Archiv für September, 2014

Knapp 15 Jahre bevor Francis Ford Coppola den Vampirfürsten als tragischen Liebhaber interpretierte, versuchte John Badham dem Stoff mit seiner eigenen Adaption die romantischen Seiten abzuringen. Dass sein Film heute trotz dieses innovativen Ansatzes nicht den ganz großen Stellenwert genießt, dürfte nicht zuletzt an der Besetzung seines Titelhelden liegen. Zwar füllt Frank Langella seinen Graf Dracula mit düsterromantischer Anziehungskraft und intensiver, beunruhigender Ausstrahlung, zeigt in seiner Augenpartie gar eine gewisse Ähnlichkeit mit Christopher Lee, doch mag seine Föhnfrisur so gar nicht zu unserem Bild des jahrhundertealten Monstrums passen. Die Bemühungen Badhams, die Zeit, in der die Geschichte spielt, durch monochrome, sepiafarbene Bildgestaltung aufleben zu lassen, werden durch Langellas Discofrisur gewissermaßen wieder zunichte gemacht. Der Darsteller kämpfte aber, wie einige andere, die sich zuvor als Dracula versucht hatten, sowieso schon auf verlorenem Posten: Neben Christopher Lee oder Bela Lugosi, die der Rolle ihren unvergänglichen Stempel aufgedrückt hatten, ist kaum noch Platz.

Man muss Badham zugutehalten, dass er das wohl auch wusste. Sein Fokus liegt demnach mehr auf der Schaffung einer morbiden, aber auch traurigen Atmosphäre und genau da – wie auch bei den kurzen, aber ausgesprochen stimmungsvollen Gruselszenen – hat DRACULA dann auch seine genuin eigenen Stärken. Siedelten Browning und Fisher ihre Filme in einer pulpig verzerrten Gothic-Welt an, ließ Coppola ihn stilistisch in alle möglichen Richtungen ausufern, wirkt die Welt in Badhams Film abgeschottet, leer, hoffnungslos, tot. Badham verzichtet auf den üblichen Prolog in Transsilvanien, wählt als Handlungsort vielmehr das monolithisch auf einer schroffen Klippe liegende Sanatorium von Dr. Seward, das ihm und seiner Familie auch als Haus dient. Umgeben ist es von graubrauner Ödnis und einem windschiefen Friedhof, der mit dem Wort „Totenacker“ besser beschrieben ist. Der plötzlich auftauchende Graf Dracula bildet in dieser desillusionierenden Welt den einzigen Farbtupfer, die Andeutung von Gefühlen, die zuvor undenkbar schienen. Sein Haus, Fairfax Abbey, ist auf einer kleinen Insel inmitten eines Sees gelegen: ein verheißungsvoller, mysteriöser Sehnsuchtsort, der aber dringend die Anwesenheit einer Dame vertrüge (nicht nur, um die Spinnweben zu entfernen). Die auserkorene Lucy (Kate Nelligan) wird dann auch in einer mit schwofigen Laser- und Raucheffekten unterlegten Liebesszene nach allen Regeln der Kunst verführt: die einzige Szene, die die strenge Farbpalette des Films aufbricht. Diesen motivischen wie stilistischen Kontrast herzustellen, war wohl Badhams Absicht, aber der Plan geht nur bedingt auf. Anstatt zwei mögliche, höchst unterschiedliche Lebensentwürfe nebeneinanderzustellen und den Film aus diesem Spannungsverhältnis heraus zu gestalten, wirkt er in sich unentschlossen. Die Synthese gelingt nicht, wohl auch, weil DRACULA letzten Endes das Bedürfnis des Publikums nach Katharsis und Spektakel befriedigen muss. Das Finale folgt eindeutig dieser Konvention, passt aber eigentlich nicht zur Stimmung, die zuvor so behutsam aufgebaut wurde.

Die Publikumsbindung wird jedoch an anderer Stelle durch den Verzicht auf eine echte Hauptfigur erschwert. Das Drehbuch richtet den Fokus mal auf Lucy, dann wieder auf Jonathan Harker (Trevor Eve), auf Dracula und schließlich auf Prof. van Helsing (Laurence Olivier), ohne sich wirklich für einen entscheiden zu können. So ist der Betrachter ständig gezwungen, die Perspektive zu wechseln. Grundsätzlich kein uninteressanter Einfall, gerade bei einem Stoff, der hinlänglich bekannt ist (und in der literarischen Vorlage auch keine Hauptfigur kennt), aber Badham gewinnt ihm nur wenig Reiz ab, büßt lediglich die emotionale Anbindung ein. Der größte, echte Schwachpunkt ist allerdings Laurence Olivier. Sein van Helsing ist ein zögerlicher, weinerlicher Tattergreis, dem der Mime erneut (wie etwa auch in THE JAZZ SINGER) einen seiner grässlichen Akzente aufzwingt und ihn so zur Nervensäge degradiert. Dieser van Helsing hat Dracula eigentlich nichts entgegenzusetzen, und dessen Tod ist damit nicht verdient, vielmehr lediglich vom Drehbuch herbeifabuliert. Insgesamt hat mir DRACULA wahrscheinlich ein Stück besser gefallen, als es hier den Anschein macht, aber für die große Begeisterung hat dann doch etwas gefehlt.

 

PointbreaktheatricalKathryn Bigelows erster wirklich großer Hollywoodfilm hat sich über die Jahre einen hartnäckigen Kultstatus erworben. Bei Erscheinen war er zwar durchaus erfolgreich, aber doch alles andere als ein Kritikerliebling oder gar ein Superhit, eher eines jener routiniert gefertigten formula movies, die als Trabanten auf der Umlaufbahn der wirklich großen Blockbuster kursieren. Dass er zwanzig Jahre nach Erscheinen immer noch ein Objekt der Verehrung von Filmfreunden sein würde, war gewiss nicht abzusehen. Ich erinnere mich noch, dass ich ihn damals auf Video auslieh und danach durchaus zufrieden war: POINT BREAK war sauber inszeniert, mit tollen Bildern und griffigen Charakteren ausgestattet und verfügte einfach über einen guten Flow. Trotzdem war er eben auch ein recht formelhafter Copfilm, wie ich ihn in ähnlicher Form und mit anders ausgefüllten Variablen schon etliche Male gesehen hatte. Dass POINT BREAK mehr sein könnte, wurde mir zum ersten Mal bewusst, als einer meiner Zeitgenossen die Lebensphilosophien des Surfgurus Bodhi (Patrick Swayze) mit Inbrunst rezitierte. Jahre später las ich dann Artikel von Filmkritikern, die vor allem die Maskierung der Einbrecher mit den berühmten cartoonesken Präsidentenmasken zum Anlass ausufernder Exegesen machten. Heute ist Kathryn Bigelow vielleicht die meistverehrte amerikanische Filmemacherin und POINT BREAK aus kommerzieller Sicht gewissermaßen ihr Karrierehöhepunkt, aber wahrscheinlich auch der am wenigsten persönliche Film ihrer Filmografie. Vertreter der Auteurtheorie dürfen sich aussuchen, ob ihn das zur Marginale oder zum heimlichen Mittelpunkt ihres Werkes macht.

Fakt ist, dass POINT BREAK auch heutiger Sichtung noch standhält, sich mit seinen mild-subversiven Untertönen als wunderbarer Vertreter des Hollywood-Formelkino-Bullshits entpuppt und außerdem massiv unterhaltsam ist. Was mich uneingeschränkt für den Film einnimmt, ist wohl dem Zusammentreffen einer überdurchschnittlich intelligenten Regisseurin mit einem Drehbuch geschuldet, das sich seiner inhärenten Absurdität nicht wirklich bewusst ist. In den Händen eines weniger begabten Filmemachers wäre POINT BREAK zum vollends depperten Wegwerfprodukt mutiert, so aber führt der andauernde Schlingerkurs nie zur Kollision mit der Leitplanke, wird stets ein Mindestmaß an Kontrolle gewahrt. Hinter dem generischen Undercover-Ermittlungsplot, der auf kein einziges der bewährten Klischees verzichten kann, verbirgt sich zwar die spürbare Geringschätzung für all diese Dummheiten – man merkt das vor allem in den ohne jeden Schnickschnack straight und druckvoll durchinszenierten Heist-Sequenzen, die das heimliche Zentrum des Films sind –, aber Bigelow war wohl zu professionell, um sie wirklich durchbrechen zu lassen. Liebhaber der unfreiwilligen Komik und des High-Concept-Unfugs bekommen in POINT BREAK gerade auch deshalb so viel zu lachen, weil Bigelows eigener Stil nur wenig hysterisch, eher unterkühlt ist: Der ganze abstruse Quark um die abgefahrenen Surfer-Dudes, die Zeichnung der Szene als hippieeskes Paralleluniversum, der Jungcop, der der Philosophie des blondmähnigen Bodhi verfällt, die wirklich unerklärliche Zielstrebigkeit, mit der die beiden Superermittler einen Bock nach dem anderen schießen, ohne dass der Film auch nur den geringsten Zweifel an ihrer Kompetenz aufkommen ließe: Diese Elemente wirken vor diesem Hintergrund noch einmal doppelt so komisch. Und dann noch der Kontrast zwischen Swayze, der seinen larger-than-life-Charakter ohne den leisesten Anflug der Selbstironie und stattdessen mit stoischem Ernst gibt, und Reeves, dessen unmodulierte Intonation der Behauptung des Drehbuchs, sein Johnny Utah sei der Jahresbeste seines Ausbildungsjahrgangs gewesen, im Weg steht wie eine Stahlbetonmauer. Am Ende, wenn er mit langen Haaren seine Polizeimarke in die Brandung wirft, erwartet man fast, dass Alex Winter ins Bild tritt und ihm ein „DUDE!“ zuruft.

POINT BREAK beginnt wunderbar, fast poetisch, mit einer Parallelmontage, die den Wellenritt Bodhis mit Utahs Durchlauf eines FBI-Schießstandes (in strömendem Regen) kontrastiert, und eine Seelenverwandtschaft suggeriert: So wie der Surfer durch Ausschalten des Verstandes und die komplette Überantwortung an die Mächte der Natur zu sich findet, so erreicht Johnny im fehlerlosen Exerzieren seiner Schießübung die totale Einheit von Körper und Geist. Der Film wird diese Verwandtschaft leider nicht weiter erkunden, das Copdasein stattdessen als antipodisches Gegenteil zum Surfertum zeichnen, aber man sieht hier, was Bigelow an ihrem Film wahrscheinlich in erster Linie interessierte: der beruhigende Blick auf das Wasser, das Zusammenspiel von Körper und Natur, der Zwiestreit zwischen Gefühl und Ratio und die Frage, wo das eine dem anderen die Grenze setzen muss. Die Story war es definitiv nicht: Jungcop und Veteran gehen gegen den Willen ihres cholerischen Bürokraten-Chefs (John C. McGinley) dem Verdacht nach, bei den Bankräubern (die mit Präsidentenmasken verkleidet immer in den Sommermonaten auf Beutezug gehen und keinerlei verwertbare Spuren hinterlassen) könne es sich um Surfer handeln. Jungcop erschleicht sich das Vertrauen der Surferin Tyler (Lori Petty), um Eingang in die Szene zu erhalten und lernt den charismatischen Bodhi kennen. Er verliebt sich in Tyler, in das Surfen und wird zum Freund von Bodhi und dessen adrenalinsüchtiger Clique. Es kommt irgendwann die Erkenntnis, das genau die sich hinter den Präsidentenmasken verstecken, zum unausweichlichen Konflikt mit dem neuen Freund und der Geliebten, die sich verraten fühlt – und natürlich zur finalen Konfrontation vor der Jahrhundertwelle, auf die Bodhi sein ganzes Leben lang gewartet hat.

Diese Geschichte ist in dieser Form schon dutzende Male erzählt worden, hier nun in einer Variante, die wohl die in den Neunzigerjahren anwachsende Gemeinde von Extremsportlern ansprechen sollte. Die Clique um Bodhi frönt dem ungebremsten Hedonismus, eine Party unter Surfern entpuppt sich als Zirkus voller nervtötend und selbstverliebt herumtanzender und -gestikulierender Friseurs-, Piercing- und Tätowieropfer, total crazy eben. Auch eine Feuerspuckerin darf nicht fehlen. Bodhi ist ruhiger als seine kiffenden Kumpels, weil er die „spirituelle Seite“ des Surfens verstanden hat und ziemlich deep ist. Das sieht man schon daran, wie er aus zusammengekniffenen Augen in die Ferne schaut (und daran, wie er sich beim Tequilasaufen die Zitronenscheibe mit einer geilen Schlampe teilt). Für den gestriegelten Johnny, der seine Footballkarriere wegen eines kaputten Knies beenden musste (das ihm stets pünktlich zu den entscheidenden Momenten des Films Probleme bereitet), sind die Verheißungen dieses ungezähmten Lebens eine unwiderstehliche Verlockung: Für mich wäre ein Leben zwischen Surfbrett und Fallschirmsprung auf die Dauer doch irgendwie zu hohl und eindimensional. Und natürlich zu anstrengend.

Wahrscheinlich haben das auch die Drehbuchautoren irgendwann gemerkt, doch Bodhis sozialpolitischen Ambitionen – mit seinen Überfällen will er die Leute zum Nachdenken anregen und „aufwecken“ – kommen wie aus dem Nichts und finden auch keinen echten Widerhall mehr im Film. Größere Wirkung hinterlässt da schon die schiere Inkompetenz von Utah und seinem Partner Pappas (Gary Busey). Erst heben sie – ein Muss des Undercover-Copfilms – die falsche Gang aus und ruinieren damit die monatelange Arbeit eines anderen Undercover-Agenten. (Tom Sizemore ist mit Hawaii-Hemd und gefärbten Locken wirklich zum Schießen, fast noch mehr als die Vorstellung einer Surfergang, die zu Hause säckeweise Heroin und Waffen horten – und Anthony Kiedis als Mitglied aufnehmen). Dann schaffen die beiden Supertypen es, den Banküberfall, den sie richtig antizipiert haben, zu verpassen, weil Pappas unbedingt ein Meatball-Sandwich haben will. Man muss sich das vorstellen: Die beiden wissen, wann der Überfall auf welche Bank stattfinden soll, sie parken mit dem Auto direkt davor, sie wissen, dass dies die letzte Gelegenheit ist, die Bande festzusetzen und so ihren Job zu retten. Überdies haben sie Monate von Arbeit investiert, um da hin zu kommen, wo sie jetzt sind, und sie verpassen die Chance, weil sie just in diesem Moment an nicht anderes denken können, als ein Sandwich? Es ist ein Wunder, wie es Bigelow danach gelingt, den Ruf ihrer beiden „Helden“ aufrechtzuerhalten. Wie erwähnt: Ganz, ganz großer Spaß, immer wieder von Momenten durchbrochen, die den Film andeuten, der wahrscheinlich in BIgelows Kopf abgelaufen ist. Seinen Kultstatus hat der POINT BREAK definitiv zu Recht, wenn auch ganz gewiss aus den völlig falschen Gründen.

Nach der Erstsichtung von William Friedkins SORCERER musste Henri-Georges Clouzozs Original aus dem Jahr 1953 dringend aufgefrischt werden. Die Unterschiede zwischen beiden Versionen sind frappierend und gehen weit über bloße Kosmetik wie etwa Friedkins deutlich spektakulärere Aufbereitung der einzelnen Spannungsszenen hinaus. Strukturell sind sich beide Filme dabei durchaus ähnlich. Die Exposition nimmt auch bei Clouzot viel Zeit ein, ist aber nicht zusätzlich in einzelne Episoden gegliedert. Der Film konzentriert sich vielmehr ganz auf Mario (Yves Montand) und seinen Mitstreiter Jo (Charles Vanel), Luigi (Folco Lulli) und Bimba (Peter van Eyck) bleiben hingegen Nebenfiguren. Während Friedkins Protagonisten allesamt zweifelhafte Gestalten, Kriminelle, Mörder gar und Flüchtling auf der Suche nach einer Vergebung sind, von der der Zuschauer insgeheim schon weiß, dass sie unerreichbar ist, sind Clouzots Männer mittellos Gestrandete, Aussteiger, Arbeiter, die in den 2.000 Dollar, die ihnen der Nitroglycerin-Transport einbringen soll, die vielleicht letzte Chance auf ein besseres Leben sehen. Der Ort, an dem sie sich aufhalten, ein staubiges Kaff  irgendwo in Südamerika, ist weniger deutlich als Vorhölle gezeichnet als in SORCERER: Muss man dort einem vorzeitigen Tod durch Seuchen oder die Willkür der Polizei ins Auge sehen, gilt es in LE SALAIRE DE LA PEUR lediglich, sich mit der nagenden Langeweile und der Abwesenheit alles Schönen abzufinden.

Dieser Unterschied ist entscheidend, weil er die Haltung des Zuschauers zu den Protagonisten komplett verändert: Mario, Jo, Luigi und Bimba können sich seines Mitgefühls jederzeit sicher sein, weil sie Opfer sind. In ihrer kleinen Welt gebärden sie sich zwar wie echte Kerle, wie Machertypen, aber sobald Clouzot die Perspektive erweitert, erkennt man, dass sie ganz und gar hilflos sind, kleine Lichter, deren Leben für die Ölgesellschaft, in deren Auftrag sie handeln, keinerlei Wert hat. Friedkins SORCERER ist mehr oder weniger eine existenzialische Allegorie auf das Leben überhaupt, eine ziemlich düstere überdies, Clouzots LE SALAIRE DE LA PEUR ist wesentlich enger dran an konkreten sozialen und ökonomischen Lebensumständen. Seine Helden jagen einem Bild von Glück hinterher, das wesentlich von Geld bestimmt wird. Das macht sie zum einen käuflich, korrumpiert zum anderen ihre Werte. Je mehr der zu Beginn noch ganz souverän und männlich auftretende Jo unter der andauernden körperlichen und seelischen Belastung zusammensinkt, umso härter werden die verbalen und physischen Hiebe, die er von Mario einstecken muss. „Warum behandelst du mich so?“, fragt er ihn einmal, den Tränen nah. „Weil ich dich brauche“, antwortet Mario mitleidlos, ohne dass ihm der innere Widerspruch auffiele. Die stärkste Szene des Films ist eine der wenigen Spannungsszenen, die Friedkin nicht adaptierte: Als Jo Mario und den LKW durch eine riesige Ölpfütze leitet, kommt er zu Fall und fleht Mario an, stehenzubleiben. Weil der aber weiß, dass er den Motor möglicherweise nicht mehr starten können wird, wenn er anhält, fährt er einfach weiter und überrollt den Partner kurzerhand. Die Szene wirkt deshalb so stark, weil sie die Zerrissenheit Marios gestochen scharf herausarbeitet: Alles in ihm sagt ihm, dass er seinem Freund helfen muss, doch die „Ratio“ gewinnt, der Ruf des Geldes ist lauter als der des Gewissens. Er beißt die Zähne, kneift die Augen zusammen und rollt über den schreienden Jo hinweg. Erst später wird ihm bewusst, was er getan hat, und es sieht ganz so aus, als könne auch die Belohnung, die Tragweite dieser Erfahrung nicht tilgen, doch das Geld heilt schließlich alle Wunden. Nur schützt es nicht vor den Launen des Schicksals.

Auch wenn Friedkin mit SORCERER vor allem in visueller Hinsicht eine mehr als würdige Hommage an Clouzot und ein beeindruckendes Stück Spannungskino gelungen ist, an LE SALAIRE DE LA PEUR reicht er nicht heran, weil ihm die humanistische Wärme fehlt. Clouzots Vision ist kaum weniger gnadenlos als Friedkins, aber diese Härte findet mehr Resonanz, weil die Welt, in der er spielt, noch nicht durch und durch verkommen ist. Es steht mehr auf dem Spiel für Mario, Jo, Luigi und Bimba als für Friedkins Hoffnungslose, und dass ihr Traum so laut platzt, schmerzt, weil sie die einzige Chance zu seiner Verwirklichung ergriffen haben, die sie hatten.

Man musste lange warten, um William Friedkins Remake von Henri-Georges Clouzots Klassiker LE SALAIRE DE LA PEUR in angemessener Qualität im Heimkino erleben zu können. 1977 in den Kinos gestartet, sollte er den nächsten logischen Schritt in der Karriere des Regisseurs bedeuten, der zuvor mit THE FRENCH CONNECTION und THE EXORCIST zwei riesige Publikums- und Kritikererfolge gelandet hatte. Universal Pictures investierte nicht weniger als runde 20 Millionen Dollar in das Herzensprojekt Friedkins, das an den Kinokassen jedoch gnadenlos absoff, den steilen Aufstieg des Regiewunderkinds jäh unterbrach und in den Filmgeschichtsbüchern seither als Riesenflop geführt wird. Zusammen mit Michael Ciminos ähnlich grandios gescheitertem HEAVEN’S GATE gilt SORCERER als einer der Filme, an denen sich der Wandel vom anspruchsvollen New-Hollywood-Kino der Siebziger hin zum kommerziellen Eventkino der Achtziger am deutlichsten abzeichnete. In direkter Nachbarschaft von George Lucas‘ epochemachendem STAR WARS gestartet, dazu irreführend betitelt, dialogarm, elliptisch und gänzlich ohne strahlende Helden oder überlebensgroße Schurken auskommend, zielte SORCERER am Publikum, das sich nebenan in epische Märchenwelten entführen lassen konnte, völlig vorbei. Und auch die Kritiker hielten sich mit ihrem Lob sehr zurück, verrissen ihn stattdessen meist in Bausch und Bogen. Der horrende finanzielle Verlust, den Friedkins Film dem Studio bescherte, führte zu verzweifelten Rettungsversuchen: Für den europäischen Markt wurde das zweistündige Werk um rund 30 Minuten Exposition erleichtert, die lustlos auf den Markt geworfenen Verleihversionen beschnitten es auf das Vollbildformat. Das waren bis zur diesjährigen Veröffentlichung der restaurierten und wiederhergestellten Version auf DVD und Blu-ray die einzigen Möglichkeiten, die sich dem Filmfreund boten.

Die Erwartungshaltung, mit der ich an den Film herantrat, kann durchaus als Bürde sein. SORCERER lediglich als „effizient“ zu bezeichnen, ginge angesichts der beinahe schon Herzog’schen Entbehrungen, die Friedkin in Kauf nahm, um seinem Vorbild Clouzot nahezukommen, zwar vollkommen fehl – allein die auf dem nebenstehenden Plakat abgebildete Hängebrücken-Sequenz, auch für den Zuschauer eine körperlich kaum aushaltbare Tortur, verschlang dank des erforderlichen Aufbaus und Neuaufbaus der Brücke (der Fluss, an dem die Sequenz ursprünglich gedreht werden sollte, war bei Drehbeginn wider Erwarten vollkommen ausgetrocknet) sowie diverser abgestürzter LKWs drei Millionen Dollar und mehrere Monate Drehzeit –, dennoch ist der Film vor allem eine Lehrstunde in Sachen Spannungsaufbau, erzählerischer Ökonomie und Atmosphäre, mehr als ein Werk, das dazu aufforderte, sich intellektuell daran zu reiben. Noch mehr als Clouzot, in dessen LE SALAIRE DE LA PEUR die vom Nitro und den miserablen äußeren Bedingungen ausgehende Gefahr durch die Rivalität der Fahrer noch erheblich verstärkt wurde, reduziert Friedkin die Geschichte auf den Kampf der Protagonisten gegen die Umstände/die Natur. Doch auch der finale Triumph Scanlons (Roy Scheider), der als einziger überlebt und die letzte Kiste Sprengstoff schließlich wie im Fieberwahn zu Fuß an ihren Bestimmungsort trägt, verändert nichts an ihm. Die Höllenfahrt führt nicht zu einem Ziel, sie löst keine Entwicklung in den Charakteren aus, ist letzten Ende nur die äußerste bildliche Konkretion ihres schon völlig verkorksten Daseins. Die Entscheidung des Studios, die Exposition radikal zu kürzen, war insofern durchaus konsequent, aber sie verkennt auch, worum es in SORCERER eigentlich geht.

Die vier Hauptfiguren werden zu Beginn des Films in vier kurzen Vignetten eingeführt. Nilo (Francisco Rabal), ein Auftragsmörder, erschießt einen Mann. Kassem (Amidou), ein palästinensischer Terrorist, verübt in Jerusalem einen Bombenanschlag und kann der Polizei entkommen. Victor Manzon (Bruno Cremer), ein Pariser Geschäftsmann, wird des Wirtschaftsbetrugs überführt und zur Zahlung einer stattlichen Summe aufgefordert, um der Haftstrafe zu entgehen. Als seine Versuche, das Geld aufzutreiben, scheitern, flieht er. Der Berufsverbrecher Scanlon (Roy Scheider), ein Fluchtwagenfahrer, überlebt zwar als einziger den Crash nach einem Raubüberfall, landet aber dafür auf der Todesliste der Mafia. Ein Freund hilft ihm, sich nach Südamerika abzusetzen. Diese vier Männer sind von überaus fragwürdiger Moral und sie haben nichts mehr zu verlieren außer ihrem nackten Leben. Mit letzter Entschlossenheit halten sie an ihm fest. Der Aufenthalt in einem verdreckten kleinen Kaff irgendwo im Urwald darf als ihr privates Fegefeuer, die gerechte Strafe für ihre Taten betrachtet werden. Unerträgliche Hitze, Schmutz, Krankheiten, Armut und die willkürlich ihre Macht demonstrierende Polizei des diktatorisch geführten Landes sind ständig lauernde Gefahren, einen Ausweg, eine Perspektive scheint es für keinen von ihnen mehr zu geben. Bis ein US-amerikanischer Ölkonzern Freiwillige für ein wahres Himmelfahrtskommando sucht: Ein nach einem Rebellenangriff brennende Ölquelle soll mithilfe von Nitroglycerin gelöscht werden. Doch das Nitro, das 200 Meilen entfernt lagert, ist aufgrund falscher Lagerung instabil geworden. Die einzige Möglichkeit, es zum Bestimmungsort zu bringen, besteht darin, den ganzen Weg mit dem LKW zurückzulegen. Jede Erschütterung kann die sofortige Explosion verursachen. Und es gibt keine gut ausgebauten Straßen, stattdessen marode Brücken, holprige Schotterpisten und unwegsame Sümpfe. Zur Belohnung winkt den Männern eine hohe Belohnung sowie eine gültige Aufenthaltserlaubnis, aber mehr als das treibt sie das tiefsitzende Gefühl, Abbitte leisten zu müssen – und dabei vielleicht umzukommen.

SORCERER ist sehr rigide strukturiert: Auf die ca. halbstündige, episodische Exposition der Charaktere folgt die ebenso lange Etablierung des Handlungsortes als unentrinnbares Purgatorium, bevor die gesamte zweite Hälfte des Films sich der Fahrt durch den Urwald widmet. Auch sie ist zergliedert in vier große Sequenzen: die Fahrt über eine aus morschen Planken bestehenden Hochstraße, die Überwindung der Hängebrücke mitten in einem tosenden Sturm, die Sprengung eines im Weg liegenden Baums und die Schlussepisode, bei der sich Scanlon und Nilo gegen bewaffnete Wegelagerer behaupten müssen, bevor ersterer dann schließlich als einziger Überlebender zu halluzinieren beginnt und den letzten Rest des Weges allein zurücklegt. Schon sein leerer Blick lässt erkennen, dass die Belohnung weder die Entbehrungen der Fahrt noch die zuvor aufgeladene Schuld aufwiegen bzw. wiedergutmachen kann, aber auch das bloße Dahinvegetieren wird ihm nicht mehr erlaubt sein. Die letzten Einstellungen zeigen, dass die Mafiosi, die ihn suchen, aufgespürt haben. Die gemeisterte Mission hat keinen Unterschied gemacht, das Unausweichliche lediglich etwas herausgezögert. Diese Schicksalsschwere, die Ahnung, dass der Weg vorgezeichnet ist, man ihn im besten existenzialistischen Sinne beschreiten muss, ohne Hoffnungen in das Erreichen des Ziels zu setzen, durchzieht SORCERER von der ersten Minute an. Es liegt in der Natur der Sache, dass die vier Protagonisten keine Entwicklung durchmachen, wie man das von Erzählfilmen allgemein erwartet. Seine Exposition mag inhaltlich redundant sein, für die Stimmung des Films ist sie aber unentbehrlich. Die Leistung der Männer, der Kraft- und Willensakt, in dem sie die sich ihnen in den Weg stellenden  Herausforderungen meistern, wäre in einem anderen Film pathetisch überhöht worden, er hätte sie dazu in die Lage versetzt, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben, ihnen gezeigt, wer sie sind. Wer bei strömendem Regen eine halbverweste Hängebrücke mit einem mit Sprengstoff beladenem Schrottlaster bezwingt, den kann das Leben nicht mehr überraschen. Nicht so hier. Jeder Schritt, mit dem sich die Männer ihrem Ziel nähern, verstärkt nur das Gefühl, dem Schicksal nicht entkommen zu können. Die beinahe kosmische Traurigkeit, die SORCERER erfüllt, kommt am stärksten in diesem einen Moment hervor, in dem Friedkin ganz kurz der Formel zu verfallen droht: Kurz vor dem Ziel, gepackt von einem trügerischen Enthusiasmus, öffnen sich Kassem und Vincent einander, vertrauen sich einander an. Der Franzose erzählt von der Uhr mit der Widmung, die ihm seine Gattin an ihrem Hochzeitstag überreicht hatte, jenem Tag, an dem er die Flucht antreten und sie für immer zurücklassen musste. Es ist der erste Moment, der andeutet, dass da eine Freundschaft oder überhaupt irgendeine Teilnahme am Leben des anderes stattfinden könnte. Und er wird jäh unterbrochen von einem platzenden Reifen, dem Kontrollverlust und einer todbringenden Explosion. Der Tod und das Leben, sie sind letztlich erschreckend banal. Dass dieser Film nach diesem betriebenen Aufwand zu diesem Schluss kommt, ist ernüchternd, spricht aber auch für die an Masochismus grenzende Opferbereitschaft Friedkins. Nicht nur in dieser Hinsicht erinnert sein Werk an Coppolas APOCALYPSE NOW. Ein Monolith, schwer zu lieben, aber von unleugbarer, drückender Präsenz.

Das Wiedersehen mit TERRORGANG, der mein Zwerchfell zuletzt vor ca. 15 Jahren einem gnadenlosen Belastungstest unterzogen hatte, anlässlich des alljährlichen Live-Audiokommentars in Aachen, war wunderbar. Der Film ist tatsächlich noch irrsiniger, niederträchtiger, asozialer, unglaublicher, aber auch besser, als ich das in Erinnerung hatte – und gemessen an dem anhaltenden, ausgelassenen Gelächter, das er beim anwesenden Publikum auslöste, war ich nicht der einzige, der das so empfand. Der spanische Originaltitel MÀS ALLÁ DEL TERROR führt angetrieben von einer Hosen und Vorstellungen sprengenden deutschen Synchronisation tatsächlich „weiter als die Furcht“, nämlich geradwegs in den Brechdurchfall des Wahnsinns. TERRORGANG ist, es muss so deutlich gesagt werden, der heilige Gral der Asozialität, ein würdiger Gummizellennachbar etwa von Sergio Griecos LA BELVA COL MITRA.

Der Film folgt dem wüsten Treiben einer dreiköpfigen Bande mit dem Ausdruck „kriminell“ nur äußerst unzureichend beschriebener Jugendlicher. Gleich zu Beginn lässt sich die spröde Lola (Raquel Ramirez) in einem ernüchternden Café irgendwo in der spanischen Pampa von einem mittelalten „Geschäftsmann“ abholen, der zwar ihren Namen nicht kennt, aber ihr dennoch hoffnungslos verfallen ist. Sie führt den geilen Bock an ein „romantisches Plätzchen“, eine traurige Herbstwiese irgendwo an einer löchrigen Landstraße (wer den Ölgeruch kennt, der über spanischen Landstraßen liegt, weiß, welch aphrodisierende Wirkung von ihm ausgeht), doch statt des erwarteten Schäferstündchens bekommt er eine Klinge in den Wanst und das dürftige Ersparte abgenommen. Als Lola abends ihre Kumpels Chema (Francisco Sánchez Grajera) und Nico (Eilio Siegrist) trifft, beschließen sie daher einen weiteren Überfall, um das dringend für Drogen benötigte Kleingeld aufzutreiben. Gäste und Belegschaft einer barackenhaft tristen Pinte (nichts schreit so sehr „Wohlstand“ und „Bargeld“ wie dickleibige Kellnerinnen, die Spiegelei mit Speck servieren, und verrammelte Fenster) werden von den drei Asis wüst beleidigt („Arschficker!“), gedemütigt, verdroschen und schließlich kaltblütig umgelegt – samt planlos, aber enthusiastisch hereinstürmender Polizei. Eine Ausnahme bildet das Pärchen aus dem Immobilienmakler Jorge (Antonio Jabalera) – sein weißer, in die Schlaghose gesteckter Polyesterrolli und das dazu getragene Amulett künden von finanzieller Affluenz – und seine Geliebte, die Sekretärin Linda (Alexia Loreto) im von ihm vermachten Bisamrattenpelz: Sie werden flugs als Geisel genommen, auch wenn zu diesem Zeitpunkt eigentlich eh schon alles egal ist. Die anschließende Höllenfahrt führt die Zweckgemeinschaft schließlich in das Haus einer alten Dame, die nur wenig später genauso mausetot ist wie der kleine Bub, der bei ihr wohnt: TERRORGANG erzählt auch von dem Rhythmus, bei dem man immer mit muss.

Weil man in einer Welt, in der Chema, Lola und Nico frei rumlaufen dürfen, keine Hoffnungen in den starken Arm des Gesetzes setzen sollte, aber Vergeltung dringend not tut, müssen die Kräfte jenseits der Ratio ran: Zum Glück unterhält die alte Oma gute Beziehungen zum Leibhaftigen und stößt kurzerhand einen Fluch aus, der die Jugend von Heute für die restliche Dauer des Films verfolgt und schließlich ereilt. Bevor es jedoch soweit ist, bekommen alle Beteiligten noch ausgiebig Gelegenheit, ihren moralischen und intellektuellen Sanierungsbedarf, den beeindruckenden Grad schierer Verblödung und ihre an ein außer Kontrolle geratenes Kettenkarussell erinnernde Triebhaftigkeit unter Beweis zu stellen. Natürlich, so erklärt uns Regisseur Aznar, sind diese Marodeure nicht böse auf die Welt gekommen, vielmehr ist die Gesellschaft Schuld, dass sie so sind. Beziehungsweise der Pfaffe auf Nicos Klosterschule, der dem Jungen in der Speisekammer zwischen baumelnden Chorizos in den Arsch fickte und ihn zur Beruhigung heroinabhängig machte. TERRORGANG dürfte angesichts der verheerenden wirtschaftlichen Situation in Spanien mit annähernd 50-prozentiger Jugendarbeistlosigkeit in Kürze ein überfälliges Sequel bekommen.

Neben dem immensen Tempo des Films, das den speed- und koksinduzierten Adrenalinrausch seiner „Helden“ formal doppelt, und der schon erwähnten, krachledernen Synchro, die einen wahren Bombenhagel aus Obszönitäten, Kraftausdrücken und Beleidigungen auf den hilflos am Boden liegenden und um Gnade winselnden Zuschauer niedergehen lässt, ist es vor allem die Häufung absurder, übersteuerter Einfälle, die TERRORGANG geradewegs über die Klippe steuert. Als die fünf Hauptfiguren nach dem Mord an der alten Frau mit dem Auto davonrasen, verdeutlicht die atonale Geisterbahnmusik, dass nun endgültig eine Grenze überschritten wurde. Jedenfalls solange, bis Nico sich lauthals über den scheußlichen Sound beschwert, der da aus dem Autoradio kommt. Merke: Dass man mit einem Fluch belegt wurde, merkt man daran, dass das eigene Leben plötzlich mit einem Goblin-Soundtrack ausgestattet wird. Später, als sich die Flüchtigen in einer verfallenen Kirche im Niemandsland verschanzen, hält Nico eine Wutrede, die sich gewaschen hat: Selbst ein Klaus Kinski dürfte angesichts der Häufung von Vulgarismen, die da in kürzester Zeit voller Inbrunst auskotzt werden, ein wenig rot ums Koksnäschen geworden sein. (Die Vorstellung, dass er diesen Film gesehen haben könnte, macht mich wahnsinnig glücklich.) „Gesegnet seien die Schwulen, denn sie können sich gegenseitig in den Arsch ficken!“ ist sicherlich das Highlight des Monologs, der in entfesselter öffentlicher Onanie vor einem brennenden Lagerfeuer endet. Aber: „Wichsen ist gut, ficken ist besser!“, mahnt Nico. Das denkt sich wohl auch Linda, die die Idee ihres Geliebten, den Gangleader Chema zu verführen, mit etwas zu großer Leidenschaft in die Tat umsetzt. Sie lässt sich gleich an Ort und Stelle von ihm auf dem Taufbecken durchziehen, und auch als Jorge wenig später samt Auto in Flammen aufgeht, weiß sie sofort die Prioritäten zu setzen: „Mein Koffer!“ In einer von zahllosen plötzlich herbeigesponnenen und dann gleich wieder verworfenen Wendungen des Films, war sie im Besitz von einer Million Dollar, die nun als Rauch gen Himmel steigen. Wenn man Mitglied der Terrorgang ist, gibt es Tage, an denen man verliert, und Tage, an denen die anderen gewinnen.

Am Schluss gibt es sogar ein paar effektive unheimliche Szenen, wenn die planlos an den dreieinhalb Settings des Films herumtapernden Hauptfiguren in finsteren Katakomben einer handvoll skelettierter Leichen zum Opfer fallen, doch jeder Anflug milden Grusels wird natürlich hoffnungslos von Raserei überlagert. TERRORGANG ist wie ein Bad in ungeköschtem Kalk, wie eine Massage mit Schmirgelpapier, das Kneten der Hoden mit einem Eisenhandschuh oder die Rasur mit der Kettensäge. „Ficken und Töten!“, schreit Nico einmal im Zustand der Entrücktheit. „Oder TERRORGANG.“, möchte ich ergänzend hinzufügen.

 

 

 

Der Begriff „Sucker Punch“ ist leider nicht wirklich übersetzbar: Er bezeichnet den gefürchteten Schlag auf den Solar Plexus, der den Empfänger sofort wehrlos auf die Knie zwingt. In Zack Snyders SUCKER PUNCH wird dieser Schlag nicht ausgeteilt: Jedenfalls nicht so prominent, dass man den Film zwingend nach ihm benennen müsste. Aber luftraubend ist er dennoch, vor allem für männliche Zuschauer, denn die werden hier ebenso bedient, wie sie für ihren Voyeurismus sofort eine heftige Abreibung bekommen. Zack Snyder begibt sich mit dieser Strategie auf extrem dünnes Eis: Aber er gewinnt letzten Endes damit und erweist sich als einer der wenigen wirklich mutigen neuen Filmemacher, die derzeit in Hollywood tätig sind. SUCKER PUNCH ist immens streitbar – und von welchem der zeitgenössischen Blockbuster kann man das wirklich noch behaupten?

Man kann SUCKER PUNCH in das Genre der sogenannten Mindfuck-Filme einordnen, denn seine Handlung vollzieht sich auf mehreren ineinandergeschachtelten Meta-Ebenen und über weite Strecken in der Fantasie der Protagonistin. Bei dieser handelt es sich um Babydoll (Emily Browning), ein Mädchen, das dem Missbrauch der Schwester durch den Stiefvater nicht tatenlos zusehen wollte, schließlich aber an seiner Stelle als vermeintliche Mörderin in einer dubiosen Heilanstalt landet, wo sie sofort für eine Lobotomie einplant wird. Der zweite Akt des Films beginnt just in dem Moment, in dem ihr ein langer Metallstift ins Hirn geschlagen werden soll: Plötzlich verwandelt sich die Anstalt in ein Bordell, in dem die Patientinnen in burlesken Tanznummern vor schmierigen reichen Männern auftreten und sich ihnen andienen. Geleitet wird der Betrieb von Blue Jones (Oscar Isaac) und seiner Gespielin Dr. Vera Gorski (Carla Gugino), die den Mädchen Tanzunterricht gibt. Babydoll erweist sich schnell als gute Schülerin und wird demzufolge für den Gangster „High Roller“ (Jon Hamm) vorgesehen, dessen Ankunft in wenigen Tagen erwartet wird. Doch immer, wenn Babydoll tanzt, versinkt sie in einer Traumwelt, in der sie verschlüsselte Hinweise erhält, wie sie ihrem Schicksal entrinnen kann. Zusammen mit ihren Mitinsassinnen – Sweet Pea (Abbie Cornish), Blondie (Vanessa Hudgens), Rocket (Jena Malone) und Amber (Jamie Chung) – plant sie den Ausbruch aus der Anstalt …

Snyder entfaltet diese Prämisse – von einer Handlung im traditionellen Sinne kann man genauso wenig sprechen wie von psychologisch ausgereiften Charakteren – in bombastischen Actiontableaus: Um ihre Freiheit zu erlangen, müssen die Mädchen vier Gegenstände erobern und das tun sie in gewaltigen Fantasiewelten, die ihre triste „Realität“ überlagern. Sie kämpfen dabei gegen riesenhafte Samurai, auf einem Steampunk-Schlachtfeld, gegen eine Armee von Orks und einen Drachen sowie gegen Roboter an Bord eines rasenden Zuges. Diese Tableaus sind pures Eye Candy, mit bombastischen Effekten, einer sich völlig entfesselt bewegenden Kamera und dem effektvollen, übergangslosen Switchen der Geschwindigkeit veredelt, profitieren dabei immens von Snyders Sinn für räumliche Dimensionen. Die Übersichtlichkeit bleibt stets gewahrt, und das Ergebnis ist von atemberaubender Dynamik. Der Vorwurf, bloße Augenwischerei zu betreiben, der die Veröffentlichung von SUCKER PUNCH begleitete, war angesichts des Missverhältnisses von dem, was der Durchschnittszuschauer „Inhalt“ nennt, und der äußeren Form des Films vorauszusehen. Dabei ist Snyder ein ziemlich treffendes Statement zur Rolle der Frau im „Mainstreamkino“ gelungen und dass er dieses nicht in das Gewand langweiligen Messagekinos verpackt hat, sondern in dieses avantgardistische Fetischprodukt, ist ihm hoch anzurechnen.

SUCKER PUNCH verschreibt sich einerseits jener Form von quasifeministischem Empowerment, das etwa Roger Cormans Women-in-Prison-Filme THE BIG BIRD CAGE, THE BIG DOLL HOUSE oder natürlich CAGED HEAT auszeichnete: Seine Männerfiguren sind allesamt schmierige Schurken, die ihre Frauen in demütigenden Missbrauchsverhältnissen einsperren. Es geht für die Protagonistinnen demzufolge nicht bloß um die Flucht aus einem Gefängnis, sondern um das Zurückerlangen ihrer weiblichen Autonomie generell. Der ganze Film ist reine Fluchtphantasie und da der Weg nach draußen zunächst verbaut ist, führt er konsequent nach innen. Wie am Ende klar wird, spielt sich sein Plot in jenen Sekundenbruchteilen ab, in denen Babydoll den Schlag erwartet, der ihren Willen für immer brechen soll. Unschwer lässt sich der Eingriff als Vergewaltigung interpretieren, und Babydolls Fantasie als letzter noch greifender Schutzmechanismus. Das Problem, mit dem die oben genannten Empowerment-Exploiter immer zu kämpfen hatten, nämlich als Männerfilme ein Männerpublikum und dessen Fantasien zu bedienen, seine Protagonistinnen selbst im Moment ihres Triumphes über das Patriarchat also noch zu objektivieren und letztlich nur umso fester in dessen Ketten zu schlagen, adressiert Snyder ganz explizit. Es gibt für Babydoll, Sweet Pea, Rocket, Blondie und Amber keinen Ausweg aus der Fetischisierung und sie unterwerfen sich diesem Diktat. Es ist der Kompromiss, den sie machen müssen, um wenigstens ein Mindestmaß an Freiheit zu erlangen. (Auf dem Soundtrack drücken weibliche Musikerinnen von Männern geschriebenen Songs ihren Stempel auf.) Die Aporie wird von Snyder bis zum Ende nicht aufgelöst, vielmehr lässt er sie bestehen und findet genau zwischen den beiden unvereinbaren Polen den Raum, in dem er seinen Film ansiedelt. Das letzte Wort des Films richtet sich direkt an den Zuschauer: Er ist es, der den Unterschied macht.

 

Mit der Voice-over-Narration schlägt Scorsese gleich von Anfang an die Brücke zu jenen beiden Titeln, die bei der filmischen Sozialisation von Angehörigen meiner Generation erhebliche Bedeutung genießen: den Gangsterfilmen GOODFELLAS und CASINO. Und allein damit, dass Scorses diese Linie zieht, von den betuchten Mördern der Mafia hin zu Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio), einem dubiosen Börsenmakler, der keine Menschen ermordet, dessen Geschäft sich der Sphäre des Greifbaren überhaupt hartnäckig entzieht – davon abgesehen, dass er Reichtümer in obszönem Ausmaß anhäuft –, scheint die Aussage seines Films schon klar, noch bevor er richtig begonnen hat: Der Mob der Gegenwart, das sind die Finanzspekulanten der Wall Street. Doch was Scorsese über das in den vergangenen Jahren heftig in Verruf geratene Spekulantentum zu sagen hat, das erschöpft sich in den Erklärungen, die Belforts Mentor Mark Hanna (Matthew McConaughey) seinem neuen Schützling ganz zu Beginn des Films an dessen erstem Arbeitstag angedeihen lässt: Sie handeln mit einem Fugazi, mit Nichtmateriellem, Nichtgreifbarem, verkaufen gewissermaßen Illusionen, und es ist ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich dieses Nichtgreifbare allenfalls auf ihrem eigenen Konto materialisiert. Alles, was der andere hat, kann man selbst nicht mehr besitzen, daher gilt es, ihn kleinzuhalten. Als Belfort nach dem Börsencrash von ’87 umsattelt und beginnt, wertlose Penny Stocks an Arbeiter und Mittelständler zu verhökern, die vom schnellen Reichtum träumen, ist das die denkbar konsequenteste Umsetzung von Hannas Lehren. Während die, die auf ihn reinfallen, arm werden, streicht Belfort mit jedem abgeschlossenen Deal eine Provision von 50 % des Verkaufswerts ein. Es dauert nicht lang, bis sich das FBI für seine Geschäfte zu interessieren beginnt, doch bis dahin wollen noch viele Menschen betrogen und benutzt, Statussymbole erworben, Drogen konsumiert und Prostituierte gevögelt werden. Die Spezifika von Belforts Geschäftsmodell interessieren Scorsese nicht, er hält sie für langweilig und irrelevant. An zwei Stellen, an denen Belfort – direkt an den Zuschauer gerichtet – anhebt, seine Methoden zu erklären, unterbricht er sich selbst, erinnert sich und den Zuschauer daran, dass sich niemand diesen Film für die schnöde Theorie ansieht. THE WOLF OF WALL STREET ist damit kaum weniger zynisch als seine Hauptfigur, und im Kern hat er einiges mit den voyeuristischen Artikeln der Regenbogenpresse gemeinsam, die das Leben von Monarchen in all seinen pompösen Details ablichten. So sehr Scorsese diese Branche auch verachtet, der Exzess, der das Leben Belforts und seiner Partner auszeichnet, hat auch etwas unmittelbar Anziehendes. Aus der Perspektive des Regisseurs haftet seinem Protagonisten sogar etwas Rebellisches an, das ihn zum Seelenverwandten jener Rockidole der Sechziger und Siebziger macht, denen Scorsese auch heute noch gern huldigt. Der Finanzemarkt ist eh so verkommen, jemand, der diese Verkommenheit gewissermaßen umarmt, sich ihr ganz verschreibt, wird aus dieser Perspektive zum genialischen Guerilla-Künstler.

THE WOLF OF WALL STREET ist letztlich genauso wenig ein Film über den Wahnsinn der Finanzbranche wie APOCALYPSE NOW ein Film über den Vietnamkrieg ist und deshalb taugt er auch nicht dazu, irgendeine echte oder auch nur neue Erkenntnis über die Finanz- und Bankenkrise zu bringen. Es ist ein Film über Gier, Exzess und Macht im Allgemeinen. Dass er einen Broker in den Mittelpunkt seines Interesses stellt, ist kaum mehr als ein oberflächliches, dem Zeitgeist geschuldetes Detail. Die 180 Minuten erinnern daher in ihrem rasenden Tempo an den Stream-of-Consciousness-Schlussakt von GOODFELLAS, in dem der vom Kokain paranoid gewordene Verräter Henry Hill (Ray Liotta) panisch versucht, seine Spuren zu verwischen. Der Sinn für Drama ist in THE WOLF OF WALL STREET allerdings gänzlich abwesend: Der Film ist eine grelle Farce, ein Schelmenstück, und jede Bedrohung, sei es durch das Gesetz oder den möglichen Drogentod, prallt an Belforts Larger-than-Life-Fassade ab. Die Lebensmüdigkeit gehört zu seinem Dasein dazu, je größer die Beträge werden, die auf seinem Konto angehäuft sind, umso größer müssen auch die Kicks werden, die ihm überhaupt noch eine Gefühlsregung abverlangen. Die Energie, die Scorsese entfesselt, ist durchaus beeindruckend für einen Regisseur, der längst nicht mehr zu den „jungen Wilden“ gehört, sondern mitten im Herbst seines Lebens steckt. Ich habe tatsächlich großen Spaß mit THE WOLF OF WALL STREET gehabt und mir mehr als einmal gewünscht, den Film noch einmal in meiner eigenen wilden Phase vor 15, 20 Jahren mit Freunden sehen zu können. Es wäre ein Fest gewesen! Das Lachen mag einem mehr als einmal im Halse steckenbleiben, es greift dennoch dieser bekannte Affekt, nach dem man sich mit dem Protagonisten eines Films identifiziert, mit ihm mitfiebert und -leidet, auch wenn er ein noch so großer Schuft ist. Die Chuzpe, mit der er sein Ding durchzieht, die Entschlossenheit, mit der er den Plan verfolgt, filthy stinking rich zu werden, nötigte mir durchaus eine gewisse Bewunderung ab. Abgemildert wird das allenfalls durch die nagende Frage, zu was er imstande wäre, wenn er nicht nur seinen eigenen Vorteil im Sinn hätte, wenn er nicht bloß materialistische Ideale verfolgte. Die eine Szene, die ihn als sozialen Menschen zeichnet, wirkt leider wie nachträglich zur dringend nötigen Ausdifferenzierung eingefügt. Es überwiegt die Lust daran, ihm und seinen Kumpels dabei zuzusehen, wie sie ihre wildesten Fantasien in die Tat umsetzen, und sich dabei einen Scheißdreck um irgendwelche Konsequenzen scheren. Ihr Fall am Ende ist weniger gerechte Strafe oder gar Triumph der Moral, als das Äquivalent zum Kater nach dem Rausch, zur unweigerlichen Baisse nach der Hausse. Es folgt auch nur den Gesetzen des Marktes. Daher übersteht Belfort seine Haftstrafe auch problemlos (die Marktwirtschaft ist auch im Bau installiert und an Geld mangelt es ihm nicht), kann er sein erworbenes Fachwissen anschließend vor erwartungsvoll an seinen messianischen Lippen hängenden Teilnehmern von Managementseminaren zum Besten geben. Aber dass die Welt ungerecht und Leute wie Belfort am Ende auch als Verlierer noch auf der Gewinnerseite stehen, ist keine allzu neue Erkenntnis. Das Herz Scorseses schlägt sicherlich am richtigen Fleck, formal gelingt der Coup einer dreistündigen Orgie ohne Netz und doppelten Boden auf beeindruckende Art und Weise, aber intellektuell hängt der Altmeister den Dingen mit THE WOLF OF WALL STREET weit hinterher.

 

 

 

Mit Filmen wie 300: RISE OF AN EMPIRE, POMPEII, NOAH, dem gerade im Kino laufenden HERCULES oder eben Renny Harlins THE LEGEND OF HERCULES feiert der in den späten Sechzigerjahren als Paradebeispiel für das überkommene Altherrenkino Hollywoods Monumentalfilm derzeit mal wieder ein kleines Revival. Die meist antiken Stoffe bieten reichlich Anlass für aufwändige Effekte im aufpolierten, zeitgemäßen CGI-Gewand, strahlende Helden und ausufernde Schlachten, allesamt Signifikanten für das, was man gemeinhin „großes Kino“ nennt. Wie zuletzt in POMPEII festgestellt, trägt die Idee eines technischen Updates aber nur bedingt: Man ist den neuen Perfektionismus längst gewöhnt und der Moment der bildlichen Überwältigung währt immer kürzer. Kaum ist man aus dem Kino raus oder ist die Blu-ray aus dem Player ausgeworfen, wartet schon der nächste Film mit noch besseren Effekten. Was die alten Monumentalschinken auszeichnet ist nicht der logistische Wahnsinn, der hinter Bauten, Kostümen und Massenszenen steckt, sondern die epische Größe, zu der diese Elemente zwar einen wichtigen, aber eben längst nicht den einzigen Beitrag leisten. Sie lässt sich mit dem routiniert-ökonomischen Runtererzählen, das in der Filmlandschaft heute gefragt ist, nicht erreichen. Das Ergebnis ist dann ein Film wie POMPEII, der zwar toll aussieht, aber trotzdem leer und abgeriegelt wirkt, wo er sich eigentlich in alle Richtungen ausdehnen sollte.

Harlin orientiert sich für seinen THE LEGEND OF HERCULES dann klugerweise auch nicht so sehr am Monumentalfilm Hollywood’scher Prägung, sondern eher am italienischen Peplum, am so genannten Sandalenfilm, mit seinen muskelprotzigen Helden, finsteren Schurken, der rührenden Naivität und dem unwiderstehlichen Camp-Appeal. Mit Kellan Lutz als Hercules steht ein Hauptdarsteller zur Verfügung, in dem sich bubenhaftes Aussehen, ein steroidgestählter Body und die nötige Tumbheit vereinen. Vor allem die Liebesszenen zwischen ihm und der hübschen Hebe (Gaia Weiss) erinnern an kitschige Groschenhefte für alte Jungfern. Besonders süß ist ein Schäferstündchen in einem spontan im Wald errichteten und mit Muschelschmuck und wehenden Tüchern dekorierten „Love Shack“. Ähnlich putzig ist es, wenn die mit zwei grauen Haarsträhnen sehr nachlässig auf alt getrimmte, 34-jährige Roxanne McKee als Königin Alkmene den nur ein Jahr jüngeren Schauspieler Liam Garrigan todernst als „mein Sohn“ ansprechen muss. Da fühlt man sich an Zeiten erinnert, in denen „Make believe“ noch etwas mit Poesie zu tun hatte und nicht von Computerprogrammen übernommen wurde. Wer als kleiner Junge seine Eltern anflehte, für die Ausstrahlung eines Ursus-Films länger aufbleiben zu dürfen, der wird sich über Faustkämpfe gegen Löwen, die archetypische Auspeitschung oder im richtigen Moment gen Erde entsendete Grüße von Götterpapa Zeus genauso freuen wie ich. Da ist es fast ein bisschen schade, dass Harlin sich nicht konsequent von herrschenden Trends losmachen kann: Die visuell an Zack Snyders 300 erinnernde Eröffnungssequenz ist ohne Zweifel fantastisch, aber später hindert die typisch monochrome Farbgebung und das Color Grading den Film oft daran, richtig abzuheben. Auch die Story selbst ist ein Zugeständnis an den Massengeschmack: Harlin spart die munteren Episoden um die von Herkules zu absolvierenden Prüfungen ganz aus, erzählt stattdessen von der etwas ermüdenden Rivalität zwischen dem Halbgott und seinem irdischen Stiefpapa, dem tyrannischen König Amphytrion (Scott Adkins), der den unerwünschten Sohnemann nach Ägypten verbannt, von wo der sich im Gladiatorenstil bis in die Heimat zurückkämpfen muss. Ich hätte mir da schon etwas mehr Exzentrik gewünscht.

Dennoch hat THE LEGEND OF HERCULES mehr Zuneigung verdient als die lausigen 4,2 Punkte, die ihm derzeit auf IMDb zugedacht werden. Man merkt dem Film jederzeit die Professionalität seines Regisseurs an, der sich in den zahlreichen Fightszenen sichtlich von Isaac Florentine hat inspirieren lassen. Keine hektischen Schnittgewitter trüben das Vergnügen, dafür werden die Körper in Momenten besonderer Anspannung immer wieder übergangslos in kurzen Zeitlupeneinschüben festgehalten. Wäre THE LEGEND OF HERCULES nicht mit seiner Freigabe auf Familientauglichkeit getrimmt worden, ginge es also etwas blutiger zur Sache, dann dürfte man hier gar von einer handfesten Action-Überraschung sprechen. So bleibt ein Sandalenfilm-Revival, das trotz aller Kompromisse ein angenehmer Anachronismus ist und sein fürstliches Budget von 70 Millionen Dollar demzufolge nicht einmal annähernd wieder einspielte. Traurig, vor allem für Harlin.

Über kaum eine der aktuellen Marvel-Verfilmungen wurde vonseiten der Nerds so viel Häme und Hass ausgekübelt wie über THE AMAZING SPIDER-MAN. Zwar schien man sich einig darüber, dass Sam Raimis SPIDER-MAN 3 eine einzige Katastrophe gewesen war, aber das voreilige Rebooting stieß dann doch nur auf wenig Verständnis. Raimi hatte mit SPIDER-MAN 2, vielleicht einer der besten Superheldenfilme überhaupt, einigen Kredit bei den Fans erwirtschaftet. Ich muss ja sagen, dass mir THE AMAZING SPIDER-MAN ganz gut gemundet hat: Ich bin wohl einfach zu wenig Comic-Geek, um mich über die „Fehler“ zu ereifern, die dem Film als Sakrileg vorgeworfen wurden. Aber die Tatsache, dass ich mich knapp 18 Monate nach der Sichtung des Films rein gar nicht mehr an ihn erinnern kann, nicht einmal an einzelne Details oder den Schurken, lässt mich mein damaliges Urteil durchaus etwas in Zweifel ziehen. Zumal die neueste Installation tatsächlich ein ziemlicher Reinfall geworden ist.

Wie so viele der aktuellen Blockbuster ist THE AMAZING SPIDER-MAN 2 mit 150 Minuten viel zu lang geraten. Und es ist erstaunlich, dass es ihm trotz dieser epischen Länge nicht einmal annähernd gelingt, so etwas wie Tiefe zu erreichen. Den Großteil der Handlung nimmt das amouröse Hin und Her zwischen Peter Parker (Andrew Garfield) und Gwen Stacy (Emma Stone) ein, das ebenso sehr Klischee bleibt wie die Liebe der beiden Behauptung. Beide stehen sich schmachtend gegenüber und sagen ihre Dialogzeilen auf, das war’s. (Lustig, weil ich einem Blogger, der genau das in seinem Text zum ersten Teil bemerkt hat, via Kommentar noch vehement widersprochen hatte. Wahrscheinlich muss ich mich aus de Ferne entschuldigen.) Die Ausdauer, die das Drehbuch für diese hohle Romanze aufbringt, geht eindeutig zulasten der Schurkenfiguren, die zwar mit Leichtigkeit das interessanteste am ganzen Film sind, aber trotzdem keinerlei Persönlichkeit entwickeln dürfen. Der zerstreute Oscorp-Hausmeister Max Dillon (Jamie Foxx) träumt von nichts so sehr, wie einmal wahrgenommen zu werden. Als er sich durch einen Unfall in einen menschlichen Dynamo namens Electro verwandelt und auf dem Times Square ein Chaos anrichtet, hat er seine 5 Minuten Ruhm, wird jedoch nicht wie Spidey als Held gefeiert, sondern als Freak beschimpft. Und das ist auch schon seine ganze Geschichte: Loser will Liebe, schießt übers Ziel hinaus, wird endgültig verstoßen, will Rache. Peters Freund Harry (Dane DeHaan) hingegen, Millionenerbe des Oscorp-Vermögens, sieht hingegen dem Tod durch eine schreckliche Krankheit entgegen, die ihm von seinem Vater vererbt wurde. Er glaubt, das Blut Spider-Mans könne ihm helfen, Peter fürchtet hingegen, die Injektion könne ihm erst recht das Leben kosten und verweigert seinem Freund den Wunsch. Peng, fertig ist die Hassbeziehung und der Rachewunsch, den Harry in Gestalt des Green Goblins auszuagieren gedenkt. Mir ist bewusst, dass die Comics, auf denen die Marvel-Filme basieren, sich nicht unbedingt durch psychologisch ausgeklügelte Charaktere und Konflikte auszeichneten, sondern vor allem durch archetypische Figuren und Plotkonstruktionen, die in expressiven Bildern abgewickelt wurden. Aber es ist eben ein Unterschied, ob man ein 30 Seiten dünnes Heftchen für 2 Dollar liest, oder eine Karte für ein solch breitgewalztes Multimillionen-Dollar-Effektspektakel löst, auf dem die Figuren überlebensgroß aufgeblasen werden. Wo ist die Liebe für die Figuren und ihre Emotionen geblieben, wo der Wunsch, sie auf der Leinwand zum Leben zu erwecken, anstatt sie noch zweidimensionaler zu machen, als sie es zuvor waren? Wie trist, fahl, lauwarm und schlicht öde dieser Film ist, ist mir aufgefallen, als ich nach ca. einer Stunde zum ersten Mal über einen Gag leise schmunzeln musste. THE AMAZING SPIDER-MAN 2 löste bei mir nichts aus. Rein gar nichts. Die wenigen Momente, in denen ich etwas aufmerkte, sind die Kämpfe, in denen endlich etwas passiert, das man nicht bis ins Detail vorhersehen kann, in denen sich endlich etwas bewegt. Der aufregendste Moment des ganzen Films ist der Cliffhanger um den neuen Gegner Rhino (Paul Giamatti), den man hoffentlich im nächsten Film zu sehen bekommt. In den wenigen Auftritten, die ihm hier spendiert werden, verströmt er mehr Esprit und Persönlichkeit als die übrigen 149 Minuten zusammen. Zeitverschwendung.

Es gibt sie also doch noch, die Genrefilme, die nicht irgendwelchen Trends, sondern nur sich selbst verpflichtet sind. Filme, die keine hirnrissigen Konzepte, ausgeklügelte Prämissen oder überkandidelten Effekte benötigen, um den Zuschauer für die Dauer von 150 Minuten in ihren Bann zu schlagen. Denen das vielmehr allein mit einer packenden Geschichte, exzellenten Charakterzeichnungen und ebensolchen Darstellerleistungen gelingt. Die über einen ausgefeilten visuellen Stil verfügen, der aber im Dienst des Ganzen steht, anstatt dieses zu überragen. Die einen das ganze Spektrum menschlicher Gefühlsregungen durchlaufen lassen, ohne dabei den Verstand zu vernachlässigen. Die uns an unsere eigenen Abgründe führen, uns aber nicht brutal hineinstoßen, sondern uns liebend umfangen. Filme wie Denis Villeneuves meisterlichen PRISONERS.

Für den zweifachen Vater und liebenden Ehemann Keller Dover (Hugh Jackman) bricht eine Welt zusammen, als seine Tochter während eines Thanksgivingsday-Besuchs beim befreundeten Ehepaar Birch (Terrence Howard & Viola Davis) gemeinsam mit dessen Jüngster spurlos verschwindet. Nur ein heruntergekommenes Wohnmobil, das die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen auf sich gezogen hatte, nun aber verschwunden ist, gibt einen möglichen Hinweis auf ihren Verbleib. Der Polizeibeamte Detective Loki (Jake Gyllenhaal) bekommt den Fahrer des Vehikels schnell in seine Hände: Es ist der zurückgebliebene Alex Jones (Paul Dano), aber es finden sich keinerlei Hinweise darauf, dass er den Mädchen etwas angetan haben könnte. Keller ist jedoch überzeugt, dass Jones etwas weiß, und aufgebracht, als er erfährt, dass er wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Er entführt den jungen Mann und sperrt ihn in einem leerstehenden Gebäude ein, um ihn dort gemeinsam mit Franklin Birch solange zu foltern, bis er ihnen verraten hat, wo die Mädchen zu finden sind. Während sich die beiden ohne Ergebnis an ihm abarbeiten, kommt Loki einem weiteren Verdächtigen auf die Schliche …

PRISONERS befasst sich zunächst sehr eindringlich und differenziert mit dem Thema „Selbstjustiz“: Dass Kellers Handeln, die sadistische Grausamkeit, mit der er sich an Jones vergreift, nicht nur aus juristischer, sondern auch aus moralischer Sicht falsch ist, daran lässt Villeneuve keinen Zweifel. Trotzdem bringt er Verständnis für den Mann auf und macht nachvollziehbar, wie es zu seiner Tat kommen konnte. Er ist ein Mann, der seinem Sohn predigt, immer auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, stets mit dem Schlimmsten zu rechnen und sich dafür zu wappnen, alles, was einem heilig ist, mit dem Leben zu verteidigen. Und dann schlägt das Schicksal mit äußerster Härte zu und erwischt ihn, dessen Keller für die Postapokalypse ausgestattet ist, ohne ihm überhaupt eine Chance zum Kampf zu bieten. Wenn er Jones überfällt und verschleppt, ihn ausdauernd verhört und verprügelt, bis er merkt, dass er zu drastischeren Maßnahmen greifen muss, wird seine ganze Hilflosigkeit sichtbar. Er will das nicht tun. Aber er ist nicht in der Lage, in die Passivität zu verfallen und auf die Polizei zu hoffen, weil ihm eingetrichtert wurde, dass er selbst für seine Interessen eintreten muss. Dieser Mann ist ein absolut lebendiger, facettenreicher Charakter, keine Schablone, die danach geschnitten wurde, bloß eine Botschaft zu übermitteln. Zu Beginn, wenn er seinen Sohn erst dazu anleitet, sein erstes Reh zu schießen, ihm dann bei der Rückfahrt im Pick-up die oben skizzierte Rede hält, habe ich ihn für einen typischen Redneck-Charakter gehalten. Doch dann stellen sich seine besten Freunde als durch und durch bürgerliche Afroamerikaner heraus und das Bild, das ich mir voreilig zurechtgezimmert hatte, fiel in sich zusammen. Villeneuve hält seinen Film mit solchen Überraschungen nicht nur spannend, er vermeidet auch die allzu leichten Antworten. Als der an seiner Tat leidende Franklin seine Gattin über das gemeinsame Folterprojekt in Kenntnis setzt, beendet die den Spuk nicht etwa, sondern hält Keller dazu an, weiterzumachen: Auch sie kann die schwindende Hoffnung, dass Jones etwas zu verbergen haben könnte, nicht gänzlich fahren lassen. Villeneuve bestätigt den Verdacht Kellers schließlich, dennoch rechtfertigt er damit nicht dessen Tat. Am Ende fließen all diese verzweifelten Handlungen in eine unerbittliche Kausalkette ein, die viele Jahrzehnte zurückreicht, ein trauriges Monument für die Schwäche und die Anfälligkeit des Menschen. Wenn es ihm ans Leben geht, sind Jahrtausende von Sozialisation und Zivilisation dahin und er zeigt unerbittlich seine Zähne. Er ist schwach.

Mehr als nur um Selbstjustiz geht es in PRISONERS aber überhaupt um Gewalt, darum wie sie von Generation zu Generation weitervererbt wird, wie der Druck damit immer weiter ansteigt, bis er schließlich nicht mehr auszuhalten ist. Es ist kein Zufall und nicht nur ein Mittel zur einfachen Affektbindung, dass es ausgerechnet um Kindesmissbrauch geht. Villeneuve wirft ein sehr kritisches Auge darauf, wie in unserer Welt mit Kindern umgegangen wird. Und er zeigt, dass Kinder, die unter Gewalt zu leiden hatten, selbst anfällig dafür werden, Gewalt gegen Schwächere anzuwenden. Es gibt mehrere solcher Missbrauchsopfer im Film, fürs Leben gezeichnete, bemitleidenswerte Geschöpfe, und alle mit einer ungesunden Fixierung auf Kinder. Aber auch Keller, ohne Zweifel ein guter Vater, ist ein gutes Beispiel dafür, welche Defekte Erziehung verursachen kann, selbst wenn sie nicht gegen Gesetze verstößt. Die Worte seines Vaters haben unauslöschliche Spuren in ihm hinterlassen und die Eskalation, die PRISONERS zeigt, erst ermöglicht. Und er gibt seines Vaters Botschaft seinerseits an seinen Sohn weiter, der in Zukunft auf seine Art und Weise damit umgehen wird. Wir erfahren nicht, was mit Loki ist. Aber in seinem linkischen Verhalten, der brüterischen Versessenheit, mit der er sich in seinen Fall hineinsteigert, der Zögerlichkeit, mit der er auf private Fragen reagiert, und der Wut, die ihn überfällt, wenn er nicht weiterkommt, meine ich auch bei ihm eine verräterische Verwundbarkeit erkannt zu haben. Vielleicht kann er sich mit den verschwundenen Mädchen auch deshalb so gut identifizieren, weil er selbst unschöne Erfahrungen gemacht hat? Es wird nie explizit, aber die durch und durch bedrückende Atmosphäre, die Villeneuve erzeugt, begünstigt solche Spekulationen. Die herbstlich-schmuddelige Tristesse und die  graue Gesichtslosigkeit der Settings erzeugen in Verbindung mit der langsam kriechenden Kamera, den forsch hingestellten Totalen und dem klagenden Score eine Stimmung allumfassender Traurigkeit, die den singulären Fall, um den es geht, weit überschreitet. Die ganze Welt ist aus den Fugen geraten und man kann am Ende nur ahnen, wie tief sich die im Zentrum stehenden Verbrechen in das Erbgut der Kleinstadt, in der der Film spielt, eingefressen haben. No one here gets out alive.

(Kurze Bemerkung zum Schluss: Jackman und Gyllenhaal sind wirklich grandios in PRISONERS, füllen jede Nuance ihrer vielschichtigen Charaktere mit Leben aus, aber noch mehr beeindruckt hat mich Terrence Howard. Er hat keine große Rolle und bekommt auch nicht irrsinnig viel Gelegenheit zu brillieren, aber er schafft es, so in seiner Figur, einem mittelständischen, durchschnittlichen Familienvater, zu versinken, dass ich ihn erst in der Mitte des Films überhaupt erkannt habe. Ihm ist dieses Kunststück ganz ohne angefressenes Körperfett oder gesundheitsschädigende Magerkur, ohne lustiges Toupet oder Nasenattrappe gelungen – oder was Maskenbildner sonst noch so auffahren, um Menschen ein anderes Gesicht zu verleihen –, ganz allein durch sein Spiel. Diese Leistung, in einem kleinen, im Grunde genommen undankbaren Part ganz und gar aufzugehen, so sehr, dass die eigene Prominenz dahinter verschwindet, finde ich fast noch bemerkenswerter als mit großen, herausfordernden Rollen zu triumphieren.)