Archiv für Februar, 2015

merantau (gareth evans, indonesien 2009)

Veröffentlicht: Februar 28, 2015 in Film
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Bevor Gareth Evans internationalen Erfolg mit THE RAID und seiner Fortsetzung THE RAID 2: BERANDAL erlangte, zwei superbrutalen Actionfilmen, die von der Fangemeinde wie der sprichwörtliche Tropfen Wasser in der Wüste empfangen wurden, inszenierte er diesen Martial-Arts-Film. MERANTAU ist mit dem Star der beiden Hits, Iko Uwais, besetzt, wie diese voll mit brillant choreografierten, harten, aber dabei knochentrockenen Fights, und dennoch ganz anders als die beiden.

Der enigmatische Titel geht zurück auf einen indonesischen Brauch, nach dem Heranwachsende ihr Heim verlassen und sich auf „Wanderung“ begeben, um erwachsen zu werden. Auch Yuda (Iko Uwais) geht auf diese Wanderung, in der Hoffnung, in der Großstadt Jakarta als Kampfkunst-Lehrer sein Geld zu verdienen. An seinem Ziel angekommen, erhält er einen ersten Dämpfer: Der Ort, an dem er eine vorübergehende Heimat finden sollte, ist einer Baustelle gewichen, unter der Telefonnumer, die er bekommen hat, meldet sich niemand mehr. So irrt er durch die Straßen der Metropole und trifft auf Astri (Sistra Jessica), ein junges Mädchen, das für den kleinen Zuhälter Johni (Alex Abbad) als Tänzerin arbeitet. Er eilt ihr zu Hilfe, als der sie verprügeln will, doch schafft er damit nur noch größere Probleme: Astri war dazu auserkoren, als neues Animiermädchen für den miesen Menschenhändler Ratger (Mads Koudal) zu arbeiten, und der mag auf das ihm versprochene Mädchen nicht verzichten. Yuda muss es mit einer ganzen Armee von bad guys aufnehmen, um das Mädchen aus seinen Händen zu befreien …

Wenn es der Kurzabriss der Storyline noch nicht klar gemacht hat, dann lässt spätestens die strahlende Farbgebung keinen Zweifel daran aufkommen, es hier mit einem lupenreinen Märchen zu tun zu haben. Dem monochromen Schmuddellook der beiden RAID-Filme setzt Evans hier leuchtende Blau-, Grün- und Rottöne entgegen, die Jakarta in Yudas Augen in einen Ort der wahrlich unbegrenzten Möglichkeiten verwandeln. Vom Märchen hat MERANTAU aber nicht nur die bunten Farben, sondern auch den klar vorgezeichneten Weg, die Aufgabe, die zu rettende Prinzessin und den finsteren Schurken. Es gibt keine Grautöne in MERANTAU, die Grenze zwischen Gut und Böse ist klar erkennbar und jede Relativität ist abwesend. Evans‘ Film steht in einer ganz klaren Traditionslinie, die von den Hongkong-chinesischen Kung-Fu-Epen der Shaw Brothers über deren Neuinterpretation durch Jackie Chan, Sammo Hung und Corey Yuen in den Achtzigerjahren bis hin zu aktuelleren Genrevertretern wie ONG-BAK oder TOM YUM GOONG reicht. Allenfalls das überraschende Ende fällt aus der Reihe, aber das mag auch am Blickwinkel des Westeuropäers liegen. Es verleiht dem Film, der sonst vielleicht etwas zu glatt vorüberzöge, emotionales Gewicht. Der Erfolg eines solchen Films steht und fällt aber natürlich mit den Fights, und hier deuten Evans und Uwais bereits an, zu was sie fähig sind. Die Kämpfe sind spektakulär, ohne allzu angeberisch zu sein, brachial, ohne auf vordergründigen Splatter zu setzen (erst sehr spät fangen Yudas Gegner auch an, Blut zu vergießen), artistisch, ohne ins Tänzerische abzugleiten. Die beiden finden das ideale Gleichgewicht zwischen Realismus und Effektreichtum, was sie von der Konkurrenz abhebt, die meist letzteres präferiert. Wer die Action in THE RAID und THE RAID 2: BERANDAL mochte, sie aber in etwas „mundgerechteren“ Happen bevorzugt, der wird mit MERANTAU garantiert glücklich.

unruhige-toechter-9717_xlUNRUHIGE TÖCHTER ist so etwas wie das verhinderte Companion Piece zu Baumgartners großartigem SEX UND NOCH NICHT 16. Beide teilen eine jugendliche Hauptfigur (hier ist es die Abiturientin Susanne), hier wie dort gibt Peter Capra einen fiesen Erpresser, der Score ist zum Teil deckungsgleich und wie Baumgartner durfte auch Hansjörg Amon nur diesen einen Film inszenieren. Da hört es dann mit den Gemeinsamkeiten aber auch schon wieder auf, denn UNRUHIGE TÖCHTER ist, wenn auch durch die Nostalgiebrille betrachtet ganz putzig, eher missraten, inszenatorisch kein Vergleich zum kreativen SEX UND NOCH NICHT 16.

Der Film kreist um die frühreife, progressiv eingestellte Susanne (Brigitte Skay), die ihre spießigen Lehrer mit neugierigen Aufklärungsfragen in die Bredouille bringt, eine Affäre mit dem verheirateten Lateinlehrer anfängt, Freundinnen zur Abtreibung rät und am Ende in die weite Welt reist, um Filmstar zu werden, während die Schulkameradinnen mit ihren kleinbürgerlichen Problemchen zu Hause bleiben. Das könnte ja alles ganz nett sein, wenn es nicht so hoffnungslos altbacken inszeniert und nachlässig erzählt wäre. Exemplarisch sei hier nur der Schauspieler-Subplot erwähnt: Susanne erhält durch ihren Fotografen und Liebhaber Kontakt zu einem Filmregisseur, der sie nach Betrachtung ihrer Nacktfotos vom Fleck weg als Hauptdarstellerin für seinen neuesten Film – ein Selbstmorddrama – haben will. Man glaubt zunächst daran, dass er sie mit diesem Bekenntnis nur ins Bett zerren will, doch er meint es tatsächlich ernst. Bei der ersten Szene hat sie noch Probleme, meistert sie aber mithilfe ihres Fotografenmentors, bei der zweiten ist der Regisseur dann vollends begeistert. Aber was für Szenen das sind: Damit käme kein Provinztheater durch. Dass Susanne aufgrund dieser Darbietung am Ende ins Flugzeug nach Hollywood steigt, ist geradezu lachhaft. Das Herz der Films schlägt durchaus auf dem rechten Fleck: Susanne ist eine junge Frau, die sich nicht in das Ende der Sechzigerjahre noch enge Rollenkorsett zwängen lassen will, sich nimmt, was sie will, und dabei keine Kompromisse macht. Aber sie wirkt darin eben nicht glaubwürdig, der ganze Film ist gnadenlos konstruiert und Brigitte Skay – wie im intradiegetischen Film – hoffnungslos damit überfordert, mehr als nur das hübsche, sexuell erfahrene Püppchen mit dem großen Mundwerk zu geben. Und trotz vergleichsweise straffer Handlungsorganisation kommt UNRUHIGE TÖCHTER am Ende zerstückelter und zerfahrener daher als der improvisierte, fragmentarische SEX UND NOCH NICHT 16. Nee, das war nix.

Udo kommt zu einer wesentlich positiveren Einschätzung, die ich meinen Lesern nicht vorenthalten will.

SEX UND NOCH NICHT 16 (nicht zu verwechseln mit dem Ingrid-Steeger-Vehikel) ist ein Meisterwerk des deutschen psychotronischen Kinos – aber leider kaum bekannt. Regisseur Peter Baumgartner hatte sich das Recht auf einen eigenen Film als DoP für Erwin C. Dietrichs ST. PAULI ZWISCHEN NACH UND MORGEN und SEITENSTRASSE DER PROSTITUTION erworben, eine Tätigkeit, die er kurz danach wieder aufnahm, denn SEX UND NOCH NICHT 16 sollte seine letzte Regiearbeit bleiben. Warum ist indessen alles andere als nachvollziehbar. Der Film war kommerziell durchaus erfolgreich und zudem eindeutiger Beweis für das Talent Baumgartners. Experimentell, fragmentarisch, künstlerisch, kreativ, freigeistig, innovativ: SEX UND NOCH NICHT 16 hätte mit anderen Dietrich-Produktionen jener Zeit so etwas wie die Speerspitze einer deutschen Nouvelle Vague begründen können, aber leider wurde daraus nichts. Hatten sich die Zuschauer, die sich in Erwartung eines lüsternen Sexfilms verstohlen ins Kino geschlichen hatten, nach dem Film möglicherweise verprellt gefühlt? Zwar gibt es den versprochenen Sex mit einer 15-Jährigen – Darstellerin Rosy-Rosy aka Rosemarie Heidinkel, ein dunkelhaariges Brigitte-Bardot-Lookalike war tatsächlich bereits 22 –, doch ist der kaum mehr als eine Randerscheinung. Es ging Baumgartner um andere Dinge und die Sexfilmschablone war kaum mehr als ein Etikett, um das Publikum anzulocken.

Zu behaupten, SEX UND NOCH NICHT 16 erzähle eine Geschichte, ginge an der Realität des Films vorbei, doch wenn man so etwas wie eine Handlung aus dem straffen Siebzigminüter herauskristallisieren wollte, ließe diese sich so zusammenfassen: Die 15-jährige Waise Rosy (Rosy Rosy) landet auf ihrer Flucht aus dem Pflegeheim im Nachtklub der Sängerin Helen (Helen Vita) und lernt dort den netten Studenten Rolf kennen. In die sich anbahnende Liebesgeschichte platzt Helens Manager Johnny (Peter Capra), ein kleinkrimineller Gernegroß, der in der attraktiven Minderjährigen eine willkommene Einnahmequelle sieht, sie mit seinem Geprotze ködert und dann als Jungfrau an bereitwillig zahlende Kunden verschachert. Doch Johnny kriegt den Hals nicht voll: Als er einen Radprofi nach dessen Nummer mit Rosy erpresst, kommt es zur nächtlichen Auseinandersetzung auf dem Güterbahnhof, in die sich auch der fürsorgliche Rolf einmischt.

Man könnte sich ohne Weiteres einen Film vorstellen, der daraus ein 90-minütiges Sleazedrama macht, aber Baumgartner interessierte sich mehr für die somnambule Atmosphäre unter den Vergnügungssüchtigen, die Helens Club bevölkern, oder die frivol-rotzigen Chansons, die die alternde Diva zu Besten gibt, Kleine, eigentlich unwichtige Szenen werden dank der einfallsreichen Inszenierung und des expressiven Schnitts zu lebhaften Vignetten, die das Rauschhafte lustvoll unterstreichen. Man weiß nie genau, was als nächstes passieren wird, alles scheint möglich: Eine ganz typische Eigenschaft solcher „Nachtfilme“ zwar, unter denen SEX UND NOCH NICHT 16 dank seiner formalen Radikalität und Frische aber dennoch eine Sonderstellung einnimmt. Es ist beeindruckend, wie es Baumgartner gelingt, jeden Vorwurf stilistischer Eitelkeit und Prätentiösität mit spielerischer Leichtigkeit zu umgehen und einen Film vorzulegen, der trotz seiner Künstlichkeit wie der authentische Ausdruck reiner Lebenslust wirkt.

Vacanze_per_un_massacro_1980Der Gewaltverbrecher und Bankräuber Joe Brezzi (Joe Dallessandro) bricht aus dem Knast aus, killt zwei Typen, klaut ihr Auto und begibt sich zu dem Bauernhäuschen, wo er einst seine Beute versteckt hatte. Dummerweise haben sich dort soeben drei Städter für ein erholsames Wochenende einquartiert: der Hobbyjäger Sergio (Gianni Macchia), seine Gattin Liliana (Patrizia Behn) und deren Schwester Paola (Lorraine De Selle), die eine Affäre mit Sergio hat …

Durchaus untypisch für den doch weitestgehend geschmackssicher inszenierenden Di Leo beginnt VACANZE PER UN MASSACRO wie ein richtiger schmuddelig-dampefender Sleazehobel. Schwer zu sagen, ob das die Zeit war, die Di Leo zwang, sich dem Unterleib des italienischen Volkes zuzuwenden – der Niedergang des italienischen Kinos war bereits kaum noch abzuwenden –, oder ob er sich da lediglich einen Spaß erlaubte, um das Publikum in „Sicherheit“ zu wiegen. Die letzte halbe Stunde und das Finale sind nämlich von anderem Kaliber als der spaßige, aber auch etwas einfältige Aufbau. Was natürlich nicht heißt, dass der Film bis dahin schlecht wäre. Dreck und Schmier können ja durchaus erfrischend sein und das ist auch VACANZE PER UN MASSACRO in jedem Fall. Joe Dallessandro ist ganz fleischgewordene, entgeistigte, entintellektualisierte Körperlichkeit wie er da mit Jeans und Trägershirt und stumpfen Gesichtsausdruck durch die Pampa watschelt (sein Bewegungsablauf ist schon die halbe Miete, ehrlich!), kaum unter Kontrolle gehaltenes Tosen der Hormone, und in der kargen Hütte, in der sich die drei schicken Stadtmenschen versammeln steht die Stimmung breiets vor seiner Stippvisite vorm Überkochen. Paola kann es kaum erwarten, es von ihrem Sergio besorgt zu bekommen und benimmt sich wie eine Nymphomanin, der ein paar Sicherungen rausgeflogen sind: Gleich am Esstisch steckt sie ihm den Fuß in den Schritt, drückt ihm Küsse auf, wenn Liliana sich bloß umdreht, schläft vollkommen nackt in der Wohnstube des Hauses und empfängt ihn am nächsten Morgen mit entblößtem Venushügel, während die gutgläubige Gattin nur wenige Meter entfernt nichts ahnend schlummert. Und die hat wiederum gar kein Problem damit, dass sie sich ständig das Geschlechtsorgan ihrer enthemmten Schwester anschauen muss. Sergio selbst ist aber nur unwesentlich besser: Zwar versucht er verzweifelt eine gewisse Diskretion zu wahren, aber irgendwie genießt er die Situation auch. Joe findet Paola schließlich allein vor – er hatte das Treiben im Haus zuvor beobachtet und weiß von der Dreiecksbeziehung – und wird sogleich Opfer ihrer wenig subtilen Ranschmeißmethoden. Mehr aus Bequemlichkeit zieht er sie durch, bevor er sich wieder wichtigeren Dingen zuwendet. Richtig interessant wird es, als sich Liliana und Sergio wieder einfinden und Joe die Bombe platzen lässt. Dann zeigen die zuvor so verlogenen und feigen Städter plötzlich ihre Zähne, spinnen böse Pläne und vergessen jede Blutsverwandtschaft, um ihre eigenen Ärsche zu retten. Da kommt sie dann wieder durch, die zynische, pessimistische Welt- und Menschensicht Di Leos, und was vorher ein blödlustiger Reigen der Niedertracht war, wird mit einem Mal zum bitteren Psychothriller mit unerwarteten Wendungen.

Auch ästhetisch ist VACANZE PER UN MASSACRO spannend, weil er dem grauenvoll schmucklosen Interieur, in dem der Film über weite Strecken angesiedelt ist, mit der Kameraführung eines Vollprofis begegnet und es immer wieder mit sonnendurchfluteten Außenaufnahmen der italienischen Natur kontrastiert. Und Luis Bacalov zieht mit seinem Score ebenfalls alle Register seines Könnens, verbindet ein hochdramatisches Orchesterstück mit treibenden Beatsongs, plötzlich aufheulenden Sirenen und dissonantem Synthiegefiepse. So wird dieses sparsame Vier-Personen-Kammerspiel bis zum Bersten aufgeladen, bis es zum Schluss nur noch in einem Freeze Frame explodieren kann. Toll.

liberi_armati_pericolosi_tomas_milian_romolo_guerrieri_001_jpg_fbsyJugendliche Straftäter bevölkern das Kino spätestens seit den Fünfzigerjahren, als Rock’n’Roll und Rebellion vielleicht zum ersten Mal eine scharfe Trennlinie zwischen Erwachsenen und Jugendlichen zogen, sich ein „Wir-und-die-anderen“-Gefühl ausbreitete. Der Juvenile-Delinquents-Film schlug im Grunde zwei Fliegen mit einer Klappe: Unter dem Deckmäntelchen der Gesellschaftskritik, durch die sich Erwachsene in all ihren Vorurteilen und Ängsten gegenüber bzw. vor der „Jugend von heute“ bestätigt finden durften, wurde die Wildheit und Ungezügeltheit derselben gefeiert, die sich endlich einmal in Überlebensgröße auf der Leinwand repräsentiert sah. Mit dem Voranschreiten der Jahrzehnte änderte sich aber auch die Darstellung von Jugendkriminalität: Was früher Ausdruck von Rebellion gegen den Status quo (und nicht zuletzt ein Stück Lifestyle) war, entpuppte sich immer mehr als verzweifelter Versuch der Jugendlichen, mit diesem mitzuhalten. Vor allem im italienischen Crime-Kino der Siebzigerjahre wird das deutlich: Die Motivation ist ganz klar das Geld, das den Ausbruch aus der Armut sichern soll. Die drei männlichen Protagonisten von Guerrieris LIBERI ARMATI PERICOLOSI haben nichts von der Coolness, die einst James Dean oder Marlon Brando auszeichnete, vergangene Ikonen rebellischer Jugendkultur. Es sind armselige Loser, hoffnungslos Fehlgeleitete, für die es schon zu Beginn keinen Ausweg mehr gibt.

Lea (Eleonora Giorgi) unterrichtet den Polizeikommissar (Tomas Milian) davon, dass ihr Freund Luigi (Max Delys) zusammen mit seinen Kumpels Mario (Stefano Patrizi) und Giovanni (Benjamin Lev) einen Überfall auf eine Tankstelle plane. Die drei seien im Grunde genommen harmlos und nur mit Spielzeugpistolen ausgestattet, aber ein Überfall sei schließlich dennoch ein Überfall. Die Polizei nimmt sich der Sache an und bewacht die Tankstelle, muss aber beobachten, wie sich die Situation ganz anders entwickelt als erwartet: Als der Tankwart sich weigert, das Geld herauszugeben, erschießt Mario ihn mit seiner keineswegs falschen Waffe, im folgenden Feuergefecht müssen drei weitere Polizisten ihr Leben lassen, bevor den Jungs die Flucht gelingt. Die Polizei auf den Fersen, setzen sie ihren Raubzug fort, nach ihren ersten Morden nun völlig enthemmt. Nur Luigi nimmt an dem sich anbahnenden Massaker nicht teil, bringt aber auch nicht den Mut auf, seine Freunde zu stoppen …

Das Postermotiv und der Name von Tomas Milian lassen einen typischen Polizeifilm erwarten, doch Guerrieri (der nach einem Drehbuch von Fernando Di Leo inszenierte) hat anderes im Sinn (sehr zu Verwirrung eines österreichischen IMDb-Rezensenten, der den Film verreißt, weil er nicht das ist, was er erwartet hat). Der kubanische Star des Italokinos jener Tage hat nur eine vergleichsweise kleine Nebenrolle, der Fokus liegt ganz auf den Jugendlichen, die sich in blinder Raserei immer tiefer in die Scheiße reiten, ohne auch nur einmal innezuhalten. Das Spannende an LIBERI ARMATI PERICOLOSI ist die Abwesenheit jeglichen erklärenden Kontextes. Die Eltern der drei Straftäter sieht man nur kurz, und eine kurze Szene, in der der Kommissar dem desinteressierten Vater (Venantino Venantini) von Luigi erklärt, dass man Kindern zuhören, ihnen Liebe und Zuneigung schenken müsse, weil sie sonst zu „Monstern“ würden, ist eher hinsichtlich der Hilflosigkeit der Polizei aussagekräftig, als dass sie die Ursachen hinter den Verbrechen zufriedenstellend benennen würde. Auch das Geld, das die drei Jungen als ihre Hauptmotivation angeben, ist nur ein leeres Symbol. Die Antwort auf die Frage, warum es bei anscheinend völlig normalen, netten Jungs plötzlich „Klick“ macht, warum sie von einem Tag auf den nächsten zu rücksichtslosen Killern werden, die lustvoll alle Gesetze, Normen und Werte in den Staub treten, kann nicht eindeutig gegeben werden. So gibt es auch hier gleich mehrere Indizien, von denen die Gruppendynamik, die die drei unterschiedlichen Charaktere entwickeln, vielleicht das entscheidende ist. Das hysterische Großmaul Giovanni spielt sich gern als Anführer auf und hat mit Luigi und Mario zwei Kumpels zur Seite, die ihm dabei nicht in die Quere kommen. Luigi, der ruhigste der drei, ist der ideale enabler, weil er grundsätzlich konfliktscheu und entscheidungsschwach ist. Zwischen beiden hin- und hergerissen ist der sowieso schon instabile, aber tatkräftige Mario, der offensichtlich Probleme mit seiner Sexualität hat: Giovanni hilft ihm dabei, sich als Kerl zu fühlen, und dem sanften Luigi – der aber mit der schönen Lea verbandelt ist – gilt sein eigentliches Interesse. Entlädt sich da auch die in einer Machogesellschaft angestaute sexuelle Frustration? In einem kongenialen dramaturgischen Schachzug lässt LIBERI ARMATI PERICOLOSI den Großstadtmoloch Mailand nach ca. einer Stunde hinter sich und begibt sich in die Natur, als sich die Flüchtigen mit ihrer Geisel Lea im Schlepptau auf den Weg zur Grenze machen. Vielleicht ist es doch nicht die gesellschaftliche Prägung, die den Menschen zum potenziellen Mörder macht, vielleicht steckt das alles einfach in uns drin.

a good man (keoni waxman, usa 2014)

Veröffentlicht: Februar 27, 2015 in Film
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Ich schätze, für einen Seagal-Film wie A GOOD MAN muss man anno 2014 einfach dankbar sein. Große Begeisterung vermag er zwar nicht auszulösen, aber er ist auch kein Zugunglück, hat ein paar nette Einfälle, ein paar hübsche Schwertfights, die Erinnerungen wach werden lassen an die guten alten Zeiten in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern, als Seagal on top of his game war, und er auch wird nicht übermäßig durch diese Unzulänglichkeiten getrübt, die so viele Seagals der letzten 15 Jahre aufwiesen. Der mittlerweile auf Schrankwandgröße angeschwollene Star stand offensichtlich während eines substanziellen Teils der Dreharbeiten zur Verfügung, nur ein paarmal wird an seiner Stelle ein Stand-in ins Bild geschoben, und nachsynchronisiert wurde er auch nicht. Keoni Waxman, der zu Seagals Stammregisseur herangereift zu sein scheint – er drehte mit ihm bereits THE KEEPER, A DANGEROUS MAN, MAXIMUM CONVICTION, FORCE OF EXECUTION und 8 Episoden der Fernsehserie TRUE JUSTICE –, liefert ordentliche Arbeit ab und fängt auch die Actionszenen gut ein, hat sonst aber allem damit zu kämpfen, dass kaum etwas an A GOOD MAN wirklich hängenbleibt. Wieder einmal in Bukarest gedreht und mit den typischen Ostblock-Russenmafia-Darstellern besetzt, versinkt der Film in der immer unüberschaubarer werdenden Flut vergleichbarer DTV-Actioner: Wo MERCENARY FOR JUSTICE, SHADOW MAN, BORN TO RAISE HELL, SIX BULLETS, ASSASSINATION GAMES, LAST BULLET oder DIRECT CONTACT enden und A GOOD MAN anfängt, kann man längst nicht mehr genau sagen.

Was bleibt also von A GOOD MAN? Seagals Bart und seine neue Vorliebe für Schals zum Beispiel. In der Rückblende, mit der der Film eröffnet und die die Motivation seines Alexander erklärt, eines ehemaligen Spec-Ops-Mannes, gibt er wieder einmal seiner Vorliebe für schwer verständlichen Tech Talk nach, strickt er weiter an der Legende seiner „dunklen Vergangenheit“. Eine echte Überraschung ist die spätere Enthüllung, wer hinter den üblen Morden an Mobstern steckt, deren verstümmelten und mit Räucherstäbchen garnierten Leichen überall in der Stadt an mit japanischen Schriftzeichen dekorierten Orten auftauchen: Kein Psychopath, sondern der Held Alexander selbst ist es, der als „White Ghost“ auf der Jagd nach dem Waffenhändler Chen (Tzi Ma) ist und dabei kräftig aufräumt. Irgendwann ist Seagal definitiv reif, den Killer in einem Slasher- oder zumindest Serienmörderfilm zu spielen, die richtigen Körpermaße für Jason Voorhees hat er ja schon. Als human interest wird die liebe Lena (Iulia Verdes) eingeführt, die für die Schurken als Kellnerin in einer Strip-Bar arbeiten muss, für ihre süße minderjährige Schwester Mya sorgt und außerdem einen halbseidenen Halbbruder namens Sasha (Victor Webster) hat, der Alexander am Ende hilft. A GOOD MAN endet dann auch mal wieder mit einer jener unangenehmen Liebesszenen zwischen Seagal und seiner gut 30 Jahre jüngeren Partnerin, von denen der Star nicht lassen kann, obwohl diese ihm weder liegen noch zu seinen Charakteren passen. Klar, am Ende soll sein Alexander geläutert sein, doch sind die turmhohen Leichenberge, die er überall hinterlassen hat, deswegen wirklich vergessen? Das Hundchen, das er sich als treuen Gefährten hält, kann die Zweifel, die an seiner psychischen Verfassung aufkommen, jedenfalls nicht gänzlich zerstreuen, auch wenn das wohl so gedacht war.

Fazit: Ein durchschnittlicher DTV-Actioner, der die Krise des Genres nicht aufzulösen vermag, dem Seagal-Komplettisten aber durchaus das ein oder andere Aha-Erlebnis schenkt. Wie gesagt: Dafür muss man schon dankbar sein.

MAN MAN

Das erste Gefühl: Enttäuschung.

THE RAID 2: BERANDAL hat es aber auch nicht ganz leicht. THE RAID kam damals förmlich aus dem Nichts, um mit seinem No-holds-barred-approach und 110-minütiger Non-Stop-Action den von CGI abgetörnten Zuschauer komplett wegzublasen. Er war nicht ganz ohne Vorbild – John Woos Hongkong-Abschiedsfilm LAT SAU SAN TAAM war vor rund 25 Jahren ein vergleichbarer Frontalangriff und Prachya Pinkaew präsentierte in ONG-BAK mit Tony Jaa einen ähnlich suizidalen Martial Artist wie Evans mit Iko Uwais –, erschien aber in so großem Abstand zu den genannten, dass man nur zu gern bereit war, ihn als Wiedergeburt oder zumindest als Wiederbelebung eines darbenden Genres zu feiern.

THE RAID 2: BERANDAL, den Regisseur Evans eigentlich ursprünglich als ersten Teil geplant hatte, aus Finanzierungsgründen aber das günstiger zu produzierende Sequel vorzog, geht einen gänzlich anderen Weg als der Vorgänger. Mit 150 Minuten Länge wird echte Epik angestrebt, und statt eine ausufernde Actionszene mit kurzen Pausen aufzulockern, während derer die Geschichte vorangetrieben wird, ist es hier eher umgekehrt. Es dauert eine Weile bis zum ersten langen Action-Setpiece und in der Zeit bis dahin wird viel, viel Exposition in langen, statischen, ganz im Gegensatz zum sonst entfachten Wirbel bleischwer und zäh anmutenden Dialogszenen abgearbeitet, deren Ernsthaftigkeit nicht ganz im Einklang mit der Formelhaftigkeit des Plots steht: Um die grassierende Polizeikorruption in jakarta auszuhebeln, wird Rama (Iko Uwais) von einer Sondereinheit als Undercover-Cop dazu ausgewählt, sich in die Gangster-Organisation von Bangun (Tio Pakusodewo) einzuschleichen. Um das Vertrauen des Bosses zu gewinnen, sperrt man ihn in das Gefängnis, in dem dessen Sohn Uco (Arifin Putra) einsitzt, dem er gegen eine ganze Horde gedungener Mörder zur Seite steht. Der Plan geht auf und Rama leistet nach seiner Entlassung seinen Dienst als rechte Hand Ucos. Zur gleichen Zeit plant Bejo (Alex Abbad), ein anderer aufstrebender Gangsterboss, seinen Coup: Er will die Macht in Jakarta an sich reißen, indem er Bangun und den Japaner Goto (Kenichi Endo) gegeneinander ausspielt. Uco, selbst von Machthunger ergriffen, soll ihm dabei helfen.

Evans erzählt diese sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstreckende Geschichte mit vielen Ellipsen und Sprüngen, führt unvermittelt neue Figuren ein, verschiebt unerwartet den Focus von einer auf die andere, unterbricht den Flow immer wieder jäh mit jenen statischen Dialogszenen. Vor allem während der ersten Stunde stellt sich so das Gefühl ein, hier sei ein Regisseur unter der Last der Ambition eingeknickt. Die Leichtfüßigkeit, das Tempo, die THE RAID ausgezeichnet hatten, sind dahin und das, was an ihre Stelle tritt, stellt keinen adäquaten Ersatz dar. Die Charaktere bleiben Folien, selbst wenn es immer wieder schöne Einfälle gibt: Als Rama nach zwei Jahren seine Gattin anruft und sie bittet, ihn die Stimme des Sohnes hören zu lassen. ohne dass der es merkt, schließt die Szene mit dem Bild des in den Raum gehaltenen Telefonhörers und der aus dem Off erklingenden Stimme des Kindes. Toll sind auch wieder die gemäldeartigen Bildkompositionen und die lebendigen Texturen von verwitterten Wänden und Böden: Die Aufnahme zweier Männer vor einer Wand, der Blick auf eine verfallene Plattenbausiedlung, das Bild einer durch den Schnee sickernden Blutlache werden zu impressionistischen Gemälden. Evans zeigt eine Vorliebe für authentisch wirkenden Schmutz und Verfall, der THE RAID 2: BERANDAL einige fantastische visuelle Momente verdankt. Aber die Lebendigkeit, die diese Bilder suggerieren, stehen im Kontrast zur Leere der Charaktere: Das aalglatte, in seiner Makellosigkeit fast manipuliert aussehende Gesicht Ucos ist da fast schon paradigmatisch zu nennen.

Irgendwann fängt sich der Film – oder man gewöhnt sich daran, dass er visuell wie erzählerisch einer sehr eigenen Ästhetik verpflichtet ist. Dieser neurotische Wechsel von ultrabrutalen, halsbrecherisch spektakulären Actionszenen und somnambulen, aber nichtsdestotrotz (bedeutungs)schweren, drückenden Dialogszenen entwickelt mehr und mehr seinen eigenen Reiz. Es hilft aber zugegebenermaßen auch, dass die Pausen zwischen den Massakern mit zunehmender Laufzeit kürzer werden. Und hier brillieren Evans und Hauptdarsteller/Choreograf Uwais dann wie gewohnt: Die Kamera wirbelt genauso entfesselt wie die Darsteller, dennoch bleibt die Übersichtlichkeit stets gewahrt. Stilistisch sind die Martial-Arts-Fights nicht von jener Eleganz geprägt, die etwa alte Hongkong-Eastern auszeichnet, auch nicht von der kalten Effizienz, mit der Seagal zu Werke ging, vielmehr steigert sich Uwais in einen Zustand berserkerhafter Raserei, wirft sich mit vollem Körpereinsatz und ohne Rücksicht auf Verluste in seine Gegner und walzt sie buchstäblich nieder. Artistik ja, aber sie geht hier nicht mit der Freude einher, die Gesetze der Physik zu überwinden, sondern verfolgt stets den Zweck, größtmöglichen Schaden anzurichten. Den Gegner greifen und ihn mit voller Wucht in eine Wand oder gegen einen Pfeiler zu schleudern: Das ist der Move, der seine Methode vielleicht am ehesten repräsentiert. Der Blutverlust hier ist enorm, ebenso wie die Anzahl gebrochener Knochen. Genüsslich werden Gegner zu Kebap zerhäckselt, Gesichter und Köpfe weggeschossen, eingeschlagen oder zerschlitzt, Körper pulverisiert, Gliedmaßen verbogen oder aus den Gelenkpfannen gerissen. Als ein Killerpärchen auftritt, das mittels zweier Hämmer (Sie) bzw. Baseballschläger und zugehörigem Ball (Er) mordet, droht THE RAID 2: BERANDAL die Grenze zum Funsplatter zu überschreiten, aber Evans findet doch noch den richtigen Dreh. Die Höhepunkte des Films sind eine schier wahnsinnige Verfolgungsjagd, zu der neben dem obligatorischen vehicular mayhem auch eine irre Prügelei zwischen vier Personen im Inneren eines fahrenden Autos (!) gehört, und der große Schlussfight zwischen Rama und einem mit zwei sichelartigen Messern bewaffneten Killer. Wie die beiden hier in einem nicht enden wollenden, gnadenlosen Kräftemessen den Raum mehrfach durchmessen, bis einer von ihnen in einer riesigen Blutlache liegt, setzt sicherlich neue Maßstäbe im Bereich des Martial-Arts-Films.

Am Ende war ich dann doch sehr versöhnt mit dem Film und bin gern bereit, ihm seine Schwächen zu verzeihen: Evans hätte es sich gewiss einfach machen und die Schablone des erfolgreichen ersten Teils ein zweites Mal anwenden können: Rama vs. Schurkenarmee auf einem Schiff/in einem unterirdischen Gewölbe/in einem abgeschlossenen Freiluftgebiet. Stattdessen geht er einen Weg, mit dem er manchen Fan verprellen mag. Es ist etwas Arbeit und Eingewöhnung nötig, um sich auf das gedrosselte Tempo des Sequels einzustellen, aber wenn man sich darauf einlassen mag, wird man mit einem ungewöhnlichen, originellen und einzigartigen Film belohnt, den ich mir jetzt am liebsten gleich noch einmal ansähe.

all that jazz (bob fosse, usa 1979)

Veröffentlicht: Februar 25, 2015 in Film
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Mein Monat voller filmischer Wunderwerke geht weiter mit ALL THAT JAZZ, einem Film, der eigentlich niemals funktionieren dürfte, alle Zeichen eines unerträglich selbstverliebten, selbstmitledigen und weinerlichen Clusterfucks trägt, aber dank des bitteren, bissigen Drehbuchs, brillanter formaler Gestaltung und eines Roy Scheider, der in einer für ihn eher untypischen Rolle eine Leistung für die Ewigkeit ablieferte, alle Hürden mit beeindruckender Leichtigkeit überwindet. Regisseur Bob Fosse verbindet in seinem unverkennbar autobiografischen Film Bestandsaufnahme, Karriererückschau und -ausblick, Showbiz-und Selbstkritik zu einer tragikomischen, schwarzhumorigen Farce, die Realität und Traum durchmisst und gleichermaßen von Melancholie, Liebe, Narzissmus, Selbsteinsicht und -ironie geprägt ist.

Fosses Alter-Ego Joe Gideon (Roy Scheider), ein ebenso erfolgreicher wie perfektionistischer Musical- und Filmregisseur und darüber hinaus gnadenloser Womanizer, Kettenraucher und Workaholic, arbeitet sich in eine lebensbedrohliche Krankheit hinein, findet, von Todessehnsucht und unbändiger Lebenslust getrieben, jedoch auch dort keine Ruhe und stirbt schließlich, während er in einer ausufernden Trauminszenierung Abschied von der Bühne des Lebens nimmt. Die Szenen, die seinen Schicksalsweg nachzeichnen, werden immer wieder von einem Gespräch unterbrochen, in dem Gideon – möglicherweise im Todesdelirium – einem engelhaften Wesen (Jessica Lange) seine Lebensgeschichte und Gedanken offenbart und so versucht, mit sich selbst ins Reine zu kommen, Frieden zu schließen – und auch diese Frau zu verführen wie so viele andere.

ALL THAT JAZZ legt ein irrwitziges Tempo vor, überschlägt sich fast in dem Bemühen, mit dem Rhythmus Gideons mitzuhalten, der keine Pausen kennt. Zwischen dem aufreibenden Endschnitt seines Hollywood-Films „The Stand-up“ (der unverkennbare Parallelen zu Fosses eigenem LENNY aufweist) und einer neuen Broadway-Inszenierung gefangen, bei der er sich mit mäßig talentierten Tänzerinnen, pfennigfuchsenden, fantasielosen Produzenten sowie dem eigenen, nie zufriedenzustellenden Anspruch herumschlagen muss, können ihn auch seine Ex-Frau Audrey (Leland Palmer), seine Tochter Michelle (Erzsébet Földi) und seine Geliebte Katie (Ann Reinking) nicht bändigen. Gideon muss immer weiter, immer weiter, immer weiter, auch gegen den eigenen Körper und die Vernunft. Das Leben ist eine Show und die muss bekanntlich weitergehen, bis der Vorhang fällt. Man kennt diese Dramaturgie aus zahlreichen Biopics oder vor allem schweren Krankheitsdramen, in denen der Tod seinen langen Schatten unheilvoll und dräuend vorauswirft, man den Protagonisten warnen möchte wie einst im Kasperletheater, und am Ende, wenn sich das Schicksal wie erwartet vollzieht, alle Tränendämme brechen. Aber ALL THAT JAZZ ist anders. Der Tod ist keine Zäsur, er beendet nicht etwas, das hätte weitergehen sollen, sondern er ist der logische Höhe- und Kulminationspunkt von Gideons Leben, der Moment, in dem alles plötzlich Sinn ergibt und er endlich die Ruhe vor der Sucht findet, die er sich im Leben nie gönnen konnte. Sicher, man schüttelt unweigerlich den Kopf, wenn Gideon, dem der Arzt unter unmissverständlicher Schilderung der Schwere seiner Krankheit absolute Ruhe nahegelegt hat, Zigaretten qualmt und rauschende Partys feiert, dem Tod gewissermaßen feixend ins Gesicht lacht, aber dann muss man auch seine Energie und Chuzpe bewundern. Er entscheidet sich bewusst für seinen Weg und nimmt das Ende, das ihm droht, in Kauf. Ruhiger zu treten, das Arbeiten, das Rauchen, die Frauen aufzugeben: Das wäre schlimmer als der Tod, weil es die Negierung all dessen wäre, was Gideon ist.

Fosse macht trotzdem nicht den Fehler, den ausschweifenden Lebensstil seines Protagonisten (seiner selbst) hoffnungslos zu glorifizieren. Eine sehr eindringliche Sequenz macht nachvollziehbar, unter welchem Druck Gideon ständig steht: Bei einer Scriptlesung in Anwesenheit der Geldgeber wird der Dialog komplett stumm geschaltet, alles, was man hört, sind die Geräusche von Gideons nervös und ungeduldig trommelnden Fingern, dem Scharren seiner Füße, das Knistern seiner Zigaretten, das Knacken des Belistifts, den er schließlich zerbricht. Hier begreift man, dass Gideon nicht einfach nur eine spezielle Haltung zum Leben einnimmt, sondern dass er seine Umwelt ganz anders wahrnimmt. Schon auf einem Stuhl zu sitzen, wird für ihn zu einer Tortur, weil er machen, machen, machen will. Und genau diese Rast- und Ruhelosigkeit ist es auch, die ihn überhaupt erst zu einem großen Künstler werden lässt. Als Gideon an einer Musicalnummer verzweifelt, verbeißt er sich förmlich in die Arbeit und präsentiert dann schon bei der Probe eine absolut atemberaubende, grenzensprengende Choreografie, die die Zuschauer – sowohl intra- wie extradiegetisch – sprach-, fassungs-, mitunter auch verständnislos zurücklässt. (Die spätere CONAN-Darstellerin Sandahl Bergman geizt hier nicht mit ihren Reizen.) Ständig strebt Gideon zu Höherem, ohne jede Rücksicht auf sich, nur die Kunst im Blick – und muss dann miterleben, wie seine Errungenschaften unter schnöden ökonomischen Gesichtspunkten bewertet werden. Das Problem von Gideon ist, dass er sich selbst nicht gehört, sich selbst nur als Durchlaufstationen für ehabene Ideen, als Werkzeug begreift – und auch von anderen nur so begriffen wird. (Seine Produzenten hoffen nach der Rücksprache mit der Versicherung auf seinen Tod, da sie dann einen Gewinn erwirtschaften, ohne dass ihr Stück überhaupt aufgeführt wird.)

Das Timing, die Musik, die Bilder, der Schnitt, die Darsteller, der Humor: Hier ist wirklich alles perfekt, selbst, wenn es einmal nicht perfekt ist. ALL THAT JAZZ wirft sich lustvoll in den Wahnsinn, verwandelt auf wundersame Weise auch noch den potenziell schmerzhaft peinlichsten Moment in ein rauschhaftes Bekenntnis zum Leben und zur Kunst. Das Ende ist sicherlich kritikwürdig, dehnt den vielleicht uninteressantesten Song des Films am längsten aus, zögert das doch Unvermeidliche und längst Feststehende anscheinend unnötig heraus und ist über die volle Distanz höchst redundant. Ich hatte ein kurzes Streitgespräch mit meiner Gattin, die dieses Ende als zäh und als Schwachpunkt des Films empfand. Das ist rein emotional betrachtet wahrscheinlich sogar richtig (die zeitgenössische Kritik bewertete es ähnlich), aber aus inhaltlicher Sicht muss es meines Erachtens nach genau so, darf es gar nicht anders sein. Wir haben bei diesem Finale teil an der Todesfantasie eines selbstverliebten Egoisten, eines sympathischen zwar, aber dennoch eines Narzissten, der seine letzten Sekunden für sich als großen Triumph inszenieren darf. Einmal steht er im Mittelpunkt, einmal redet ihm keiner rein, einmal kann er all seinen Instinkten folgen (auch den schlechten) und tun und lassen, was er will. Und, was faszinierend ist: zum ersten Mal ist er auch mit sich selbst ganz zufrieden, bleibt sein sonst rasender Perfektionismus vollkommen stumm. Auch ohne religiösen Kitsch und tränenreiches Pathos wird der Tod hier zu etwas unendlich Beruhigendem, Befreiendem.Gideon war noch nicht fertig, aber er stirbt trotzdem mit einem Lächeln auf den Lippen.

Bob Fosse machte nach ALL THAT JAZZ noch einen Film, inszenierte noch ein Bühnenstück, dann starb er – an einem Herzinfarkt. Welchen Song er auf den Lippen hatte, als er die letzte große Reise antrat, werden wir nicht erfahren.

blog-ergänzung: neue seite „bibliografie“

Veröffentlicht: Februar 24, 2015 in Über mich

Ich habe das Blog um die neue Seite „Bibliografie“ ergänzt. Wie der Name unschwer erkennen lässt, habe ich dort alle meine filmrelevanten Arbeiten inkl. entsprechender Links versammelt, die ich im Laufe der letzten Jahre so angesammelt habe. Ich hoffe, die Liste wird kontinuierlich weiter wachsen und gedeihen. Momentan sieht es sehr gut aus, schon für dieses Jahr stehen einige weitere spannende Projekte an, die ich ankündigen werde, sobald es denn spruchreif ist. Die Seite steuert ihr über die Navigation im Header an oder über diesen Link.

Alle, die insgeheim von einem großen, fett produzierten, visuell aufregenden Steven-Seagal-Altersactioner träumen: Dies ist the next best thing, der Film, den Seagal machen sollte und wahrscheinlich machen könnte, wenn er nicht zu desinteressiert und mittlerweile wohl auch zu verbrannt für Hollywood wäre. THE EQUALIZER, basierend auf einer Achtzigerjahre-Fernsehserie mit dem WICKER MAN-Hauptdarsteller Edward Woodward, die leider kaum noch jemand kennt und mit der der Film nicht mehr allzu viel gemeinsam hat, ist ein slow burner, kein CGI-lastiger Effektrausch wie die meisten zeitgenössischen Actionfilme, sondern ein finsterer, schwer aufs Gemüt drückender Nachtfilm mit einem Helden, dessen Triumph eine dumpfe Taubheit hinterlässt wie man sie spürt, wenn man nach einer zehrenden Krankheit zum ersten Mal wieder Bett und Haus verlässt. Gleichzeitig belebt er ein Gefühl, dass der großbudgetierte Mainstream-Actionfilm kaum noch zu evozieren versteht: Es ist dieses „Fuck, yeah!“-Gefühl, den die von Outlaw Vern so getauften „Oh shit, it’s on“-Momente nach sich ziehen, Momente, in denen man begreift, dass es gleich ernst werden wird, dass gewissermaßen Schluss ist mit lustig, dass das Töten effektiv und erbarmungslos, das Sterben schmerzhaft und dreckig werden wird. Robert McCall (Denzel Washington), der einem bis unter die Jochbeine tätowierten russian mobster gegenübertritt und ihn mit einem kaum zu rekapitulierenden, zum bloßen Reflex mutierten move entwaffnet. Robert McCall, der einen Raum voller Schwerverbrecher im Rücken hat, zu sich selbst sagt „16 seconds“, den Timer seiner Digitalarmbanduhr stellt, sich umdreht und dann einen nach dem anderen mit der Effienz eines Roboters umbringt. Robert McCall im Verhandlungsgespräch mit dem Killer Teddy (Marton Csokas) kurz vor dem unvermeidlichen Showdown, ganz gefasste, selbstbewusste Autorität, Entschlossenheit und Gewissheit. Die Frage ist nicht, wer hier am Ende als Sieger das Feld verlässt, sondern was von den Leichnamen der Schurken noch übrig bleiben wird und ob ihnen die Zeit bleibt, zu realisieren, was mit ihnen geschieht. Seit OUT FOR JUSTICE war das Kräfteverhältnis zwischen Held und Schurke nicht mehr so aus dem Gleichgewicht wie hier.

Das allein würde ja schon reichen, mir THE EQUALIZER ans Herz zu schweißen, aber da ist noch mehr. Die Exposition ist ganz nachtschwarze Melancholie, voller stimmungsvoller Bilder urbaner Einsamkeit. Washingtons McCall ist ein Witwer, der Tag für Tag einer traurigen Routine folgt, sein Leben mit einer Ruhe und Ordnung lebt, die im Grunde genommen eine Vorbereitung auf das Sterben ist. Diszipliniert nimmt er nach der Arbeit in einem Baumarkt seine Mahlzeit allein am Tisch in seiner kleinen Wohnung sitzend ein, spült dann in stiller Andacht Besteck, Teller und Glas, stellt sie ordentlich in das Abtropfgitter und legt dann gewissenhaft das Handtuch zusammen, das er mit sicherem Handgriff an seinen angestammten Platz am Griff des Spülschrankes hängt. Er faltet einen Teebeutel fein säuberlich in ein Stofftaschentuch, streift die Kanten glatt und steckt es in seine Jackentasche, nimmt sein Buch (Hemingways „Der alte Mann und das Meer“) und sucht das 24-Stunden-Diner auf, das von außen wie das Bild des in die Ewigkeit gedehnten Wartezustands aussieht, den Edward Hopper auf seinem Gemälde „Nighthawks“ festgehalten hat. Dort legt McCall das bereitliegende Besteck bis auf den Löffel beiseite, faltet das Tuch auf, entnimmt den Teebeutel, legt das Buch bündig an die seitliche Tischkante und wartet darauf, dass der Kellner heißes Wasser in eine Tasse gießt. Man könnte diesem Mann stundenlang dabei zusehen, wie er die nichtigen Handlungen, aus denen sein Leben besteht, mit größter Würde, Genauigkeit, Haltung und dem Wissen absolviert, dass man bereits die kleinen Dinge richtig machen muss. Da weiß man freilich noch nicht, dass McCall sein brachliegendes Potenzial bereits kennt und die in Alltagshandlungen gesteckte Akribie reine Ersatzhandlung ist. Aber man kann seinen Dämonen nicht entfliehen. „Got to be who you are in this world, no matter what.“

Ironischerweise fungiert THE EQUALIZER für mich persönlich ganz entgegen seiner existenzialistischen Haltung als schönes Beispiel dafür, wie sich die Dinge ändern können, dass eben nicht alles in Stein gemeißelt ist. Es ist noch nicht lange her, da war Denzel Washington für mich ein Grund, einen Film nicht zu sehen genau wie Antoine Fuqua. TRAINING DAY habe ich seinerzeit gehasst und das, was ich danach über KING ARTHUR gelesen hatte, bestätigte mich in meinem Glauben, dass es da wieder einmal ein besonderer Stümper in die oberen Etagen Hollywoods geschafft hatte. Seitdem hat der Mann aber Knaller wie SHOOTER und BROOKLYN’S FINEST gedreht und Denzel Washingtons Stärken kommen mit den Jahren, die er zulegt, immer mehr zum Tragen. Seine Entwicklung vom smarten, oft unangenehm selbstgefälligen Charmeur zum altersweisen badass ist absolut begrüßenswert und ein wenig mit dem überraschenden Karriereverlauf Liam Neesons vom langweiligen Charakterdarsteller zum Actionhelden zu vergleichen. Washington ist grandios in THE EQUALIZER, die lässige Gravitas seiner Stimme allein macht schon den Film, die elegante Ökonomie seiner Bewegungen und Mimik ist Ausweis des Profis, der niemandem mehr etwas beweisen muss. Und Fuqua malt ihm zusammen mit DoP Mauro Fiore die ikonischen Bilder, die so ein Film braucht, um sich unauslöschlich einzubrennen. Ich hatte große Hoffnungen in THE EQUALIZER gesetzt, aber dass ich so weggebügelt werden würde, hätte ich nicht zu träumen gewagt. Ein Kracher, der aber, so hoffe ich, ohne das angekündigte Sequel auskommen wird. Denn so sehr ich mich über den Erfolg des Filmes freue und so gern ich mehr von McCall sähe, so wenig braucht THE EQUALIZER einen Nachklapp, so sehr dieses auch arschtreten mag. Jede Fortsetzung kann diesen Charakter nur trivialisieren, ihm Bedeutung und Nachhaltigeit rauben (auch hier siehe als Vergleich den traurigen TAKEN 2). Und ich will ihn so in Erinnerung behalten, wie ich ihn hier gesehen habe, will, dass er wieder im Nebel des Mythischen verschwindet, in seinem urbanen Schlummerzustand, aus dem er hier einmal aufgeweckt wurde.