straßenjungen Namond (Julito McCullum), zeigt sich der Silberstreif am Horizont: Colvin kann seinen Vater, den im Gefängnis sitzenden Wee-Bey (Hassan Johnson), einen ehemaligen soldier Barksdales, davon überzeugen, den Jungen in seine Obhut zu übergeben, um ihn dem tödlichen Kreislauf zu entziehen und ihm ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch das Gros der Kinder sieht einer dunklen Zukunft entgegen: Randy (Maestro Harrell) landet als snitch gebrandmarkt in einem trostlosen Heim, nachdem das Haus seiner Pflegemutter einem Brandanschlag zum Opfer fiel. Der als Kleinkind von seinem Vater missbrauchte Michael (Tristan Wilds) schlägt die Laufbahn eines Killers ein: Wie er enden wird, dafür hat die Serie schon zahlreiche traurige Beispiele geliefert. Duquan (Jermaine Crawford) schließlich, ein Junge aus armseligen Verhältnissen, der unter der Obhut Pryzbylewskis aufgeblüht ist, kapituliert gleich an seinem ersten Tag auf der Highschool vor den Demütigungen der Mitschüler. Und Bodie (J. D. Williams), auch einer von Avons einstigen treuen Soldaten, steht nach vielen Jahren immer noch an der Straßenecke, nun für Marlo, darauf hoffend, irgendwann einmal aufzusteigen in der Hierarchie. Sein einziges Glück ist, dass er das Platzen seiner Träume nicht miterlebt: Ihm wird aus nächster Nähe eines Kugel in den Hinterkopf gejagt.
Die anfängliche Orientierungslosigkeit von THE WIRE – SEASON 4 entpuppt sich bald schon als das deutlichste Anzeichen für ihren grenzenlosen Humanismus: David Simon weigert sich beharrlich, seine Charaktere einem gestreamlinten dramaturgischen Zweck zu unterwerfen, stattdessen bestimmen ihre Persönlichkeiten und Schicksale den Weg der Serie (zumindest gelingt es ihm viel besser als anderen, diesen Eindruck zu evozieren). Mit dem Weichen der Polizeiarbeit aus dem Mittelpunkt des Interesses gerät das unter prekären Umständen existierende Individuum ins Blickfeld. So wie sich die einzelnen gesellschaftlichen Systemkreise überlappen und die Lokalisierung des Ursprungs der Probleme unmöglich machen, ist jede einzelne Person in einen größeren narrativen Kontext eingebettet, der die Frage nach Schuld und Verantwortung zu einer zweitrangigen macht. Der Weg zu einer von Kriminalität idealerweise gänzlich befreiten Gesellschaft führt über die Verbesserung der Lebensumstände jedes Einzelnen. Eine Mammutaufgabe, für die – das suggeriert THE WIRE mit milder Resignation – unsere derzeitige Staats- und Wirtschaftsorganisation vermutlich ungeeignet ist. Traditionelle Polizeiarbeit ist mit den Erkenntnissen aus THE WIRE nicht mehr denkbar. Und eine traditionelle Krimi- und Polizeiserie erst recht nicht. Was in Zukunft kommt, wird sich an diesem Standard messen lassen müssen.