Archiv für November, 2014

Der Pianist Jean-Marc (Michel Lemoine) tritt mit seiner Freundin Brigitte (Sylvia Sorrente) ein Sommerengagement in der Strandbar von Maria (Monique Just) an. Das Etablissement gehört Marias Ehemann, einem schon etwas älteren Herren, der in einem Schlafzimmer im ersten Stockwerk des Gebäudes seinem unausweichlichen Tod entgegendämmert. Die drei Personen beginnen sich nun, beeinflusst von der schläfrig machenden Sommersonne und dem unablässigen Rauschend des Meeres, in einer selten Gutes verheißenden Dreieckskonstellation anzuordnen. Als Marias Ehemann plötzlich das Zeitliche segnet, schießen die gegenseitigen Verdächtigungen ins Kraut. Das Barmädchen   Françoise (Giséle Gallois) will Brigitte dabei beobachtet haben, regelmäßig ins Zimmer des Kranken gegangen zu sein, Brigitte wiederum glaubt, ihr Liebhaber habe sich mit dem Mord bei Maria andienen wollen. Die ohnehin auf buchstäblich sandigen Untergrund gebaute Harmonie zerbricht, Brigitte reist wütend ab und lässt ein neues Pärchen mit frisch, aber machtvoll aufkeimenden Gefühlen zurück. Bis zu einem überraschenden Geständnis …

José Bénazérafs Debüt von 1963 ist reine Poesie, nach außen getragene und in Bildern geronnene Empfindung. Während der ersten zwei Drittel lebt er ganz von der unwirklichen Atmosphäre an dem fast immer menschenleeren Strand, an dem Marias Lokal weniger wie ein sozialer Treff- als wie ein Fluchtpunkt für Ge-Strandete wirkt. Hier werden nicht in erster Linie Gäste bewirtet, vielmehr schlagen die Angestellten dort die Zeit tot, von der sie viel zu viel haben. Man ergeht sich in eitlen Scheinkonflikten, ziellosen Diskussionen über die Zukunft oder schlicht im lässigen Müßiggang. Als Zuschauer macht man gern mit, weil dieses Leben ein bisschen so aussieht, wie man es sich in jugendlich-naiven Aussteigerfantasien erträumt hat: irgendwo im Süden einer Alibitätigkeit nachgehen, die nur Vorwand ist, um den ganzen Tag in der Sonne herumzuhängen, selbsgedrehte Zigaretten zu rauchen, Pernod zu trinken und den örtlichen Rassefrauen auf das üppig wogende Dekolletee zu starren. L’ÈTERNITÈ POUR NOUS hat diese Nachmittagsstimmung, die ich so liebe und die mir fast jeden Film, der sie so gelungen transportiert wie dieser hier, ans Herz schweißt. Sie lässt sich nur schwer beschreiben, wahrscheinlich, weil ich es mit sehr persönlichen Eindrücken aus der Kindheit verbinde: eine gewisse Schwere gehört dazu, das Gefühl, das die Zeit stehen bleibt, eine leichte, die Sinne betäubende Müdigkeit, die aber paradoxerweise alles umso schärfer hervortreten lässt, anstatt die Konturen zu verwischen. Bénazérafs Film ist fast nichts außer dieser Stimmung, die er nicht zuletzt im Gegensatz libidinöser Spannungen (verkörpert durch das Meer) und der fast völligen Abwesenheit jeglicher bewusst ausgeführter Handlungen (das müde, bloß Da-Sein der Bar und ihrer Gäste) heraufbeschwört. Teilweise ist die Passivität der Protagonisten kaum zu ertragen und man freut sich, wenn sie den Mund halten und tanzen, wie die einfältige, aber beeindruckend kurvenreiche Brigitte.

Der Film hat mich im letzten Drittel leider ein bisschen verloren, aber ich glaube, Bénazéraf hat trotzdem alles ganz richtig gemacht. Brigitte packt ihren Koffer und lässt Jean-Marc mit Maria zurück, und die beiden beginnen nun eine ernsthafte Liebesbeziehung anzubahnen, fast ein bisschen wie Kinder, die im Vater-Mutter-Kind-Spiel Handlungen der Erwachsenen imitieren, die sie noch nicht richtig verstehen. Der französische Originaltitel kommt möglicherweise aus einem der Dialoge zwischen den beiden, die klingen, als hätten zwei Neurotiker zu viele schlechte Gedichte gelesen. Und immer wieder gehen sie spazieren, es nimmt gar kein Ende mehr. Lagen sie zuvor ständig faul in der Sonne oder hingen sie lustlos in den Räumlichkeiten der Bar herum, ist die neugefundene Liebe anscheinend nur in Bewegung zu ertragen. Was man verstehen muss, wenn man L’ETERNIT’E POUR NOUS bis zum Ende ertragen will: Bénazéraf ist kein klassischer Geschichtenerzähler und an Psychologie auch nicht interessiert. So wie sich Maria und Jean-Marc verhalten, benimmt sich kein normaler Mensch, und das weiß Bénazéraf auch. Wenn man mich fragen würde, würde ich sagen, es geht hier um die Urgewalt der Gefühle und darum, wie sie Menschen ohnmächtig machen, lähmen. Jean-Marc, Maria und Brigitte sind der Situation, in die sie geraten, zu keiner Sekunde gewachsen. Sie verstärken ihre schlechtesten Seiten und Impulse, ohne das zu bemerken oder daran etwas zu ändern. Sie sind betäubt von der Nachmittagssonne und vom Nichtstun. Die Filme, die ich bislang von Bénazéraf gesehen habe (COVER GIRLS und ST. PAULI ZWISCHEN NACHT UND MORGEN), sind ganz ähnlich. Sie suggerieren eine Welt, die keineswegs von den ach so abgeklärten modernen Menschen beherrscht wird, sondern eher durch flüchtige Gesten und unbedachte Blicke, eher durch den Zufall als Planung, eher durch den Trieb als die Vernunft bestimmt wird. Der Mensch zeigt sich in ihnen als von sich selbst entfremdet, Treibgut in einem Ozean ihm nicht mehr verständlicher Empfindungen. Und irgendwann kommt eine Welle, die ihn davonspült.

the sacrament (ti west, usa 2013)

Veröffentlicht: November 24, 2014 in Film
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Der für das Magazin „Vice“ tätige Journalist Patrick (Kentucker Audley) erhält von seiner Schwester Caroline (Amy Seimetz) einen rätselhaften Brief. Sie schreibt, dass sie sich einer Religionsgemeinschaft angeschlossen habe, und lädt ihn ein, sich ein Bild von ihrem neuen, paradiesischen Leben irgendwo in Mittel- oder Südamerika unter der Ägide eines mysteriösen „Vaters“ (Gene Jones) zu machen. Patrick nimmt seine beiden Kollegen mit, den werdenden Vater Sam (AJ Bowen) und den Kameramann Jake (Joe Swanberg). Gemeinsam hoffen sie auf eine interessante Story und vielleicht sogar ein Interview mit dem Sektenführer. Als sie vor Ort erst von Männern mit Maschinengewehren in Empfang genommen und dann mit Hilfegesuchen verzweifelter und keineswegs glücksseliger Jünger konfrontiert werden, bekommen sie es jedoch mit der Angst zu tun …

Auch wenn Ti Wests im weitesten Sinne dem Found-Footage-Subgenre zurechenbarer neuester Film nach geltenden Authentifizierungsregeln so tut, als schildere er ein reales aktuelles Ereignis, so bezieht er sich doch eindeutig auf das mittlerweile 36 Jahre zurückliegende „Jonestown-Massaker“. In dem von James Jones für die von ihm gegründete Sekte „Peoples Temple“  gegründeten Dorf im Norden Guyanas brachten sich am 18. November 1978 913 von mehr als 1.000 Mitgliedern, darunter auch 276 Kinder, durch die freiwillige Einnahme eines Gifttrankes selbst um. Dem Massensuizid waren mehrere Fluchtversuche von Gemeindemitgliedern vorausgegangen, die von dem autoritär und außerhalb jedes staatliche Zugriffs agierenden Jones jedoch vereitelt worden waren. Beim Besuch des US-amerikanischen Kongressabgeordneten Leo J. Ryan und einiger Journalisten, die sich von der Situation vor Ort ein Bild machen wollten, kam es zur Eskalation, bei der der Politiker und einige seine Begleiter umgebracht oder schwer verletzt wurden. Der von allen „Vater“ genannte Jones verordnete noch am selben Tag via Lautsprecher den Suizid als einzig möglichen Ausweg vor dem drohenden Übergriff durch Politik und Medien.

Ti West verlegt die Geschichte, die damals weltweit für Aufsehen sorgte (und noch im selben Jahr von Exploitation-Papst René Cardona jr. als GUYANA: CULT OF THE DAMNED sowie wenig später mit Powers Boothe als Jim Jones auch fürs Fernsehen verfilmt wurde), in die Gegenwart, lässt den US-Politiker weg und ändert Namen und konkrete Bezüge, hält sich sonst aber sehr eng an die damaligen Ereignisse (zumindest soweit ich das anhand des Wikipedia-Artikels nachvollziehen kann). Das Co-Sign vom politisch suspekten Vice Magazine mutet etwas seltsam an, spielt aber nach der kurzen Exposition, in der das Logo prominent im Bild zu sehen ist, glücklicherweise keine Rolle mehr. Ähnliches gilt für die Konzeption von THE SACRAMENT als Found-Footage-Film, die zunächst ein instinktives Gähnen hervorruft: Doch der Ansatz macht hier ausnahmesweise wirklich einmal Sinn, zumal Ti West ihn weitaus weniger stark in den Fokus rückt, als das anderswo der Fall ist. Über weite Strecken entfaltet sich THE SACRAMENT tatsächlich wie ein „normaler“ Spielfilm, der die Authentifizierungsstrategie eigentlich nicht benötigt, weil er sowieso in der Realität verortet ist. Die intradiegetische Kamera wird zur gewöhnlichen Requisite, die nur wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht, sondern einfach da ist, weil es die spezielle Situation der Protagonisten nun einmal erfordert.  All die Gimmicks, die man mittlerweile mit dem Found-Footage-Film assoziiert – Schwarzblende wegen technischen Ausfalls, verwackelte, unscharfe, unkomponierte Bilder, die führerlose, auf dem Kopf liegende Kamera – sind auch hier da, aber eigentlich nur, um den Zuschauer immer mal wieder daran zu erinnern, dass er einen Found-Footage-Film schaut. Ti West interessiert sich jedenfalls auffallend wenig für diese Spielchen. Der wichtigste Unterschied zu Filme wie dem Urvater CANNIBAL HOLOCAUST oder aktuelleren Nachziehern wie THE BLAIR WITCH PROJECT, CLOVERFIELD oder PARANORMAL ACTIVITY ist jedoch der, dass THE SACRAMENT streng genommen gar kein Found-Footage-Film, sondern ein Delivered-Footage-Film ist. Der Unterschied mag gering erscheinen, zumal er erst ganz zum Schluss evident wird, aber er ist wesentlich.

Es verwundert mich nicht besonders, dass THE SACRAMENT von Publikum und Kritik eher verhalten aufgenommen worden ist. Lobeshymnen hat Ti West ja schon für seinen grandiosen HOUSE OF THE DEVIL nur von Menschen mit ausgesucht erlesenem Geschmack zu hören bekommen, dessen Reize aber selbst für solche armen Seelen, die den Film nur langweilig fanden, offenkundig waren. Mit THE SACRAMENT verhält sich das anders. Es gibt kein vollmundiges Versprechen, mit dem der Zuschauer gelockt würde, keine grellen Effekte, die seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, keine spektakuläre, „nie dagewesene“ Prämisse. Der „Schurke“ ist ein älterer Herr, der durchaus etwas creepy daherkommt, aber sich keineswegs als Monster offenbart und von den drei Protagonisten überleben am Ende immerhin zwei. Trotzdem hat Ti Wests Film seine Wirkung bei mir nicht verfehlt: Sie hält stattdessen auch einen Tag nach erfolgter Sichtung noch unvermindert an. Da ist etwas in Ti Wests Darstellung der Vorgänge in der Sektenkolonie (die bei ihm „Eden Parish“ heißt), in seiner Zeichnung des „Vaters“ (und der grandiosen Darstellung Jones‘) und der allgegenwärtigen, aber doch nie ganz greifbaren, belasteten, unwirklichen Atmosphäre an diesem Ort, das mir eine dauerhafte, subkutane Gänsehaut beschert hat. Vielleicht gerade weil dem Film die sensationsheischende Übersteigerung fehlt. Am Ende gab es kurz diesen Moment, an dem ich dachte, dass West sich jetzt dazu versteigt, seinen „Vater“ einen langen Monolog halten und einen wie auch immer gearteten diabolischen „Plan“ erklären zu lassen, aber es kommt dann zum Glück doch nicht dazu. Das Mysterium bleibt bestehen, der Film ist nicht mehr, als das, was man sieht, sehe muss, aber nicht begreifen kann: Da bringen sich mehrere hundert Menschen ohne Not in blinder Bereitschaft um, einfach nur, weil sie den Worten dieses Mannes ungebrochenen Glauben schenken. Eines Mannes, der damit keineswegs irgendeinen teuflischen Eigennutz betreibt, der alles glaubt, was er da sagt und tut, sich konsequenterweise mit seinen Jüngern umbringt (wenn auch nach ihnen). Und diese Ungeheuerlichkeit, sie steht in Ti Wests Film einfach so da, ohne Antworten, ohne symbolhaftes Greifbarmachen, ohne, dass versucht würde, dieses im Wortsinne Unbegreifliche in irgendeine Beziehung zu unserer Welt zu bringen (obwohl man natürlich unweigerlich beginnt, Verbindungen und Vergleiche zu ziehen). Es ist einfach nicht zu verstehen, was mit diesen Menschen passiert ist, aber man muss sich trotzdem damit abfinden, dass ein solches Ereignis absolut im Bereich des Menschenmöglichen ist, dass es mit Hilfsvokabeln wie „Wahnsinn“ oder der Vermutung der Bösartigkeit nicht hinreichend erklärbar ist.

Ti West begnügt sich damit das Grauen zu protokollieren wie seine Protagonisten, deren Weltbild nachhaltig gestört wird. Der beste, wirkungsvollste Horror, ist meist der, der vordergründig banal erscheint, der dann aber unendlich tiefe Abgründe offenbart. Hunderte Tote, alt und jung, schwarz und weiß, die am Vorabend noch zu Gospelmusik gesungen und getanzt haben, jetzt liegen mit Schaum vorm Mund unter strahlend blauem Himmel, weil ihr Vater ihnen per Lautsprecherdurchsage den Freitod befohlen hat. Ein bessere Bild für die die Unerklärlichkeit des Seins kann ich mir kaum vorstellen.

„Django“: noch mehr als für Franco Neros einen Sarg hinter sich herziehenden Revolverhelden, der vielleicht ganz einfach deshalb nicht tot zu bekommen ist, weil er längst nur noch als Geist auf der Erde wandelt, steht der Name für das Genre des Italowesterns. Sergio Corbuccis Film war nicht der erste und er ist vermutlich auch nicht der bekannteste, aber sein Einfluss ist kaum zu unterschätzen. Sergio Leone hatte mit den ersten beiden Teilen seiner Dollar-Trilogie wichtige Vorarbeit geleistet und den Grundstein gelegt, Corbucci warf noch die letzten an den US-Ursprung erinnernden Atavismen über Bord, und imaginierte die neue Westernwelt als eine versiffte Vorhölle voller Dreck und verkommener Subjekte. Sein Django war ein klassischer Underdog, ein Mann nicht ohne Namen wie bei Leone, aber doch ohne durchschaubare Vergangenheit, getrieben von einem tief im Inneren schlummernden Zorn. Der Krieg, in dem er gekämpft hat, hat ihn nicht etwa zum Helden gemacht, sondern ihn schwer gezeichnet: Was er dort genau erlebt hat, wird nie thematisiert, aber man erkennt den traumatisierten Veteran hinter dem maskenhaften Gesicht. Hier knüpft Tarantino mit DJANGO UNCHAINED an, der die Italowestern-Motivik von den gegen die Mächtigen ankämpfenden Underdogs  zu einer Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Geschichte der Sklaverei nutzt und damit fast noch mehr Blaxploitation- als Italowestern-Hommage ist.

Django (Jamie Foxx) wird von dem deutschen Kopfgeldjäger Dr. King Schultz (Christoph Waltz) befreit, weil der jemanden braucht, der drei Zielpersonen identifiziert. Bald arbeiten die beiden Hand in Hand und haben es dabei vor allem auf miese Rassisten, Sklavenhändler und -besitzer wie Big Daddy (Don Johnson) abgesehen. Der gemeinsame Weg führt sie auch auf das Anwesen von Calvin Candie (Leonardo DiCaprio), der sich Djangos Ehefrau Broomhilda (Kerry Washington) als Prostituierte hält. Die beiden erschleichen sich das Vertrauen des Großgrundbesitzers, indem sie sich als interessiert an einem „Mandingo“, einen schwarzen Kämpfer, zeigen. Djangos Braut soll nach ihrem Plan in einem unauffälligen Nebenhandel erworben werden. Doch die Tarnung fliegt auf …

Nachdem ich sowohl mit meinen Ersteindrücken zu sowohl DEATH PROOF als auch zu INGLOURIOUS BASTERDS massiv danebengelegen habe, bin ich vorsichtig geworden. Aber DJANGO UNCHAINED hat mich auch nicht entfremdet, wie es die beiden genannten Titel zunächst geschafft hatten: Wem die letzten Filme Tarantinos zu dialoglastig und akademisch waren, der wird mit seinem letzten rundum zufrieden sein. Ich bin geneigt, DJANGO UNCHAINED als Tarantinos kommerziellsten und zugänglichsten Film zu bezeichnen. Er ist rasant, wo der Vorgänger auffallend statisch war, plot- und handlungslastig, wo Plot und Handlung zuvor eher zweitrangig waren, aktionsgetrieben, wo früher meist gesprochen wurde. Als actionlastiger Western ist DJANGO UNCHAINED ein Erfolg und ich würde lügen, wenn ich behauptete, an den saftigen Blutfontänen, zerplatzenden Körperteilen und pointierten Episoden keinen Spaß gehabt zu haben. Auch dass Tarantino hier erneut einer sich nach vier Filmen zur handfesten Obsession ausgewachsenen Rachefantasie frönt, kann ich dem Film verzeihen – weil es dem Geist der Inspirationsquellen gerecht wird, weil ich den Akt der „poetic justice“, die hier vollzogen wird, begrüße, ich es als befreiend empfinde, wenn Drecksäcke wie Nazis, Rassisten, Sklavenhändler und anderes Pack auf der Leinwand ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Das Problem, dass ich habe, ist ein anderes: Ich finde, dass sich dieser Stoff nicht für diese Art Entertainment eignet. Auch INGLOURIOUS BASTERDS war in gewisser Weise kalkuliert, aber Tarantino fand dafür eine Form, die verhinderte, dass die Ermordung von Juden und Nazis einfach nur so reinlief. Der Film hatte Brüche, die die Immersion verhinderten, bei DJANGO UNCHAINED hingegen verdichtet sich der Eindruck, Tarantino sei seiner eigenen Verführungskunst oder zumindest dem Glauben an ihre unfehlbare Wirkung aufgesessen. Verglichen mit einem Film wie Fleischers MANDINGO, der seine Verstrickung in die Ausbeutungsmaschine, die die reale Sklaverei in Form von mit weißem Geld produzierten Blaxploitation-Filmen in der Gegenwart fortschreibt, gleich mitreflektiert, immunisiert sich Tarantino, indem er sich hinter seinem messianischem Helden und dessen clowneskem Begleiter (Christoph Waltz legt seine Rolle für meinen Geschmack etwas zu selbstverliebt und komisch an) versteckt und seine Schurken zu grotesken Arschlöchern und degeneriertem Gesindel verzeichnet. Eine Sequenz zeigt eine Versammlung des Ku-Klux Klans, dessen Mitglieder sich darüber beschweren, durch die Masken nicht richtig sehen zu können. Das ist durchaus lustig, aber allzu oft offenbart sich Tarantinos Bild jener Zeit als eindimensional und naiv, scheint ihm die Tragweite des Systems hinter der Sklaverei gar nicht bewusst. Bei ihm wird alles auf die einfache Gleichung „böse weiße Großgrundbesitzer knechten arme Schwarze“ reduziert. Ein kleines Detail, auf das mich meine liebe Gattin aufmerksam gemacht hat, deutet indes an, dass Tarantino seine problematische Haltung als weißer Filmemacher zu diesem Stoff sehr wohl reflektierte: So fahrlässig und inflationär das Wort „nigger“ hier gebraucht wird, gewissermaßen aus historischer Akkuratesse, Tarantino selbst verbietet es sich in seiner Rolle als australischer Sklaventreiber. Für ihn sind Schwarze „blackies“. Vielleicht ist die Begriffswahl auch nur Tarantinos enzyklopädischem Trieb geschuldet, aber wenn man bedenkt, dass er sich das berüchtigte „N-Wort“ in seiner Rolle in PULP FICTION noch erlaubte (etwas, was heute wahrscheinlich gar nicht mehr ginge), darf man dahinter sehr wohl einen Reifeprozess, gesteigerte Sensibilität und eine bewusste Entscheidung vermuten.

Solche „Haken“, die zur Auseinandersetzung, zur Reibung auffordern, und an denen es in Tarantinos Werk sonst nicht mangelt, habe ich in DJANGO UNCHAINED weitestgehend vermisst. Zum ersten Mal scheint es so, als habe der Tarantino sich damit begnügt, einen „Tarantino-Film“ zu drehen. Der Soundtrack verknüpft sehr vorhersehbar Soulklassiker, Italowestern-Scores und Hip-Hop, Franco Nero darf seinen Gastauftritt absolvieren und Jamie Foxx fragen, ob er wisse, wie man „Django“ schreibe. Alte Weggefährten und nicht genug gewertschätzte Nebendarsteller füllen die Besetzungsliste. Es hagelt Gewalt und Sadismen im Minutentakt. Das konnte man alles erwarten und bekommt es in zuverlässiger Qualität geliefert. Bislang zeichnete sich Tarantinos Werk aber nicht zuletzt dadurch aus, dass nie so wirklich klar war, was man bekam, und man sich vom fertigen Film mehr als einmal auf dem falschen Fuß erwischt sah. In diese Hinsicht ist DJANGO UNCHAINED schon eine Enttäuschung, wenn auch auf hohem Niveau.

 

Als ich DEATH PROOF zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mich danach in einem ziemlich polemisch formulierten Verriss über ihn ausgekotzt – und ich bin froh, dass der Text in den Tiefen meines alten Filmforen-Filmtagebuchs vergraben ist (Katastrophen-Touristen können ihn über den entsprechenden Link rechts ausfindig machen). Das Problem, das ich damals mit dem Film hatte, hängt unmittelbar mit seiner Vermarktung als Teil des GRINDHOUSE-Events zusammen. Mit einigen Fake-Trailern (u. a. zu MACHETE, der besser dieser kleine Gag geblieben wäre, anstatt ein saublöder ganzer Film zu werden) und Rodriguez‘ PLANET TERROR im Tandem kam Tarantinos neuester als Huldigung des Bahnhofskinos der Siebzigerjahre heraus. Zwar simuliert er typische Eigenschaften jener Filme nahezu perfekt – neben eher kosmetischen Details in der ersten Hälfte, wie der Typo der Credits, dem  verkratzten Look, den ausgewaschenen Farben und diversen Filmrissen, sind vor allem die Besetzung mit heißen, selbstbewussten Chicks, die Reduzierung des Plots auf ein einziges Bild, die Fokussierung auf etwas aus der Mode gekommene Stunts und Blechdeformationen, das abrupte Ende und die bewusst träge Dramaturgie zu nennen –, aber Tarantino interessiert sich ausdrücklich nicht für einfaches Nerdjerking. Wie das aussehen konnte, demonstrierte sein Mitstreiter Rodriguez mit PLANET TERROR: Generekino, das den Durst nach blutigen Sensationen und bescheuerten Einfällen des einschlägigen Publikums so gut befriedigte, das gar nicht mehr auffiel, dass der Film mit dem Bahnhofskino von einst, dem er huldigen wollte, eigentlich rein gar nichts zu tun hatte.

DEATH PROOF dampft den dialektischen Zweischritt von KILL BILL VOL. 1 und KILL BILL VOL. 2 auf einen Film ein, und erzählt mehr oder weniger ein und dieselbe Geschichte zweimal mit leicht veränderten Variablen: Eine Gruppe gut aussehender Frauen macht Bekanntschaft mit Stuntman Mike (Kurt Russell), der sich dann einen Spaß daraus macht, sie mit seinem Stuntcar zur Strecke zu bringen. In der ersten Episode, die in einem heftigen Frontalzusammenstoß zweier Autos kulminiert, der sogleich mehrfach aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt wird, gelingt sein Plan. Im zweiten Teil findet er selbst sein Ende, weil er sich an den falschen Damen, ihrerseits aus dem Filmgeschäft und darunter zwei weibliche Stuntfrauen, vergriffen hat. Der Bruch zwischen den beiden Kapiteln wird durch ein kurzes Umschalten zu Schwarzweiß und dann den Verzicht auf die Verschleiß und Alter des Filmmaterials suggerierenden optischen Marker signalisiert. DEATH PROOF „feministisch“ zu nennen, mag etwas zu viel der Ehre sein, aber wie etwa die Filme, die Roger Corman in den Siebzigerjahren mit New World Pictures produzierte, präsentiert auch Tarantino hier Frauen, die sich nicht in erster Linie durch die Zugehörigkeit zu einem Mann definieren und ohne einen solchen keineswegs unvollständig sind – zumindest in der zweiten Hälfte. In der ersten spielt Sexualität eine deutlich größere Rolle.

Drei Freundinnen – die amazonenhafte Radiomoderatorin Jungle Julia (Sydney Poitier), Arlene (Vanessa Ferlito) und Shanna (Jordan Ladd) – gehen zusammen aus und präsentieren selbstbewusst ihre Reize. Ein Spielchen von Julia soll der partnerlosen Arlene diverse Verehrer einbringen, in der Hoffnung, einen von Julia in Aussicht gestellten Lapdance von ihr zu erhalten. In der Bar, in der sie schließlich landen, hängen nicht nur diverse ölige Typen rum, sondern auch Stuntman Mike, der erst die naive Pam (Rose McGowan) aufgabelt, dann schließlich Arlene den Lapdance abringt, den sie eigentlich gar nicht geben will. Und Julia, die sich ganz als toughe Männermörderin inszeniert, sendet den ganzen Abend SMS an ihren Freund, der sie schließlich versetzt. Diese Frauen können den Ruch der sexuellen Verzweiflung, der sie umgibt, nicht ganz verbergen. In der zweiten Hälfte sind es die Maskenbildnerin Abernathy (Rosario Dawson), Schauspielerin und Fotomodel Lee (Mary Elizabeth Winstead) sowie die beiden Stuntfrauen Kim (Tracy Thoms) und Zoe Bell (Zoe Bell), die einen drehfreien Tag für eine Spritztour nutzen und das Interesse von Stuntman Mike auf sich ziehen. Nachdem sie einen Dodge Challenger aufgetrieben haben und die naive Lee (im Cheerleader-Outfit) losgeworden sind, attackiert sie der Killer, wird jedoch von ihnen zur Strecke gebracht. Auch in den vorangehenden, ausufernden Gesprächen dieser Damen spielen Beziehungsprobleme und Sex eine Rolle, doch der Modus ist ein gänzlich anderer. Weder wird aggressiv ein Partner gesucht noch sind Mangel oder „Besitz“ eines solchen definierende Eigenschaften. Die Frauen sind emanzipiert, selbstständig und für die Dauer ihres Ausflugs ist die Abwesenheit von Männern sogar deutlich willkommen.

Die Struktur, die optisch einen Wandel von alt zu neu suggeriert, scheint sonst eher den umgekehrten Weg zu beschreiten: Die zweite Hälfte ist näher dran an den erwähnten Empowerment-Exploitationern der Siebzigerjahre, deren Frauentypen, verglichen mit den hochgesexten Chicks um Jungle Julia, jedoch fortschrittlicher wirken. Wie passt Stuntman Mike in dieses Konstrukt? Bei seinem ersten Auftritt stellt er sich als Relikt aus einer vergangenen Zeit vor, als noch „echte Männer“ ihr Leben in waghalsigen Stunts  riskierten und Autos tatsächlich zu Schrott gefahren wurden. Er ist auch einer von denen, die durch die neue Technologie an den Rand gedrängt wurden. Kein Wunder, dass ihm die Mädels um Jungle Julia, nicht gewachsen sind, auch wenn sie ihn arrogant verlachen, in Verkennung der Situation, in der sie längst die Rolle des Kaninchens in der Falle eingenommen haben, es der selbstbewussten Damen aus der zweiten Hälfte bedarf, ihn zu überwinden. In dieser Lesart zeigt sich Tarantinos Hommage an das „handgemachte“ Kino von einst meines Erachtens auch stärker als in irgendwelchen formalen oder plotrelevanten Aspekten. Anstatt einfach nur mit Zitaten um sich zu werfen oder einen bewusst auf alte getrimmten Film vorzulegen, feiert Tarantino die Attitüde der alten Reißer, indem er sie von seinen Charakteren verkörpern lässt.

DEATH PROOF hat mir bei der Zweitsichtung sehr gut gefallen, wenngleich er vielleicht etwas zu akademisch gedacht und in der Einzelversion mit 110 Minuten deutlich zu lang ist (aber das galt ja für viele der alten Exploiter auch). Er wischt das Klischee von Tarantino als lustigem Trashfilm-Guru und Schutzpatron aller Nerds endgültig weg. Schnödes, zum dumpfen Abfeiern gedachtes Zitatekino, wie es etwa sein Freund Robert Rodriguez regelmäßig produziert, ist seine Sache nicht: Er hat immer das große Ganze und vor allem die Gegenwart im Blick. DEATH PROOF hätte kein anderer Filmemacher machen können. Ob das nun gut oder schlecht ist, muss wieder jeder für sich beantworten. Ich habe mich mittlerweile für die erste Variante entschieden.

Mit KILL BILL VOL. 2 erweitert Tarantino die zuvor verengte Perspektive und liefert den Kontext, in dem der Fragen aufwerfende Vorgänger zu verstehen ist. Die Fortsetzung ist somit nicht bloß inhaltliche Fortführung, sondern gleichermaßen Erweiterung, Kommentar und Korrektur (Mit DEATH PROOF wird Tarantino diese dialektische Struktur in einem Film bündeln). Letzteres teilweise sehr explizit: So klärt uns die zu diesem Zeitpunkt nach wie vor namenlose „Braut“ (Uma Thurman) zu Beginn via Voice-over darüber auf, dass sie mitnichten während, sondern bei der Generealprobe für ihre Hochzeit überfallen wurde. Auch ihren Namen enthüllt der Film nach kurzer Zeit: Beatrix Kiddo heißt die Rächerin, und das aus Bills (David Carradine) Mund zuvor noch leicht herablassend klingende „kiddo“ (etwa „Kindchen“) entpuppt sich somit als kernig-kumpelhafte Ansprache. Mit dieser Offenbarung legt die Heldin auch ihre Undurchdringlichkeit ab, sie verwandelt sich von der überstilisierten, zweidimensionalen Comicfigur in einen Menschen aus Fleisch und Blut. Und das beeinflusst den ganzen Film um sie herum.

KILL BILL VOL. 2 ist nach der stlistischen Tour de force des ersten Teils auffallend ruhig, der Gewaltanteil zudem deutlich reduziert: Ausgedehnte Splattereinlagen und Blutfontänen sucht man vergebens, und die finale Auseinandersetzung mit dem „Oberschurken“ Bill ist beinahe antiklimaktisch. Ebenso sein Tod durch die „Five Point Palm Exploding Heart Technique“, der schon vorher angekündigt wird: Wer ein ausgedehntes, blutiges Duell und einen platzenden Brustkorb erwartet hat, sieht sich bitter getäuscht. Die längere Sequenz, die Beatrix während ihrer Ausbildung beim chinesischen Kung-Fu-Meister Pai Mei (Gordon Liu) zeigt, erinnert mit ihren von alten Eastern abgeschauten Zooms, Trainingsmontagen und dem ausgestellten Spiel Lius noch an die Zitierfreude des Vorgängers, aber sie fällt aus hier sehr aus dem Rahmen. Es ist offenkundig, dass KILL BILL nicht leidglich aus ökonomischen Gründen in zwei Teile gesplittet wurde: Seine beiden Hälften sind wie das Yin und das Yang, einander geradezu diametral gegenüberstehend, sich in ihrer Verschiedenartigkeit aber zur perfekten Einheit vervollständigend. Teil 1 verkörperte Beatrix‘ Zorn, die Raserei, den Überschwang der Gefühle und den damit einhergehenden Kontrollverlust, Teil 2 schildert das Zurückgewinnen dieser Kontrolle und der Souveränität, die Klarheit, Ernüchterung, vielleicht auch Enttäuschung, die Einzug hält, wenn der Puls sich beruhigt hat. Im Grunde genommen ist KILL BILL VOL. 2 ein Film über das Erwachsenwerden. Er begleitet Beatrix auf ihrem Weg zur Mutterschaft. Und um eine verantwortungsvolle Mutter zu werden, muss sie sich von einigen Altlasten befreien. Tarantinos Film handelt, wie auch schon PULP FICTION, von der Auseinandersetzung mit und der Lösung von Vaterfiguren.

Wenn Beatrix am Schluss zu Bill kommt, ihrem ehemaligen Mentor, Ausbilder und Chef, aber eben auch dem einstigen Liebhaber und Vater der gemeinsamen Tochter, verwandelt sich das grellbunte Spektakel in ein ernstes, ruhiges Kammerspiel, ein Beziehungsdrama, wenn man so will. Zwar sind Schuss-, Schneid- und Hiebwaffen nie ganz außer Reichweite, und niemand käme auf die Idee, die beiden Protagonisten mit „normalen“ Menschen zu verwechseln, aber ihre nun folgende, meist verbale Auseinandersetzung lässt sich dennoch am besten als „authentisch“ und „einfühlsam“ beschreiben. Beide Charaktere tauschen sich über ihre gemeinsame Geschichte aus, Beatrix erklärt Bill, warum sie ihn einst verließ, verlassen musste, was in ihr vorging, als sie erfuhr, dass sie Mutter werden würde; Bill öffnet im Gegenzug Beatrix sein Herz, erklärt ihr, warum er sich verraten fühlte und wie es zu seiner, ähem, „Überreaktion“ kam. Für sie ist klar, dass das Leben, das sie bisher gelebt hat, nicht mehr lebbar ist. Und diese Erkenntnis macht die endgültige Abspaltung von Bill erforderlich. Bei dieser Trennung geht es nicht im Wesentlichen um Bill: Beatrix muss eine andere werden, eine selbstständige Frau (und in gewisserweise hat sie mit ihrer Mordtour bewiesen, dass sie das ist, nur der Modus war noch der alte). Der Wandel, den sie vollzieht, wird offenkundig, wenn man ihr Verhältnis zur anderen Vaterfigur des Films betrachtet: Pai Mei. Der wie ein Eremit auf einem Berg lebende Kung-Fu-Meister, der sich nicht gerade durch herausragende soziale Fähigkeiten auszeichnet, fordert von Beatrix totale Unterwerfung und absoluten Gehorsam – das Gegenteil von Emazipation und Selbstständigkeit. Und Beatrix fügt sich in diese Rolle, weil sie weiß, was sie zu gewinnen bzw. zu verlieren hat. Sie benötigt Pai Meis „väterlichen“ Rat, ist noch nicht soweit, sich ihm zu verweigern und ihm entgegenzutreten. Und ich meine, dass sich das Motiv des Vaterkonfliktes durchaus mit Tarantinos „love and theft“-Strategie kurzschließen lässt: KILL BILL VOL. 2 handelt dann auch von der Emanzipation des Regisseurs von seinen Einflüssen. Man kann sich Dinge aneignen, aber man muss lernen, seine Identität dabei zu bewahren.

Ich weiß noch, dass ich damals im Kino enttäuscht war von KILL BILL VOL. 2. Ich hatte mehr Wildheit erwartet, mehr grafische, comichaft überzogene Gewalt, mehr von dem, was den ersten Teil ausgezeichnet hatte. Ich verstand, was Tarantinos Plan war, wusste auch den größeren Tiefgang zu würdigen, aber war trotzdem insgesamt ein bisschen gelangweilt und underwhelmed. Wie Bill da am Schluss einfach zu Boden fällt, fast schon aufreizend undramatisch, ja geradezu uninszeniert, empfand ich als kleinen Affront. Heute ist das ganz anders. Gerade das Schlusskapitel des Films, das lange, ruhige Beisammensein von Beatrix und Bill, ihr verbales Ringen in einem Kampf, dessen Ausgang doch eigentlich schon längst vorgezeichnet ist, empfinde ich als begeisternd und berauschend, Bills „antiklimaktischen“ Tod als vielleicht einen der schönsten Tode wenn nicht gar der gesamten Kinogeschichte, so doch zumindest der letzten 30, 40 Jahre. Und KILL BILL VOL. 2 fügt sich als wichtiger Baustein in Tarantinos Werk.

Ich bin geneigt zu sagen, dass alles, was man damals in PULP FICTION als „tarantinoesk“ ausgemacht zu haben glaubte, tatsächlich in KILL BILL VOL. 1 und dort in geradezu karikaturesk übersteigerter Form zu finden ist. Die sechsjährige Pause zwischen JACKIE BROWN und diesem Film scheint längst nicht nur eine zeitliche Zäsur im Schaffen Tarantinos, seine danach entstandenen Filme sehen anders aus und fühlen sich anders an, ohne ihren Ursprung freilich gänzlich zu verraten. Ein gängiges Narrativ beschreibt Tarantino als den Videotheken-Nerd, der bei seiner Arbeit eine Passion für und ein immenses enzyklopädisches Wissen über das weltweite Exploitationkino entwickelte, seinen Lieblingen mit seinen eigenen Filmen ein Denkmal errichtet und ihnen zu größerer Bekanntheit und Respektabilität verhilft. Das meist eifrig hinterhergeworfene Stichwort lautet dann „Zitatekino“. Wenn man sich seine Filme bis KILL BILL VOL. 1 aber genau und frei von irgendwelchen Prädispositionen anschaut, fällt auf, wie sehr sie diesem etablierten Narrativ eigentlich widerstreben. PULP FICTION ist kein Genrefilm, formell und strukturell viel zu verspielt, viel zu literarisch, in seiner Gesamtanlage viel zu theoretisch, abstrakt und kopflastig, um selbst als „Exploitation“ durchgehen zu können. Und JACKIE BROWN mag noch so sehr vom Blaxploitation-Film der Siebzigerjahre inspiriert sein, er ist selbst ausdrücklich kein Blaxploiter. Der Begriff „Ausbeutung“ kommt dem Betrachter bei dieser warmherzigen, einfühlsamen Auseinandersetzung mit Alter und Armut kein einziges Mal in den Sinn. Und die Zitate, von denen immer die Rede ist, sind meist so eingebettet, dass sie nur wenig Aufmerksamkeit auf sich als Zitate ziehen: Das goldene Leuchten, das aus Marsellus Wallace‘ Koffer dringt, führen Film-Enthusiasten natürlich sofort mit Aldrichs KISS ME DEADLY zurück; aber man muss diesen Film nicht kennen, um das Leuchten zu verstehen (eigentlich verwirrt die Kenntnis des Zitats sogar ein wenig, weil das Leuchten in Aldrichs Film ja ein radioaktives Strahlen ist). Die Präsenz von Helmut Berger in LA BELVA COL MITRA, den sich Mel in JACKIE BROWN im Fernsehen anschaut, ist lediglich Anlass für einen kleinen Gag, eine Randbemerkung und darüber hinaus wohl durchaus Bekundung von Tarantinos Wertschätzung, aber in der Essenz letztlich bloß ein schmückendes Detail. Vielleicht kann man es so sagen: Zwar bestehen Tarantinos Filmwelten in den Neunzigerjahren in nicht unerheblichem Maße aus Verweisen auf Filme, aber sie ähneln darin doch noch sehr unserer Realität. Erst mit KILL BILL VOL. 1 beginnt Tarantino reine Kunstwelten und geschlossene Parallelwelten zu erschaffen.

So beginnt KILL BILL VOL. 1 mit dem „Shaw Scope“-Logo, dem sich der „Feature Presentation“-Screen anschließt, mit dem zahlreiche Drive-in-Kinos in den 60er- und 70er-Jahren den Beginn ihrer Hauptvorstellung ankündigten. Wir tauchen mithin nicht ein in eine fremde Welt, wir schauen einen Film. Und dieser Film erzählt eine gewalttätige und wilde Rachegeschichte, die sich vor allem aus Motiven des Italowesterns, des Samurai- und des Kung-Fu-Films in geringerem Maße des Horrorfilms speist: Die namenlos bleibende „Braut“ (Uma Thurman), unter dem Decknamen „Black Mamba“ einst Mitglied der von einem gewissen „Bill“ (David Carradine) befehligten Killertruppe „Five Deadly Vipers“, wacht nach vier Jahren aus dem Koma auf, in das sie ihre einstigen Wegbegleiter bei einem Überfall während ihrer Hochzeitszeremonie mithilfe eines Kopfschusses versetzt haben, und beginnt ihren Rachefeldzug gegen die Verräter. In KILL BILL VOL. 1 geht es im Wesentlichen um das Wiedererwachen der „Braut“ und ihre anschließende Auseinandersetzung mit O-Ren Ishii (Lucy Liu), Deckname „Cottonmouth“, die in den vier Jahren seit dem Attentat zu einem der mächtigsten Anführer der japanischen Yakuza aufgestiegen ist. Doch Tarantino wirbelt die Chronologie der Ereignisse durcheinander, blendet immer wieder in die Vorvergangenheit, um die Geschichte der „Braut“ und der Antagonisten zu beleuchten, und zersplittert den eigentlich sehr geradlinigen Plot mithilfe von Kapitelüberschriften in zahlreiche einzelne Episoden. So beginnt der Film mit dem Kampf der „Braut“ gegen Vernita Green (Vivica A. Fox), Codename „Copperhead“, der eigentlich das Ende des von KILL BILL VOL. 1 abgesteckten Zeitrahmens markiert. Ein längerer Exkurs befasst sich mit O-Rens Genese, zeigt in blutig stilisierten Anime-Bildern, wie sie vom jungen Mädchen zum Killer wurde. Ein weiteres Zwischenstück schildert das Zusammentreffen der Braut mit dem japanischen Schwertschmied Hattori Hanzo (Sonny Chiba). Surreal anmutende Bilder wie jenes eines durch den rotgoldenen Himmel über Japan gleitenden Flugzeugs, einer Motorradfahrt durch ein buntes, an die Godzilla-Filme erinnerndes Modellbau-Tokio oder des verschneiten japanischen Gartens, in dem die „Braut“ und O-Ren zum Duell antreten, unterstreichen den Eindruck, dass KILL BILL VOL. 1 in einem hyperrealen Popkultur-Universum angesiedelt ist. Auch wenn viele der auf der Connections-Seite der IMDb gesammelten Verweise wohl eher der selektiven Wahrnehmung der User zuzuschreiben sind, so erhält man doch einen Eindruck davon, wie dicht gewebt das Netz der Bezüge ist, das Tarantino in KILL BILL VOL. 1 aufspannt. Man könnte sagen, der Film ähnele dem endlosen Traum eines Filmfans, in dem sich von Soundtrack-Fetzen über einzelne Einstellungen oder auch ganze Szenen bis hin zu Ausstattungsdetails alles aus der Erinnerung an andere Filme speist. Auch vor seinen eigenen Filmen macht Tarantino dabei nicht halt: Wenn Vernita Green aka „Copperhead“ anmerkt, der Deckname „Black Mamba“ hätte besser zu ihr gepasst, muss man unweigerlich an die Namensdiskussion in RESERVOIR DOGS denken.

Weil sich KILL BILL VOL. 1 kaum in Beziehung zur Realität setzen lässt, ist die Frage, wovon er eigentlich handelt – abseits von Rache –, nicht so leicht zu beantworten. Auffällig ist, dass er das Konzept von „love & theft“, um das es schon bei PULP FICTION ging (zumindest, wenn man Thomas Elsaesser zustimmt), noch einmal expliziert. Davon ausgehend scheint er jedoch die Frage nach dem Wesen von Identität zu stellen, was natürlich mit Tarantinos filmischem Eklektizismus korrespondiert. Gewissermaßen: Kann das „Angeeignete“ das „Angeborene “ ersetzen? Dem Films vorangestellt ist ein klingonisches Sprichwort, was zum einen gelungener Gag ist, aber auch das sehr spezielle Verhältnis des Films zur Realität und das Tarantinos zur Kultur illustriert. Die „Braut“ spricht perfekt Japanisch und bekommt vom Meisterschmied Hanzo in einer Zeremonie ein wertvolles Samurai-Schwert verliehen, obwohl der doch geschworen hatte, nie wieder ein Schwert zu schmieden. Für sie ist es die Waffe der Wahl, wohl auch, weil sie in Japan zum Kampf antritt. O-Ren sieht hingegen nur die Weiße, die sich an der fremden Kultur vergreift:  „Silly Caucasian girl likes to play with Samurai swords.“ Das ist auch insofern erstaunlich, als O-Ren selbst ein „Mischling“ ist. Als Tochter eines Amerikaners und einer Japanerin sieht sie sich der offenen Ablehnung und Verachtung ihrer männlichen Yakuza-Kollegen gegenüber, die sie bitter bestraft: „The price you pay for bringing up either my Chinese or American heritage as a negative is… I collect your fucking head.“ Der Cliffhanger, mit dem KILL BILL VOL. 1 endet, suggeriert, dass zumindest einer der Gründe für den Amoklauf der „Braut“ hinfällig ist: Das Kind, mit dem sie bei ihrer gescheiterten Exekution schwanger war, lebt immer noch, und zwar in der Obhut seines leiblichen Vaters Bill, der ganz am Ende ihrer Todesliste steht.

Ich finde KILL BILL VOL. 1 höchst faszinierend, auch wenn mich Szenen wie das ausgedehnte Massaker an den „Crazy 88’s“, der Armee O-Rens, heute nicht mehr ganz so kicken wie damals im Kino. Er ist vor allem ein audiovisueller Rausch und wirkt wie der Film, den Tarantino aus seinem System spülen musste, um weitermachen zu können. KILL BILL VOL. 2 ist aus ganz anderem Holz geschnitzt – und wird auch den Kontext liefern, vor dem sein Vorgänger etwas mehr – oder überhaupt – Sinn ergibt.

Jackie Brown (Pam Grier), eine 44-jährige Stewardess einer kleinen mexikanischen Airline, verdient sich etwas als Geldkurier des Waffen- und Drogenhändlers Ordell Robbie (Samuel L. Jackson) dazu. Weil sie schon einmal in einer Drogensache auffällig geworden ist, lauert ihr der Kriminalbeamte Ray Nicolette (Michael Keaton) auf, der es auf Robbie abgesehen hat, und zwingt sie zur Mitarbeit: Sie soll ihn bei der Übergabe von 500.000 Dollar in die Falle locken. Doch Jackie hat eine bessere Idee: Gemeinsam mit dem Kautionsagenten Max Cherry (Robert Forster) schmiedet sie einen Plan, mit dem sie Nicolette und Robbie hereinlegen und das Geld dabei für sich einstreichen kann …

In PULP FICTION ging es nach Thomas Elsaesser nicht zuletzt um „love and theft“, darum, wie Weiße schwarze Kultur (die sie lieben) für sich vereinnahmen (also stehlen). Mit JACKIE BROWN holt Tarantino diesen Subtext nun gewissermaßen auf die strukturalistische Ebene, indem er selbst als weißer Filmemacher einen Film macht, der nach dem Vorbild der Blaxploiter der Siebzigerjahre gefertigt ist. Mit Pam Grier übernimmt ein ehemaliger Star des Genres die Hauptrolle und der Soundtrack wird überwiegend von Größen der Soul- und Funk Music bestritten. Das dem Blaxploitation-Film inhärente Thema des Kampfes der Unterdrückten um Selbstbestimmung und Gleichberechtigung holt Tarantino aber auf eine realistische, soziale Ebene zurück, indem er seine schwarze Heldin auch noch zu einer mittelalten Geringverdienerin macht, die sich ernste Gedanken um ihre Zukunft machen muss, und ihr einen 56-Jährigen zur Seite stellt, der sich in sie verliebt und durch diese Liebe beginnt, sein eigenes Dasein zu hinterfragen. Den ewigen, nicht erwachsen werden wollenden und in ödipalem Ringen begriffenen Jungspunden aus PULP FICTION setzt er mit Jackie Brown und Max Cherry zwei Charaktere entgegen, die ihre Sturm- und Drangzeit längst hinter sich haben und die sich vielmehr damit beschäftigen, wie sie ihr Leben ausklingen lassen wollen.

Soweit ich mich erinnere, bedeutete JACKIE BROWN das Ende der nach PULP FICTION grassierenden Tarantino-Verehrung. Viele, die jenen Film für all jene Oberflächenmerkmale so liebten, die man damals mit dem Regisseur verband, kehrten ihm nach diesem mit Spannung erwarteten Drittwerk enttäuscht den Rücken. Sie vermissten wahrscheinlich die ausgestellte Coolness von Auftragskillern in schwarzen Anzügen und Bonnie-und-Clyde-Pärchen, die Dialoge über unterschiedliche Hamburger-Benennungen, die heftigen Gewaltausbrüche, die verschachtelte Narration. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass JACKIE BROWN einen sehr viel ruhigeren, gemächlicheren Rhythmus anschlägt. Ganz im Stile des Heist Movies spielen Langsamkeit und Geduld eine sehr wichtige Rolle. Ein großer Coup will sorgfältig geplant statt überstürzt werden und wer wüsste das besser, als Jackie und Max, zwei Menschen, die sich im Leben eingerichtet haben wie auf einer gut eingesessenen Couch? Ein Fauxpas wie Vincent Vega, dem Killer aus PULP FICTION, der auf der Toilette seiner Zielperson erschossen wurde, soll ihnen nicht passieren. Das, was ihnen an Skrupellosigkeit und Abgebrühtheit fehlt, machen sie durch Routine, Menschenkenntnis und Umsicht wett. Sie müssen gar keine Gewalt anwenden, weil sie die Situationen, die auf sie zukommen, antizipiert haben wie Schachspieler.

Die Jugend zieht in JACKIE BROWN konsequent den Kürzeren – wobei „Jugend“ hier durchaus relativ zu verstehen ist. Das Surfergirl Mel (Bridget Fonda), notgeile Gespielin von Robbie, glaubt, sich alles erlauben zu können, und endet mit zwei Kugeln im Leib. Beaumont (Chris Tucker) ist ganz einfach zu dumm, um zu begreifen, warum er nicht bei Robbie in den Kofferraum steigen sollte. Und Nicolette ist viel zu ehrgeizig, viel zu heiß auf den Ruhm, den ihm die Verhaftung des Waffenhändlers einbringen wird, um die Gefahr zu bemerken, in die er sich begibt. Man muss nur die Ruhe und Würde erkennen, mit der sich Jackie bewegt (bzw. die Tarantino ihr mit seiner Inszenierung zuweist), und sie mit der Selbstverliebtheit ihrer Kontrahenten vergleichen, um zu wissen, dass sie am Ende triumphieren wird. Schon wie sie in der Creditsequenz an dieser blauen Mosaikwand entlangschreitet, den Blick immer geradeaus gerichtet, totale körperliche Souveränität ausstrahlend, ist klar, dass sie sich auf ihrem Weg nicht aufhalten lassen wird. Pam Grier ist grandios in JACKIE BROWN, eine bessere Besetzung kaum denkbar. Sie verkörperte schon in den Siebzigern eine Art weiblicher Urgewalt, mit der Mann sich besser nicht anlegte, aber verfügte in ihrer Jugend über einen noch sehr ungeschliffenen Charme. Es war eher Trotzigkeit, die sie antrieb und sie manchmal auch über das Ziel hinausschießen ließ. Hier verpulvert sie keine unnötige Energie, geht höchst ökonomisch mit ihren Reserven um. Körpereinsatz muss sie fast nie zeigen, weil sie in der Lage ist, die anderen in ihrem Sinne zu lenken. Man sieht ihr eine gewisse Müdigkeit an. Nicht die körperliche Erschöpfung nach einer vollbrachten Anstrengung, sondern jene, die der jahrelange Alltag, der daily grind bei ihr hinterlassen hat. Aber diese Müdigkeit schärft auch noch einmal ihre Sinne, weil sie den Fokus auf ihre eigene Verletzbarkeit lenkt, während Robbie, Nicolette und Konsorten sich in ihrer virilen Kraft für unbesiegbar halten. Pam Griers Gesicht spiegelt diese Ruhe und Konzentration, den Willen, sich nicht mit den Verhältnissen abzufinden. Es ist kein Wunder, dass sich Max Cherry sofort in sie verliebt, wie sie da als reine weibliche Präsenz auf ihn zuläuft und noch in der Bewegung zu einem Denkmal weiblicher Selbstbehauptung kristallisiert (ich meine, damals wurde in der Rezension in der Splatting Image ausgeführt, wie Jackie durch die Montage immer ein Stück zurückversetzt wird, so als dehne sich der Weg, den sie zurücklegen muss, für Max Cherry ins Endlose). Sein Blick der Verzauberung wiederholt sich am Ende noch einmal, wenn Jackie nach gemeinsam überstandenem Abenteuer und einem innigen Kuss in ein anderes, neues Leben entschwindet und ihn, der ihre Kraft nicht hat, in seinem zurücklässt. Er muss sein Telefonat beenden, und sein Blick erinnert an den Killer Jules aus PULP FICTION, der eigentlich tot sein müsste, den aber alle Kugel auf wundersame Weise verfehlt haben. Als sei ein Tornado über ihn hinweggerauscht, ohne eine Spur zu hinterlassen. Auch Max ist Zeuge göttlicher Einmischung geworden.

18686501Wahrscheinlich hat jeder, der Mitte der 90er-Jahre, als PULP FICTION zum kulturellen Ereignis avancierte, jung und filminteressiert war, seine persönliche Geschichte zu Tarantinos Film. Meine scheint mir recht exemplarisch und geht so: Als ich ihn irgendwann 1994 oder 1995 in einer Wiederaufführung zum ersten Mal im Kino sah, war ich massiv beeindruckt. Der Film wirkte neu und frisch auf mich, ich hatte so etwas zuvor noch nicht gesehen und fühlte mich ungemein inspiriert von der Vielzahl an Geschichten, die der Film erzählte, den Figuren, die ihn bevölkerten, den Gesprächen, die sie führten, der Sprache, derer sie sich dabei bedienten. Und ich war nicht der einzige, dem es so ging. Fortan rotierte der Soundtrack in der Heavy Rotation, Harvey Keitel, Tim Roth oder Christopher Walken wuchsen (gemeinsam mit anderen Darstellern des erweiterten Tarantino-Universums, etwa Steve Buscemi) zu Lieblingsschauspielern heran, Filme in denen skurrile Killer sich über ihre Lieblingsplatten unterhielten, schossen wie Pilze aus dem Boden, „tarantinoesk“ wurde zu einem völlig selbstverständlich verwendeten Begriff und Fachbücher über den Mann wurden geschrieben, noch bevor JACKIE BROWN herauskam. Doch all dieser Enthusiasmus, mit dem ein Übermaß an Liebe großzügig verschwendet wurde, führte nach einiger Zeit unweigerlich zum bösen Erwachen, dazu, dass die Gefühle bald ins Gegenteil umschlugen. Tarantino, der für seine untalentierten Plagiatoren nun wirklich nichts konnte, war auf einmal verantwortlich für eine nicht abebbende Welle ach so ironischer,  ach so selbstreflexiver und dabei ziemlich unerträglicher Filme, die nichts mehr bedeuteten und sich damit begnügten einer kursierenden Vorstellung von Coolness zu entsprechen. Das, was man vorher witzig, spritzig und originell fand, erschien einem plötzlich geschwätzig, maniriert, leer, nervtötend. Tarantino selbst wendete sich mit JACKIE BROWN – vielleicht seinem bis heute besten Film – von Episodenhaftigkeit und Pastiche ab und verprellte damit viele seiner „Fans“, rettete aber seine Integrität und Relevanz. PULP FICTION indes war für mich seitdem mit einem Stigma versehen. Ein respektabler, wichtiger Film, gewiss, aber einer, den es reichte zu kennen und den man nicht mehr unbedingt lieben musste. Ich hatte ihn seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen und bis vor kurzem auch nicht das Bedürfnis, daran etwas zu ändern. Eine Haltung, die zum ersten Mal etwas aufgeweicht wurde, als ich Thomas Elsaessers Aufsatz zum Film im Buch „Hollywood heute“ las.

Das Wiedersehen mit PULP FICTION war nicht nur deshalb schön, weil viele der Aspekte, die ich damals so beeindruckend fand, nach der langen Abstinenz wieder annähernd so frisch wirkten wie damals. Aber das Wiedersehen war längst nicht nur eine Auffrischung, sondern im besten Sinne eine Neu-Betrachtung. Besonders erstaunlich war für mich die Erkenntnis, dass der Film seinem Wesen nach ganz anders ist, als ich ihn in Erinnerung hatte. Vieles von dem, was mir damals so wesentlich erschien, fiel bei dieser neuen Sichtung kaum noch ins Gewicht, und dafür traten andere Dinge ins Sichtfeld, die mir bisher entweder gar nicht aufgefallen oder aber immer als vernachlässigbar vorgekommen waren. Zunächst einmal empfand ich PULP FICTION als erstaunlich aufgeräumt, keineswegs labyrinthisch und übervoll. Zwei Geschichten werden von Tarantino erzählt und miteinander verschränkt – die von Vincent (John Travolta) und Jules (Samuel L. Jackson) und die von Butch (Bruce Willis) – und über weite Strecken bleibt dabei sogar die Chronologie der Ereignisse gewahrt. Die kleinen Episödchen, in die sich die beiden Handlungslinien aufsplitten – Vincents Date mit Mia (Uma Thurman), Jules‘ Gotteserfahrung, die „Bonnie Situation“, das Aufeinandertreffen von Butch und Marsellus (Ving Rhames) im Folterkeller eines Gebrauchtwarenladens – ergeben sich logisch aus dem Gesamtflow und fügen sich auch nahtlos in diesen ein, anstatt aus ihm herauszureißen. Eigentlich gibt es nur eine echte Tangente im ganzen Film: das Räuberpärchen Pumpkin (Tim Roth) und Honeybunny (Amanda Plummer), das die Handlung eher zufällig kreuzt. PULP FICTION ist gewiss kein gewöhnlicher Erzählfilm, aber verglichen etwa mit Robert Altmans SHORT CUTS (oder mit dessen Vorgänger NASHVILLE), mit dem er strukturell einiges gemeinsam hat, bleibt er sehr konzise, fokussiert und stringent. Das liegt auch daran, dass alles, was in PULP FICTION passiert, letztlich um einen einzigen Gedanken, eine Idee kreist. Ich komme gleich darauf.

Dann sind da die Dialoge: Fußmassagen, Le Big Mac, Ezechiel 25,17, Kugelbäuche, Kaffee. Gewissermaßen die Refrains des Films, das, was jedem im Gedächtnis geblieben ist, was man damals zitiert hat und was man irgendwann nicht mehr hören wollte. In der Erinnerung besteht der ganze Film aus diesen selbstverliebten Vorträgen. Aber diese Erinnerung trügt. Ja, es wird unheimlich viel gesprochen in PULP FICTION, und, ja, diese Dialoge sind mit spitzer Feder komponiert und weisen ein Höchstmaß an gossenpoetischer Stilisierung auf. Aber die meisten Dialoge sind eben das: Austäusche zwischen Charakteren statt ellenlanger Popkultur-Vorträge, und meist durch die Ereignisse des Films bestimmt. Mir erschien PULP FICTION erstaunlicherweise als sehr ruhig, selbst wenn nicht oft wirklich geschwiegen wird. Aber es gibt sie, diese Momente, in denen die Figuren ganz bei sich sind (und es sind die sprechendsten und schönsten des ganzen Films): das betretene Schweigen zwischen Vincent und Mia (das dann ja auch sogleich thematisiert wird), seine Zigarettenpause während ihres Toilettengangs, natürlich der gemeinsame Tanz sowie Mias Soloeinlage zu Urge Overkills Neil-Diamond-Cover, Butchs wortkarg genossene Kippe im Taxi nach dem geschmissenen Boxkampf, das vertraute Miteinander zwischen ihm und seiner Freundin Fabienne (Maria di Medeiros), schließlich sein Alleingang, um die Uhr des Vaters zurückzuholen …

––– Exkurs: Wie wunderbar ist überhaupt diese eine Episode und wie grandios ist Bruce Willis darin? Sein Wutanfall, als er bemerkt, dass seine Freundin die ihm so wichtige Uhr vergessen hat – weil es ihm nicht gelungen ist, ihr klarzumachen, welche Bedeutung sie für ihn hat. Wie er sich wieder fängt, weil er Fabienne liebt und das Glück ihrer Intimität und ihres Vertrauens nicht zerstören will. Wie er sich dann im Auto weiter über sie aufregt, sich erklärt, dass er ein Recht auf seinen Zorn hat. Aber was ich wirklich an dieser Geschichte liebe, ist das bedingunglose commitment, das Butch zeigt. Es ist ihm egal, dass er dabei sein Leben riskiert, er muss diese Uhr zurückholen. Was hatten sein Vater, sein Groß- und Urgroßvater auf sich genommen, dass sie sich nun in seinem Besitz befindet? Er schuldet es ihnen, sie nicht zurückzulassen. Denn der Moment, in dem er von dieser Uhr getrennt ist, ist der Moment, in dem sie alle Bedeutung, die sie während eines Jahrhunderts auf sich geladen hat, verliert. Und es ist auch der Moment, in dem Butch einen entscheidenden Teil seiner Persönlichkeit einbüßt: Weil er dann vaterlos wird. Die ganze Episode um Butchs Uhr enthält gewissermaßen die Essenz von PULP FICTION. (Und sie ist, by the way, grandioser Actionstoff, ein in sich perfekt funktionierender Kurzfilm.) –––

… Elsässer schreibt in seinem Aufsatz, das beeindruckendste an Tarantinos Film sei das Nebeneinander der Welt des Faktischen und der der Gedanken, wie sie sich durch die Dialoge präsentiert, und wie diese beiden Welten nie in Dekcung gebracht werden. PULP FICTION handelt seiner Meinung nach von dem postmodernen Unbehagen, alles zu wissen und doch keine Lösung zu haben. Ich würde sagen: PULP FICTION handelt vom Schweigen der Worte. Davon, wie sich die Vielzahl verschiedener Bedeutungen gewissermaßen widersprechen, bis nichts mehr übrig bleibt. (Oder, um auf die Uhrengeschichte zurückzukommen, wie Bedeutung sich einfach auflöst, weil der Adressat fehlt.) Das beginnt gleich mit der anfänglichen Dictionary-Einblendung, die einem das Wörtchen „pulp“ erklärt, und setzt sich dann mit den hoch widersprüchlichen Auffassungen zum Thema „Fußmassagen“ fort (die gerade deshalb so verfänglich sind, weil sie so absolut unverfänglich scheinen). Die Welt ist voll mit Bedeutung, die es zu entschlüsseln gilt, und dann wird man nach dem Kacken erschossen, bevor man irgendwas verstanden hat. Oder weil eine Knarre völlig unerklärlicherweise von allein losgeht. Oder man überlebt, obwohl es keinen Grund dafür gibt. Wie es Fabienne einmal sagt: Das, was wir gern ansehen, und das, was sich für uns gut anfühlt, ist seltsamerweise meist nicht dasselbe. Tarantino exerziert so auch durch, was die „Pulp Fiction“, der er mit seinem Film ein Denkmal errichtet, auszeichnet, wie sie das Unbedeutende, Flüchtige so sehr mit Bedeutung auflädt wird, bis es implodiert. PULP FICTION verweist dabei auf seiner diegetischen Ebene weniger auf die Popkultur, der er angehört, als dass er ein Bedeutungsnetz aufspannt, das ihn selbst bestimmt. PULP FICTION ist ein autopietisches, sprich: sich selbst erhaltendes System, das den Verweis auf ein jenseits seiner Grenzen existierendes Außen gar nicht mehr benötigt. Er liefert die Antworten auf die Fragen, die er selbst stellt, gleich mit. Nur führen diese immer wieder zu neuen Fragen, und nie zu einem Ende.

Die Programmiererin Carly Kendall (Diana Reis) hat für den dubiosen Unternehmer Caspar (Frank Moore) das Computerspiel „Thrillkill“ entworfen – und mit ihren Hackerfähigkeiten außerdem rund 3,5 Millionen Dollar von dessen Firmenkonto abgezweigt. Nachdem sie umgebracht wird, sieht sich ihre eingeweihte Schwester Bobbie (Gina Massey) nicht nur den Fragen des Polizisten Frank Gillette (Robin Ward) ausgesetzt, sondern bald auch den diversen Killern von Caspar …

Es liegt wohl in der Natur der Sache, dass Epochen aus der zurückblickenden Distanz verklärt werden. Bestimmte Phänomene werden überbewertet, nicht ins schnell zurechtgezimmerte Bild passende Ausnahmen der Einfachheit halber ausgeblendet. So kommen etwa die Achtzigerjahre zu ihrem Ruf als neonfarbenes, auf Hochglanz poliertes, materialistisches Jahrzehnt, in dem alles blöd, flach und oberflächlich war. Diese Zuschreibung mag auf vieles zutreffen, an anderer Stelle versagt sie völlig, denn unter der verführerisch schimmernden Oberfläche brodelte es gewaltig. THRILLKILL, ein kleiner und – machen wir uns nichts vor – unbedeutender Thriller, mag nicht zu bahnbrechenden Erkenntnissen führen, aber er zeigt doch recht nachdrücklich, dass es in den Eighties mitunter ziemlich düster, schmuddelig, kalt und trist zuging. Das billig produzierte Filmchen, dessen moderner Computerspielbezug sehr alibihaft wirkt (das titelgebende Spiel, bei dem man mit einer Pistole auf einen auf dem Bildschirm ablaufenden Film und auf die Kamera zulaufende Gestalten zielt, kommt nur in einer Szene wirklich zum Tragen), ist frappierend unansehnlich, voller ungemütlich beleuchteter und hässlich eingerichteter Räumlichkeiten, geschmacklos aufgebrezelter Charaktere und von einer generell wenig einladenden Stimmung. Dass die sehr gewöhnliche Krimigeschichte trotz fehlender Spannung und der Abwesenheit jener vielzitierten unique selling proposition so ausgesprochen überernst und träge erzählt wird, vervollständigt den Eindruck bleierner, lähmender Schwere, die da alles niederdrückt. THRILLKILL ist nicht nur hinsichtlich der Diskrepanz zwischen dem Aufregug versprechenden Titel und der filmischen Realität eine Enttäuschung. Auch die Verheißungen der neuen Computer-Technologie entpuppen sich als Lug und Trug. Das bahnbrechende neue Computerspiel ist ein schrecklicher Langweiler und die Reichtum und Luxus verheißenden Geldsummen bewegen sich nur als grüne Zahlen auf dem schwarzen Bildschirm. Wofür soll man dieses Vermögen ausgeben? Frank Gillettes Vorstellung eines guten Essens sieht er von einer Hotdog-Schmiede repräsentiert, am Schluss beißt er geradezu genießerisch in eine Frühlingsrolle vom China-Imbiss. Die Welt von THRILLKILL ist geradezu hermetisch abgeriegelt, nie öffnet sich der Blick, Kultur ist längst abgeschafft und eine idealistische Zukunft scheint geradezu undenkbar.

Peter Smith (Luc Merenda) hat nach einem Unfall sein Gedächtnis verloren. Seit Monaten versucht er herauszufinden, wer er ist, lebt völlig allein und isoliert. Eines Tages präsentiert ihm sein Therapeut einen Mann namens George (Bruno Corazzari), angeblich ein alter Freund. Doch dessen freundliche Fassade fällt, als die beiden in Peters Wohnung allein sind: George behauptet, Peter heiße eigentlich Edward und habe George um die Beute aus einem gemeinsamen Drogengeschäft geraubt. Wenig später erhält Peter ein Telegramm von Sara (Senta Berger), die anscheinend seine Ehefrau ist. Sara weiß indessen nichts von dem Telegramm und hat auch nicht gerade Sehnsucht nach dem Gatten, der von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand. Sie hat ganz andere Sorgen, denn in regelmäßigen Abständen dringt jemand in ihr Haus ein und stellt es komplett auf den Kopf …

Duccio Tessari orientiert sich für seinen Giallo stark an US-amerikanischen Vorbildern, vor allem natürlich, wie Christian Kessler im Booklet der deutschen DVD richtig schreibt, an Alfred Hitchock. Luc Merenda gibt den typischen Hitchcock-Antihelden, einen komplett ahnungslos in eine dunkle Geschichte hineinschlitternden Mann, der nicht weiß, wem er überhaupt trauen kann und dabei zunehmend über sich selbst in Zweifel gerät. Als Sara für den Showdown auch noch ein Gipsbein verpasst bekommt und zur Bewegungsunfähigkeit verdonnert wird, ist die Ähnlichkeit zu REAR WINDOW kaum noch zu übersehen. L’UOMO SENZA MEMORIA ist somit deutlich straighter und weniger artifiziell als das Gros der italienischen Giallos, bei denen die Handlung oft zugunsten der gestylten Oberfläche in den Hintergrund tritt. Gestützt von Ernesto Gastaldis sauber komponiertem Drehbuch gelingt Tessari ein sehr klarer Film, der sich keinerlei Umwege erlaubt.

Herausragend ist die Fotografie: L’UOMO SENZA MEMORIA ist entgegen seiner düsteren Geschichte ausgesprochen sonnig. Auf der Halbinsel Portofino gedreht, bestimmen verwitterte Gebäude, sattgrüne Gärten und das Blau des Meeres den Look des Films und verleihen ihm eine fast verträumte Atmosphäre. Mindestens genauso wichtig ist das makellose Äußere der schönen Senta Berger, die von Giulio Albonicos Kamera nicht nur ins rechte Licht gerückt, sondern geradezu angebetet wird. Während des Showdowns, bei dem sie beherzt zur Kettensäge greift, ihr Antlitz von Angst, Zorn und Schweiß entstellt, fliegen ihr die Sympathien des Publikums zu, während Merenda zur Tatenlosigkeit verdammt ist. L’UOMO SENZA MEMORIA verdeutlicht auch so, dass Identität ein keinesfalls so stabiles Gebilde ist, wie wir das gern glauben möchten: Peter bzw. Edward sieht sich plötzlich der Erkenntnis gegenüber, in seinem vorherigen Leben ein totales Schwein gewesen zu sein, die verletzliche Sara verwandelt sich in eine wehrhafte Furie, als ihr Leben auf dem Spiel steht, und ihr braver Freund Daniel (Umberto Ursini) entpuppt sich als übler Schurke, der sie von Anfang an ausgenutzt hat. Das alles wird aber so harmonisch und organisch entwickelt, dass es mir schwerfällt, hier das „Thema“, die „Botschaft“, den „Sinn“ herauszufiltern bzw. vom Rest abzutrennen. Der Film ist einziger ruhiger, dunkler Fluss, was nicht zuletzt der traumhafte Score von Gianni Ferrio par excellence verkörpert.