Archiv für September, 2015

Vielleicht einer der tragischst missverstandenen Filme aller Zeiten, wurde PEEPING TOM bei Erscheinen von der Kritik einhellig verrissen und vom Publikum gemieden wie die Beulenpest. Michael Powells bis dahin eindrucksvolle Regiekarriere – nicht zuletzt als Teil des Duos mit Emeric Pressburger, mit dem er bis heute verehrte und anerkannte Meisterwerke wie THE LIFE AND DEATH OF COLONEL BLIMP, A MATTER OF LIFE AND DEATH, BLACK NARCISSUS und THE RED SHOES gedreht hatte – war danach mehr oder weniger beendet. PEEPING TOM ging nicht einfach nur am „Markt“ vorbei: Er verstörte die Menschen mit seiner sachlich-zurückhaltenden Thematisierung von Voyeurismus, Fetischismus, Sex und Gewalt, erntete mithin nicht nur Desinteresse, sondern aktive Verachtung. Wer weiß, was passiert wäre, wenn Powells Film das Licht der Leinwand nur einige wenige Monate später erblickt hätte? Da war nämlich Alfred Hitchcocks PSYCHO zu einem riesigen Erfolg avanciert und hatte die Vorstellungen davon, was man im Rahmen von „Unterhaltung“ zeigen dürfe, gewaltig verändert, die Geschmacksgrenzen erheblich verschoben. Aber selbst wenn man annimmt, dass PEEPING TOM nicht zuletzt ein trauriger Fall schlechten Timings ist – das Urteil über ihn ist längst revidiert und Powells Film zählt heute zu den einhellig gefeierten Meisterwerken des intelligenten Genrekinos, darf gar als einer seiner Schlüsselfilme bezeichnet werden –, so ist es doch wohl auch Powells nicht auf grelle Schocks, sondern auf Verstehen gerichtete Vorgehensweise, die Schiffbruch des Films erheblich begünstigte. Und natürlich die Tatsache, dass er das Publikum durch die subjektive Kamera mit ins Boot holte.

Karlheinz Böhm spielt Mark Lewis, den titelgebenden Voyeur, eine tragische, sanftmütige Gestalt, deren Weg bereits früh geebnet wurde. Sein Vater, ein Psychologe mit dem Forschungsgebiet „Angst“ quälte ihn schon als Kind, hielt jedes demütigende Experiment auf Film fest und vererbte seine Obsession, als er dem Sohn die erste eigene Kamera schenkte. In der Gegenwart von PEEPING TOM arbeitet Mark als Schärfezieher beim Film, macht nebenbei pornografische Fotos und dreht seine eigene „Dokumentation“: Er filmt Frauen im Moment ihres Todes, den sie durch ein in sein Stativ integriertes Bajonett erfahren, und zwingt sie mithilfe eines Spiegels dazu, sich selbst bei ihrem Ableben zuzuschauen. Es ist die Angst im Gesicht der Opfer, die ihn fasziniert und Film hilft ihm dabei, diesen Moment für immer einzufrieren. Was er nicht durch das Objektiv der Kamera betrachten kann, scheint immer nur halb so „wahr“ und so unterhält er mit dem technischen Gerät eine fast symbiotische Beziehung.

Anders als Hitchcock, der PSYCHO nicht zuletzt als makabren Thrillride anlegt und seinem Publikum erst am Ende in einem umständlichen langen Monolog die wissenschaftlichen Hintergründe darlegt, schuf Powell ein einfühlsames Psychogramm, dem wenig an Schocks oder raffiniert komponierten Suspense-Sequenzen gelegen ist, dafür aber viel an psychologischer Genauigkeit und Empathie. Protagonist Lewis ist nicht nur Täter, sondern auch Opfer, ohne jede Chance, sich über seine Obsession zu erheben. Powell zeigt viel Verständnis für die kleinen Perversionen des Alltags, das zeigt sich sehr deutlich in einer frühen komischen Szene, in der ein älterer Herr verschämt Nacktfotos in einem Zeitungskiosk kauft. Ursprung des Humors ist in dieser Szene nicht sein Bedürfnis, sondern die verklemmte Art, mit der er es zu verbergen gedenkt. PEEPING TOM ist nicht in erster Linie ein gesellschaftskritischer Film, aber er macht keinen Hehl daraus, dass es nicht zuletzt die repressive Sexualmoral ist, die Monster wie Lewis erzeugt.

Einflussreich ist Powells Film aber vor allem als metafilmischer Kommentar, der Grundlagenarbeit für Filmemacher wie De Palma oder auch Argento leistete: Powell entblößt den Kern jeder filmischen Tätigkeit, enttarnt das Begehren als ihren Schlüsselreiz, deckt die komplizenhafte Verbindung zwischen Regisseur und Zuschauer auf, zeigt sich selbst als Anstifter und Verführer an (Powell spielt Lewis‘ Vater in den alten Filmen, die der sich anschaut, und Lewis‘ kindliches Alter ego ist Powells eigener Sohn) und setzt so auch den Diskurs über die Verbindung von Schöpfer und Kunstwerk fort, mit der er sich schon in THE RED SHOES beschäftigt hatte. Eine Fortsetzung ist PEEPING TOM auch in ästhetischer Hinsicht, wenn er auch nicht die hohen Gipfel der Stilisierung erklimmt, die: Powells Serienmörderfilm ist etwas zurückgenommener inszeniert, aber ähnlich prachtvoll in seiner diesmal etwas schattenhafteren Technicolor-Fotografie.

Von der Balustrade eines Nobel-Hotels im vornehmen Monte Carlo schauen der aufstrebende Komponist Julian Craster (Marius Goring) und die Ballett-Tänzerin Victoria Page (Moira Shearer) auf einen stilisierten Leinwand-Horizont. Unterhalb der Balustrade fährt ein Zug vorbei, aber alles, was man sieht, sind seine Rauchschwaden, die weiß wie Watte nach oben wallen. Julian und Victoria gehören zum Ensemble des Ballett-Impresarios Boris Lermontov (Anton Walbrook), der sie mit ihrer Aufführung der Hans-Christian-Andersen-Bühnenadaption von „Die roten Schuhe“ zu Stars machen will. Man merkt, dass die beiden sich gut verstehen, ja, dass ein erster Funke zwischen den beiden Künstlern, deren Traum vom Ruhm auf den Bühnen der Welt wahr zu werden scheint, überspringt. Man hat diese Szene in tausend Filmen gesehen, aber nie wie hier. Die beiden sympathischen Menschen, für die das alles neu und unwirklich ist, verabschieden sich für die Nacht voneinander. Es gibt keinen Close-up auf schmachtende, lockende Augenpaare oder auf ein wissendes Lächeln: Stattdessen eine Halbtotale und einen zwar formellen, aber doch ungemein viel versprechenden, von gegenseitiger Bewunderung und Respekt kündenden Händedruck.

Ich weiß nicht genau, warum ausgerechnet diese Szene so einen Eindruck auf mich gemacht hat. Es gibt in diesem Film weitaus spektakulärere, prächtigere, emotionalere, allen voran die absolut betörende Ballett-Sequenz im Mittelteil, in der Powell und Pressburger wieder einmal alle Register ihrer visuellen Meisterschaft ziehen, oder natürlich das niederschmetternde Finale: Wahrscheinlich hat mich diese eine wegen ihres Understatements so fasziniert. Es ist ein fraglos wichtiger Moment des Films, einer, der durch sein artifizielles Bühnensetting die visionäre Kraft entfaltet, die ihm gebührt, aber er ist trotzdem von dieser gewissen Zurückhaltung geprägt, die die zum Ausdruck kommenden Gefühle erst greifbar macht. Es ist diese Verbindung atemberaubender Bildkompositionen, großer, tosender Gefühlswelten und feinster Nuancierungen im Ausdruck, die auch THE RED SHOES wieder zu einem einmaligen Erlebnis macht, Balsam für geschundene Filmliebhaber-Seelen. Ich habe von Powell und Pressburger jetzt vier Filme gesehen und jeder von ihnen war von einer Klasse, die die meisten Filmemacher nicht ein einziges Mal in ihrer Karriere erreichen. Das britische Regie-Duo drehte innerhalb von sechs Jahren hingegen vier absolut makellose, unendlich reiche Filme, allesamt auf demselben unerreichbar hoch scheinenden Niveau. Mir fehlen die Worte, um diese Leistung angemessen zu würdigen.

In THE RED SHOES geht es um die Kunst, die Liebe zu dieser Kunst und die Frage, in welchem Verhältnis sie zum Leben steht, wie weit sie sich von diesem emanzipiere darf. Hans-Christian Andersens Märchen „Die Roten Schuhe“ fungiert als Gleichnis, das auf zwei Ebenen verhandelt wird. Die Geschichte des Mädchens, das sich nichts sehnlicher wünscht, als einmal mit roten Schuhen zu einem Ball zu gehen, dann aber an ein paar Zauberschuhe gerät, das sie daran hindert, mit dem Tanzen wieder aufzuhören, spiegelt sich in der Karriere der aufstrebenden Ballett-Tänzerin Victoria. Lermontov ist überzeugt, sie zum Weltstar machen zu können, doch er fordert von ihr hunderprozentigen Einsatz. „Leben oder Tanzen“: Das ist die Wahl, vor der er sie stellt, und es fällt ihr nicht schwer, sich für das Tanzen zu entscheiden. Nachdem die Inszenierung von „The Red Shoes“ zum Triumph gerät, muss sie aber erkennen, dass sie eine weniger radikale Vorstellung vom Leben für die Kunst hat als Lermontov. Es kommt zum Bruch, als er von ihrer Liaison mit Craster erfährt: Er entlässt sie beide, weil sie sich nicht voneinander trennen wollen, und stürzt Victoria damit ins Verderben.

Aber Lermontovs unnachgiebiges „L’art pour l’art“ ist natürlich auch für ihn selbst nicht lebbar: Es ist ein Vorwand, den er benutzt, um Victoria an sich zu binden, sie für sich zu haben, alleinigen Besitzanspruch zu erheben. Er ist unfähig, seine Gefühle abseits seiner sinnlich-rauschhaften Bühneninszenierungen zu zeigen, von Angesicht zu Angesicht. Die Kraft seiner Bühnenstücke steht im krassen Widerspruch zu der disziplinierten Askese, mit der der blasse Mann sein Leben lebt. Man vermutet, dass die Strenge und Distanz, die er im Umgang mit Menschen an den Tag legt, einer tiefen Unsicherheit entspringt, aber was der Grund für diese ist, wird nie adressiert. Er bleibt ein tragisches Mysterium. Der ergreifendste Moment des Films kommt ganz zum Schluss, als er nach dem Freitod seines Stars vor das Publikum tritt, um mit krächzender, gepresster, geradezu maschinell klingender Stimme die Katastrophe zu verkünden. Das Stück wird dann trotzdem aufgeführt, aber nicht mit einer Zweitbesetzung, sondern ganz ohne eine Hauptrolle. Da, wo einst Victoria  über die Bühne wirbelte, kündet nun ein leeres Spotlight von der Leere, die zurückbleibt. Der Blick auf Lermontov am Ende des Stückes, als sein Alter ego, der Schuhmacher, dem toten Mädchen die verzauberten Schuhe abnimmt, zeigt einen zerstörten Mann. Victoria hat über ihre Liebe zur Kunst das Leben verloren, Lermontov ist das Leben geblieben, aber er wird keine Kunst mehr schaffen.

Ich habe BLACK NARCISSUS für diesen Text gleich zweimal geschaut – und könnte ihn mir gut und gern auch noch ein drittes, viertes und fünftes Mal ansehen. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass BLACK NARCISSUS einer der bildgewaltigsten, schönsten und farbenprächtigsten Filme ist, die ich je gesehen habe. Und wie die zuletzt gesehenen THE LIFE AND DEATH OF COLONEL BLIMP und A MATTER OF LIFE AND DEATH des Regisseur-und-Autoren-Gespanns Powell/Preeburger handelt es sich auch bei diesem um ein Musterbeispiel an Geschmack, Stil und Intelligenz. Aber er ist auch anders: Konnte man die beiden vorgenannten Filme noch als „Themenfilme“ bezeichnen, als Filme mit einem Thema und einer „Aussage“, so ist BLACK NARCISSUS stärker figurenorientiert und psychologisch. Ich habe ihn auch deshalb zweimal nacheinander gesehen, weil mir am Ende des ersten „Durchgangs“ klar geworden war, dass mir viele wichtige Details entgangen waren. Ich musste das erst einmal alles wahrnehmen, aufsaugen und verarbeiten, was da an Farbenpracht und Opulenz auf mich eingeprasselt war, um mich dann ums Verstehen zu bemühen. Wie die Nonnen des Films, die in ihrem verlassen in den Bergen liegenden Kloster inmitten einer fremdartigen Kultur und von kalten Winden umtost einen wahren Kulturschock erleben, der ihr Innenleben gründlich durcheinanderwirbelt, musste auch ich mich als Zuschauer erst einmal wiederfinden, um mich ihm dann noch einmal stellen zu können.

BLACK NARCISSUS ist ein tief sinnlicher, ungemein erotischer Film – nicht zuletzt deshalb, weil Sinnlichkeit und Erotik aufgrund des Sujets (und der damals vorherrschenden Moralvorstellungen) nur unterschwellig verhandelt werden. Die Nonnen, die ausgerechnet im ehemaligen „Frauenhaus“ des Generals ein Kloster eröffnen sollen, stoßen in der überwältigenden Abgeschiedenheit der Bergwelt des Himalayas an ihre Grenzen, beginnen ihr Gelübde – das sie zur Enthaltsamkeit zwingt – zu hinterfragen, und sich an die Zeit davor zu erinnern, eine Zeit, die nicht zuletzt von enttäuschten Liebschaften geprägt war. Der virile Mr. Dean (David Farrar), der ihnen als eine Art Hausmeister zur Verfügung steht, gerät ohne sein Zutun zwischen die junge Oberin Schwester Clodagh (Deborah Kerr) und die nervlich sowieso schon angespannte Sister Ruth (Kathleen Byron), die jede einfache Freundlichkeit direkt als amouröse Zuwendung missversteht und eine glühende Eifersucht auf ihre Vorgesetzte entwickelt. Auch der junge General (Sabu), der im Kloster eigentlich nur studieren will, wird auf dem falschen Fuß erwischt, und zwar von dem verführerischen Dorfmädchen Kanchi (Jean Simmons), die – von Jean Simmons völlig „stumm“ gespielt – als beinahe dämonische Verkörperung der in der Luft des Ortes liegenden erotischen Spannung verstanden werden kann. Der General ist auch für den Titel des Films veantwortlich: „Schwarze Narzisse“ ist der Name des Parfüms, das er benutzt, damit die Sinne Kanchis betört und die ihn unterrichtende Nonne verwirrt. BLACK NARCISSUS handelt von der überwältigenden Kraft der Begierde, die unter gewissen Voraussetzungen eine geradezu desorientierende, wahnhafte Qualität annimmt (ich könnte mir gut vorstellen, dass sich Dario Argento diesen Film im Vorfeld von LA SINDROME DI STENDHAL ganz besonders genau angesehen hat), den Menschen an seine Grenzen und im Falle von Sister Ruth gar darüber hinaus führt.

BLACK NARCISSUS wird heute vor allem für seine atemberaubende und makellose Technicolor-Fotografie von Jack Cardiff gerühmt, der die wunderschönen Matte Paintings kongenial einbindet und den Zuschauer mit jedem Bild zu verführen gedenkt. Gegen Ende, wenn der Konflikt zwischen Sister Clodagh und Sister Ruth seinem Höhepunkt entgegensteuert, nimmt der Film eine geradezu fiebrige Qualität an, der man sich nicht entziehen kann. Es ist diese bedeutungsverstärkende Verbindung der im besten Sinne sprechenden Bilder, bedeutsamen Blicke und der vielsagenden, subtilen Dialoge, die BLACK NARCISSUS so herausragend, spannend und, ja, erregend macht. Es gibt übrigens noch eine interessante politische Lesart, die aber interessanterweise auch den eigentlichen „Text“ stützt: 1947, das Jahr, in dem BLACK NARCISSUS erschien, war auch das Jahr, in dem Indien – der Schauplatz des Films – seine Unabhängigkeit zurückerlangte, die britischen Kolonialherren sich verabschieden mussten. Das exotische Land verließen die Briten nicht zuletzt reich an überwältigenden Eindrücken aus einer fremden Kultur, sicherlich nicht nur aus machtpolitischen Gründen mit einem weinenden Auge, das man dann auch in der letzten Einstellung des Filmes sieht, als Mr. Dean den abreisenden Nonnen nachschaut. BLACK NARCISSUS lässt sich mithin auch als Abschiedsfilm lesen, als Liebeserklärung an ein Land, das den Briten die Sinne vernebelte, dass sie liebten, aber nie begreifen konnten.

Nach A MATTER OF LIFE AND DEATH ist dies das zweite leuchtende Meisterwerk, das ich von Powell und Pressburger zu sehen bekommen habe, und wie dieser drei Jahre später entstandene ein Denkmal an Witz, Intelligenz, Wärme, Weisheit, Schönheit, Eleganz und Eloquenz. Angesichts des mit großer Finesse gespannten, vier Jahrzehnte überbrückenden Erzählbogens, der schieren formalen Opulenz und epischen Form wäre es vermessen zu sagen, dass THE LIFE AND DEATH OF COLONEL BLIMP „leicht“ ist – aber es gelingt Powell und Pressburger ihn so erscheinen zu lassen. Wie raffiniert und zielstrebig dieser anscheinend bloß entspannt mäandernde Film tatsächlich ist, habe ich wirklich erst zum Schluss gemerkt, als sich der Kreis der Erzählung schloss und sich auf einmal Dimensionen eröffneten, deren Größe sich mir vorher gar nicht wirklich erschlossen hatte. Der Eindruck, der sich am Ende einstellte, ist tatsächlich vergleichbar mit einer spirituell-religiösen Epiphanie: Plötzlich scheint alles ganz klar, als hätten Powell und Pressburger eine Tür aufgestoßen, von deren Existenz man zuvor gar nichts wusste. Das ist umso erstaunlicher, als THE LIFE AND DEATH OF COLONEL BLIMP thematisch mit beiden Füßen fest am Boden steht – was ihn dann wohl auch am meisten von A MATTER OF LIFE AND DEATH unterscheidet.

Die Kühnheit des erzählerischen Entwurfs wird offenkundig, wenn man sich vor Augen ruft, auf welcher Idee der Film eigentlich beruht. Der titelgebende Colonel Blimp, dessen Name im Film aber nie genannt wird, war eine Comic-Strip-Figur, mit der ihr Schöpfer, der Zeichner David Low, sich in den 1930er-Jahren in den Ausgaben des Evening Standards über britischen Konservatismus und Imperialismus lustig machte. In den Strips schwang der Colonel, ein dicker, glatzköpfiger, älterer Mann mit beeindruckendem Schnurrbart, in der Geborgenheit eines türkischen Dampfbads große Reden und steigerte sich mit hochrotem Kopf in schwachsinnige, teilweise widersprüchliche Dampfplaudereien zur weltpolitischen Lage, die seine Aus-der-Zeit-Gefallenheit und seine Unfähigkeit, sich mit der Weltordnung der Gegenwart zu arrangieren, zum Ausdruck brachten. Powell und Pressburgers Film lässt sich nun als gelungener Versuch verstehen, diese zweidimensionale Karikatur retroaktiv wieder mit Leben zu füllen, nachvollziehbar zu machen, wie sie möglicherweise zu ihren Ansichten kommen konnte, welche Vergangenheit, welche Geschichte sie hinter sich gebracht hatte , um so das Gestern mit dem Heute zu versöhnen.

THE LIFE AND DEATH OF COLONEL BLIMP erzählt die Geschichte des britischen Soldaten Clive Candy (Roger Livesey), der vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1940er-Jahre in drei kriegerische Konflikte verwickelt ist, den Burenkrieg sowie den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, und einen Zeitenwandel erlebt, den er nicht mehr mitgehen kann und so zum „Relikt“ wird, zur untragbaren Witzfigur, für die im Militär kein Platz mehr ist. Der Film eröffnet mit einer Übung im Jahr 1942, bei der junge Soldaten schon vor dem eigentlichen Übungsbeginn zum Angriff blasen und so die Gegenseite, die von Candy angeführte Home Guard, völlig unvorbereitet treffen. Candy ist erbost über diese Unsportlichkeit, doch sein jüngerer Gegner erwidert, dass Regeln im Krieg außer Kraft gesetzt seien, man sich ja auch beim echten Feind nicht auf Absprachen verlassen könne. Die folgende Keilerei der beiden mündet in eine lange Rückblende, die das Gros des Films ausmacht, und in der man erfährt, was Candy in seiner Militärlaufbahn erlebte. Er wuchs in einer Zeit auf, in der Krieg eine streng ritualisierte Auseinandersetzung von Ehrenmännern war und sogar die tiefe Freundschaft von Feinden ermöglichte. So findet Candy in dem Preußen Theo Kretschmar-Schuldorff (Anton Walbrook), dem er zum ersten Mal in einem Duell begegnet, einen Vertrauten, der ihn durch die Jahrzehnte begleitet. Er ist es auch, der Candy am Ende die Augen öffnet: Ritterlichkeit und Ehre sind in einer Welt, in der der Gegner – die Nazis – solchen Werten längst den Rücken gekehrt hat, nicht nur überkommen, das Festhalten an ihnen würde gar den Triumph des Bösen entscheidend begünstigen. Das alte philosophische Problem, dass sich eigentlich gute Ideen ins krasse Gegenteil verkehren, wenn man sie verabsolutiert.

Candy ist ein Vorfahre all jener alten Seelen aus dem (Spät-)Western, dem Gangster-, Kriegs-, Action-, Schwertkämpfer- und Samuraifilm, die bemerken, dass sie zu alt sind, um mit den im Umbruch begriffenen Verhältnissen noch mitgehen zu können. Doch wo jene meist voller Nostalgie und Melancholie zurückblicken, in einer Verweigerungshaltung erstarren und den Tod im letzten Gefecht wählen, da gelingt es Candy in der letzten Szene des Films seinen Frieden mit der ihm fremden neuen Welt zu machen, sich als Mensch zu behaupten und trotzdem einzusehen, dass er sich dem Lauf der Dinge beugen muss. Diese Haltung von Powell und Pressburger kennen wir schon aus A MATTER OF LIFE AND DEATH, in dem sie die beiden Welten – die der Ratio und die der Seele – genauso miteinander versöhnten wie hier Gegenwart und Vergangenheit. „Versöhnung“ ist sowieso ein gutes Stichwort: 1943, noch während des tobenden Krieges also, einen Deutschen nicht nur zum Freund eines Briten, sonden diesen gar als ausgesprochene Stimme der Vernunft zu besetzen, ist nicht nur höchst ungewöhnlich, sondern wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass THE LIFE AND DEATH OF COLONEL BLIMP erhebliche Probleme von offizieller Seite bekam, massiv gekürzt wurde und erst 1983 wieder zu seiner ursprünglichen Länge restauriert wurde. Ein Schicksal, das dieses Prunkstück des britischen Kinos mehr als verdient hat.

THE LIFE AND DEATH OF COLONEL BLIMP ist eine Augenweide, das vielzitierte Fest für die Sinne, ein Monument des Humanismus, ein bewegender, überraschender, inspirierender, schlicht alle Sinne ansprechender und überwältigender Film. Zunächst fand ich ihn etwas weniger genial als A MATTER OF LIFE AND DEATH, doch mittlerweile halte ich ihn für sogar noch brillanter als dieses an Wundern auch schon nicht gerade arme Meisterwerk. Einzelne Szenen aus dem Ganzen hervorzuheben, erscheint mir als geradezu unfair, sind die knapp 150 Minuten von THE LIFE AND DEATH OF COLONEL BLIMP doch absolut geschlossen und voller feinster Nuancen, die jede für sich genommen besondere Aufmerksamkeit verdienten. Es klingt vielleicht übertrieben, aber es ist mir ein Rätsel, wie zwei Menschen dieses Maß an Perfektion erreichen konnten – und das nicht nur einmal. THE LIFE AND DEATH OF COLONEL BLIMP hat in den 70 Jahren seit seiner Entstehung rein gar nichts von seiner überwältigenden Kraft verloren. Ein Film für die Ewigkeit.

Ich möchte diesen Text mit einer Lobpreisung für Georg Thomalla beginnen, einem beliebten, gleichwohl wenig respektierten oder beachteten deutschen Schauspieler, dessen Filme heute im Allgemeinen beschämt unter den Teppich gekehrt oder in dessen Fernsehäquivalent, dem Sonntagmorgenprogramm der Öffentlich-Rechtlichen, versendet werden. In Reinls Komödie VERLIEBTE FERIEN IN TIROL nimmt er eine für den Plot bestenfalls tangentielle Funktion ein, aber er reißt den Film mit einer Kraft an sich, die staunen lässt und begeistert, ja euphorisiert. Wie er sich durch die knapp 80 Minuten Reinl’schen Trivialfilms hyperventiliert, immer haarscharf unterhalb des Anschlags agierend, kann man nur als schauspielerische Tour de Force bezeichnen, die unbedingte Würdigung verdient hat.

Ich komme auch darauf, weil ich kürzlich in einem Interview, dass das arte-Magazn anlässlich der TV-Ausstrahlung von SEIN LETZTES RENNEN mit Dieter Hallervorden führte, lesen musste, dass der Schauspieler aufgrund seiner Kino-Darbietungen in den Achtzigerjahren als „deutscher Louis De Funes“ bezeichnet wurde. Ich musste nicht viel darüber nachdenken, um das furchtbar blöd zu finden. Genauso gut hätte man Hallervorden als deutschen Eddie Murphy bezeichnen können oder Cary Grant als amerikanischen Fips Asmussen, weil schließlich alle vier Komiker sind und meistens Hosen tragen. Der Vergleich Hallervordens mit De Funes hinkt gewaltig: Die Kunstfiguren des Franzosen waren eine Verballhornung des konservativen französischen Gaullismus, eines herrschsüchtigen, aufgeblasenen, wichtigtuerischen Chauvinismus, der im Falle De Funes‘ deshalb so witzig war, weil er im krassen Missverhältnis zu dessen zwergenhaftem Äußeren stand. De Funes‘ Charaktere ahnten wohl, dass es mit ihrer ostentativ vor ihnen hergetragenen Autorität nicht allzu weit her war: Ihre manische Hyperaktivität und Nervosität, war Ausdruck dieses Wissens. De Funes machte sich über die herrschende Generation der konservativen Patriarchen lustig, Hallervorden hingegen war als Didi immer der arme, herzensgute Trottel, der verzweifelt und unermüdlich versuchte, sich gegen die Fährnisse der modernen kapitalistischen Gesellschaft zu behaupten. Er machte sich als Didi über niemanden lustig, vielmehr kämpft er um die Würde des sprichwörtlichen „kleinen Mannes“.

Aber Thomalla, der könnte tatsächlich als „deutscher De Funes“ durchgehen und seine Darbietung in VERLIEBTE FERIEN IN TIROL ist ein guter Beleg dafür. Er spielt den Dortmunder Disponenten Christian Meier („mit ,Ch'“, wie er immer wieder betont, als sei das etwas besonders Ungewöhnliches), der mit Frau und Kind sehnsüchtig den Ferien entgegensieht. Als Macher und Superdad hat er eine wahre Monsterreise gebucht, die sie mit dem Auto (!!!) von Dortmund über Innsbruck, Rom und Neapel nach Afrika und dann bis zum Kilimandscharo führen soll. Der minutiöse Reiseplan, den er als mit deutscher Effizienz und Genauigkeit erstellt sowie sorgfältig in eine Mappe geheftet hat und mit dem er fortan allen auf die Nerven geht, sich selbst eingeschlossen, muss natürlich schon beim Kofferpacken zum ersten Mal über den Haufen geworfen werden, weil das echte Leben leider nicht so perfekt ist wie deutsches Planungsgenie. In der Nähe von Innsbruck, wo man den kurzfristig als Fahrer eingesprungenen Untermieter und Architekten Stefan Hellwig (Hans-Jürgen Bäumler) absetzen will (die Gründe dafür kommen später an die Reihe), verfährt man sich und beschließt, über Nacht in einem Bauernhof einzukehren, um am nächsten Morgen weiterzufahren. Meier (mit Ch) findet vor lauter Ärger über die Verspätung und die Sorge um möglicherweise platzende Anschlussbuchungen kaum zur Ruhe, hüpft wie ein Flummi oder ein zunehmend alkoholisiertes Rumpelstilzchen durch die Gegend. Die Gattin sieht mit hilfloser Sorge, wie ihr Mann sich dem Nervenzusammenbruch oder gar dem Herzanfall nähert, schafft es aber nicht, ihn zur Besinnung zu bringen. (Die Konstellation aus übermotiviertem Vater und davon genervter Familie erinnert nicht wenig an Harold Ramis NATIONAL LAMPOON’S VACATION und Thomalla kann Chevy Chase durchaus die Stirn bieten.) Hyperventilierend blättert er immer wieder in seinem Hefter, rechnet aus, unter welchen Umständen man den Rückstand wieder einholen kann, und muss dann miterleben, wie eine Erkältung der Tochter alle Hoffnungen auf eine schnelle Abreise zunichte macht. Sein Amoklauf aus verzweifelten Anrufen beim Reisebüro, Umbuchungen und Streitereien mit den „Eingeborenen“ des Alpenkaffs – flankiert von den typischen Stilmitteln der deutschen Komödie jener Zeit, nämlich High-Speed-Dialoge, Versprecher, Wortfindungsstörungen und immer wieder Missverständnisse, Missverständnisse, Missversändnisse – endet nach einer Alkoholfahrt an einer tragenden Säule der Tankstelle von Toni Sailer, woraufhin Meier sich – nun auto- und führerscheinlos – auf eine Alpenwiese niederlässt, zum ersten Mal Entspannung findet, Kilimanjaro Kilimanjaro sein lässt und zur Freude seiner Familie verkündet, dass der Urlaub nun vor Ort verbracht werde. Die Montagesequenz mit Jodelkurs, Schuhplatteln, Kuhmelken, Heuernten und Mistkarren zeigt einen tief relaxten Meier, der am Ende gleich zwei Koffer für das nächste Jahr da lässt.

Der eigentliche Plot um den Architekten Stefan, der auf Geheiß seines Schwiegervaters in spe (Carl Lange) einen Entwurf für die Errichtung einer Fabrik inmitten der Bergidylle zeichnen soll, dann aber erst die große Liebe in Form der Tierärztin Karin (Uschi Glas) und schließlich sein Gewissen findet, das ihn davon abhält, die Natur mit seiner Fabrik zu verschandeln. fällt gegenüber Thomallas aufopferungsvollem Spießbürgererwachen erwartungsgemäß ab. Bäumler muss schon die hässlichsten Hemden des Jahrgangs ’71 tragen, um überhaupt aufzufallen, und man merkt auch Reinl das Desinteresse an, das ihn befällt, wann immer sich das Drehbuch der faden Liebesgschichte zuwendet. Hellwig ist aber auch ein besonders begriffsstutziger und langweiliger Typ: Begeistert und berauscht vom „Fortschritt“ latscht er mit seiner schockierten Karin durch einen lärmenden Steinbruch, ohne die naheliegenden Probleme wahrnehmen zu wollen, bis schließlich ein kleines verwundetes Zicklein, das nichtsahnend in die Kiesgrube gestürzt ist, ihm erste Zweifel kommen lässt. Am Ende ist natürlich alles gut, Stefan kann seine Karin heiraten ud trotzdem Karriere machen, weil sich sein Auftraggeber und Ex-Schwiegervater in spe von Bürgermeister/Tierarzt Rudolf Prack überzeugen ässt, seine Fabrik woanders zu bauen, die Meiers fahren gut erholt nach Hause und der Papa hat seine Lektion gelernt. Und Martin Böttchers Winnetoueske Melodei verwandelt jeden sich gegen das totale Glück sträubenden Zuschauer in einen geschmeidigen Ball beliebig formbarer Knete.

Aber wie gesagt: Dieser Thomalla dreht hier auf wie ein junger De Niro des Heimatfilms. Womit wir wieder bei den blöden Vergleichen wären.

the canyons (paul schrader, usa 2013)

Veröffentlicht: September 23, 2015 in Film
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canyons_ver3_xlgDie Euphorie war zunächst groß: Paul Schrader dreht nach einem Drehbuch von Bret Easton Ellis, seines Zeichens Autor des Jahrhundertromans „American Psycho“, einen fast ausschließlich über Crowdfunding finanzierten Film mit Entzugsklinik-Dauergast und Skandalnudel Lindsay Lohan und Pornstar James Deen in den Hauptrollen. Das weitere Casting erfolgt mithilfe von Social-Media-Tools, die gesamte Pre-Production gerät vom Experiment zum politischen Statement: …we’re making art out of the remains of our empire. The junk that’s left over. And this idea of a film that was crowdfunded, cast online, with one actor from a celebrity culture, one actor from adult-film culture, a writer and director who have gotten beat up in the past—felt like a post-Empire thing.“ Noch vor dem Release kursieren klickträchtige Anekdoten über die Zusammenarbeit mit dem Problemfall Lohan, die Schrader allerdings nicht im günstigsten Licht, sondern eher als chauvinistischen Menschenquäler und Manipulator oder aber schlicht als Großmaul dastehen lassen. Dann schließlich gibt es Streit über die finale Schnittfassung. Vor allem Ellis wird deutlich: The film is so languorous. It’s an hour 30, and it seems like it’s three hours long. I saw this as a pranky noirish thriller, but Schrader turned it into, well, a Schrader film.“ Er rudert schließlich zurück, doch irgendwie ist abzusehen, welches Schicksal THE CANYONS ereilen wird: Der Film wird zuerst sowohl vom Sundance Festival als auch vom SXSW abgelehnt und erfährt einen nur kleinen Start, der überwiegend mit vernichtenden Kritiken quittiert wird. Zwar gibt es auch wohlwollende, gar überschwängliche Stimmen, aber am Ende entfaltet THE CANYONS längst nicht die künstlerische Potenz, die Enthusiasten sich von ihm erhofft hatten.

Ich muss relativieren: THE CANYONS ist gewiss nicht die künstlerische Bankrotterklärung, die manche Rezensenten in ihm gesehen haben wollen oder die die desaströsen 3,9 Pünktchen auf IMDb vermuten lassen. Die kühle Fotografie – gedreht wurde an Hollywood-Originalschauplätzen oder in aufgeräumten Designerhäusern – weiß ebenso zu überzeugen wie die Akteure, und die eisige Atmosphäre, die Schrader erzeugt, wirkt gerade im Kontrast zum beruhigend im Hintergrund pluckernden Elektroscore überaus enervierend und niederziehend. THE CANYONS ist mit seinen Beziehungsmonstren das grimmige Spiegelbild der gut gelaunten RomCom oder Soap Opera, seine Protagonisten sind ein egoistisch-psychotischer Sex- und Geldprotz (James Deen) und seine emotional vollkommen ausgebrannte Freundin (Lindsay Lohan). Man weiß von Anfang an, dass das immer schneller drehende Beziehungskarussell irgendwann aus der Verankerung und seine Passagiere ins Verderben reißen wird, trotzdem beobachtete man fasziniert, wie die Katastrophe sich langsam und unaufhaltsam nähert. Mehr noch als Lindsay Lohan, die im Grunde genommen sich selbst spielt, reißt James Deen den Film mit seiner Darbietung an sich: Die Filmgeschichte hat wohl nur wenige größere Arschlöcher gesehen.

Aber das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass THE CANYONS eigentlich nichts Substanzielles zu sagen hat. Die Welt ist scheiße, seine Bewohner entweder psychopathische Egomanen oder emotionale Wracks, die ihr Leben nicht in den Griff bekommen. Ständig tippen sie auf ihren Smartphones herum oder laden sich via Online-Dating fremde Leute für den enthemmten Sex nach Hause ein. Die Oberfläche ist alles, verdecken tut sie längst nichts mehr. Das weiß man schon seit, genau, „American Psycho“, der allerdings noch mit einem gewissen Humor aufwartete – und zwar nicht erst in der Verfilmung von Mary Harron –, satirische Zuspitzung leistete und daher aufschlussreich war. THE CANYONS ist einfach nur negativ, wiederholt Klischees, die ihre Urheber als von der Zeit überholte Meckerfritzen enttarnen, die wahrscheinlich in erster Linie verbittert über ihre zunehmenden Erektionsprobleme sind. Man fragt sich unweigerlich, warum zwei Künstler, die offensichtlich so wenig Positives in der Welt sehen, sich überhaupt noch die Mühe machen. Einzig die Aufnahmen von leerstehenden, verlassenen und langsam verfallenden Kinos, die den Film eröffnen und beenden, die sind ausnahmslos toll. Ansonsten ist THE CANYONS ein ziemlich zweischneidiges Schwert.

A MATTER OF LIFE AND DEATH beginnt im Weltall. Die Kamera schwenkt mit großer Ruhe an Gasnebeln und fernen Galaxien vorbei, bis endlich die Erde ins Blickfeld rückt. Eine Überblendung führt den Betrachter näher heran, an ein Europa des Zweiten Weltkriegs, in dem ganze Städte brennen, und schließlich an Großbritannien, das – wie könnte es anders sein – unter dichtem Nebel verborgen liegt. Durch diesen Nebel fliegt ein von den Geschossen der Boden-Luft-Geschütze arg in Mitleidenschaft gezogenes britisches Flugzeug, dessen letzter Überlebender, der Schriftsteller und Pilot Peter Carter (David Niven) sich auf den Tod vorbereitet. Er hat keinen Fallschirm mehr und so kommt der amerikanischen Funkerin June (Kim Hunter), mit der er in Kontakt steht, die schwere Aufgabe zu, seine letzten Worte an seine Familie aufzuzeichnen. Aber während dieses kurzen, aber doch intensiven Gesprächs passiert noch mehr: Die beiden Menschen, die sich noch nie gesehen haben, die nichts voneinander wissen, und sich vermutlich auch nie wieder sehen werden, verlieben sich ineinander. Und ihre Liebe wird vielleicht sogar de Welt verändern. – Diese kurze Zusammenfassung der ersten Minuten scheint mir eine überaus treffende Einleitung, um über A MATTER OF LIFE AND DEATH zu schreiben: Denn Powells und Pressburgers in diesem Film eindrucksvoll zum Vorschein kommende Gabe, innerhalb kürzester Zeit und ohne jede Brüche vom Großen, Allgemeinen, Universellen zum Kleinen, Speziellen, Individuellen zu gelangen, ist die herausragende Eigenschaft dieses Meisterwerks, das mich gestern in ein staunendes Kind verwandelte, mein Zwerchfell und meinen Geist gleichermaßen kitzelte und nicht zuletzt mein Herz förmlich in Brand steckte. Wahrhaft großes, nein, allergrößtes Kino.

Die Geschichte von Peter Carter und June spielt sich im Folgenden auf zwei Ebenen ab: In „unserer“ Welt, auf der Peter nach seinem unerwarteten Überleben von Kopfschmerzen und Visionen geplagt wird, in denen ihn ein Jenseitsbote (Marius Goring) darüber aufklärt, dass er eigentlich nur durch einen Fehler noch am Leben ist und „abberufen“ werden soll, und in eben jenem Jenseits, in dem in einer finalen Gerichtsverhandlung über das weitere Schicksal Carters entschieden wird. Der Pilot ist nämlich der Meinung, dass seine Liebe zu June – die er nur durch jenen Fehler überhaupt kennen lernen konnte – ihm das Recht gibt, weiterzuleben. Vertreten wird er durch den Psychologen Dr. Reeves (Roger Livesey), der davon überzeugt ist, dass Peters Disposition den Spätfolgen einer Gehirnerschütterung zu verdanken ist, vor dessen überlebensnotwendiger Operation aber selbst bei einem Unfall ums Leben kommt. Das Handlungskonstrukt von A MATTER OF LIFE AND DEATH ist durch und durch „modern“, die Gegenüberstellung von Wissenschaft und Glaube ein auch heute noch beliebtes Thema. Aber nur selten habe ich gesehen, dass es so konsequent und intelligent umgesetzt wurde. Während sich vergleichbare Filme für eine der beiden Optionen – meist für den Glauben und die Emotion – entscheiden, lassen Powell und Pressburger sie bis zum Schluss gleichberechtigt nebeneinander bestehen.

So wird nie geklärt, warum Peter den Absprung aus dem Flugzeug überlebte: Es könnte tatsächlich auf einen Fehler der „Jenseitsverwaltung“ zurückzuführen sein, und seine Visionen wären dann „echt“. Aber auch an der Richtigkeit von Reeves‘ Diagnose besteht kein Zweifel (es ist überaus auffällig, wie genau und differenziert der ganze medizinisch-psychologische Teil behandelt wird: kein Vergleich zur typischen Hollywood’schen Vulgärpsychologie) und eine einleitende Schrifteinblendung konstatiert sogar, dass die Jenseitswelt nur in der Vorstellung des Piloten existiert. Es ist konsequent, dass der Überlebenskampf Peters an zwei Fronten geschlagen wird: im Operationssaal und vor dem Jenseitsgericht. Hier wird mit dem grenzüberschreitenden Humanismus ein weiteres wichtiges Thema des Films evident. Die Verhandlung über das Leben Peters wird nämlich zur Auseinandersetzung mit dem rassistischen amerikanischen Anwalt Farlan (Raymond Massey), der die Briten hasst, seit er von einer englischen Kugel im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg aus dem Leben gerissen wurde. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, war es ein offenes Anliegen von Powell und Pressburger, die britisch-amerikanischen Beziehungen zu stärken, auch wenn dies nicht von offizieller Stelle in Auftrag gegeben oder gar finanziell gefördert wurde. Der Streit zwischen dem Briten und dem Amerikaner steht so vor allem im Dienste der universellen Botschaft von A MATTER OF LIFE AND DEATH: nämlich der so banalen wie einleuchtenden, dass die Menschen lernen müssen, sich in ihren Differenzen zu lieben. Die Beziehung zwischen dem englischen Piloten und der amerikanischen Funkerin hat gewissermaßen Symbolcharakter. Sie weist nach den Verheerungen des Krieges den Weg in eine hoffentlich friedliche Zukunft.

Das Duo Powell und Pressburger ist nicht zuletzt für die opulente Technicolor-Bildsprache solcher Werke wie BLACK NARCISSUS und THE RED SHOES bekannt, die noch heute von den großen Filmemachern als Quelle der Inspiration genannt werden. Auch A MATTER OF LIFE AND DEATH überwältig nicht nur mit seiner feinsinnigen Erzählung und den poetischen Dialogen, sondern auch mit seiner wunderschönen Fotografie vom Altmeister Jack Cardiff. Die Erdenszenen strahlen in der üppigen Technicolor-Farbpalette, begeistern mit pfiffigen Inszenierungseinfällen (das Tischtennis-Match!) und überraschenden Spezialeffekten, während die Jenseitsszenen in modernistischem Schwarzweiß gehalten sind, das sich – überaus passend – durch ein geheimnisvolles Leuchten auszeichnet. Man weiß gar nicht, wo man hinschauen soll, und vertieft man sich zu sehr in die wunderbaren Bildwelten, so verpasst man garantiert einen schlagfertig geführten Dialog oder einen der zahlreichen Verweise auf Kunst, Politik und Geschichte. Bei all dieser Schwärmerei für die technische Seite des Films soll aber nicht vergessen werden, dass A MATTER OF LIFE AND DEATH zuallererst von ungewöhnlicher Warmherzigkeit ist. Es gibt keinen „Bösewicht“ im Film, selbst dem antagonistischen Farlan wird mit Verständnis und sachlicher Argumentation begegnet. Auch die Liebe zwischen Peter und June, die in einem weniger brillanten Film zur leeren Behauptung und zum mechanischen Plotvehikel verkommen wäre, erscheint uns dank des wunderbaren Spiels von Niven und Hunter von Anfang an als absolut zwingend. Diese beiden gehören zusammen, dagegen kann nicht einmal der Lauf des Universums etwas ändern.

Klang des Titels, Thema des Films, Darstellerriege und Stabliste – allen voran natürlich Produzent Luggi Waldleitner und Regisseur Alfred Vohrer – suggerieren sofort eine weitere Simmel-Verfilmung. Doch nach UND JIMMY GIG ZUM REGENBOGEN, LIEBE IST NUR EIN WORT und DER STOFF AUS DEM DIE TRÄUME SIND wurde statt eines weiteren Romans des deutschen Bestseller-Autoren die Adaption der Novelle „Der Schneesturm“ von Alexander Puschkin besorgt – nach dem bewährten Erfolgsrezept natürlich. Die größte Überraschung, die sich während der Betrachtung des Films einstellt, ist dann auch die Tatsache, dass sich UND DER REGEN VERWISCHT JEDE SPUR trotz aller beabsichtigten Gemeinsamkeiten von Vohrers Simmel-Verfilmungen deutlich abhebt. Ihn als wirklich guten Film zu bezeichnen, ginge indes zu weit. Ich würde jederzeit argumentieren, dass die Waldleitner-Simmels gerade in ihrer ästhetischen Unerträglichkeit sehr einzigartig und faszinierend sind und mit solchem eigentümlichen Reit kann UND DER REGEN VERWISCHT JEDE SPUR nicht wirklich mithalten. Aber das kann man durchaus auch positiv sehen: Die Charaktere sind – anders als die Simmel’schen Egomanen – lebendig, sympathisch oder aber wenigstens nachvollziehbar in ihrem Handeln, die Weltsicht ist nicht ausschließlich besserwisserisch-negativ, Humor ist tatsächlich möglich. Ja, man hat wirklich den Eindruck, dass die Geschichte auf gewissen menschlichen Erfahrungswerten basiert, dass sie nicht von einem Narziss erdacht wurde, der seine Mitmenschen wie Versuchsobjekte und die Welt wie eine Ameisenfarm betrachtet und seine Romane konstruiert wie Thesenpapiere.

Die Abiturientin Christine Luba (Anita Lochner) hat sich in den einige Jahre älteren französischen Studenten Alain (Alain Noury) verliebt. Die beiden sind ein Herz und eine Seele, doch Christines Vater (Wolfgang Reichmann) behagt die Verbindung der beiden überhaupt nicht. Christines Mutter Irene (Ruth-Maria Kubitschek) verließ ihn wegen seiner unerträglichen Eifersucht, die eigene Schwester (Eva Christian) betrachtet er aufgrund der Tatsache, dass sie alleinerziehend ist, wie eine Aussätzige. „Liebe“ ist für ihn ein überkommenes Konstrukt für hoffnungslose Träumer und der richtige Mann für seine Tochter muss vor allem über einen gewissen Status verfügen. Eine Verkettung schicksalhafter Zufälle führt Christine schließlich mit dem Industriellensohn Martin (Malte Thorsten) zusammen, den Luba sofort als seinen Schwiegersohn in spe betrachtet. Was zunächst niemand weiß: Martin hat einen tragischen Unfall verursacht, bei dem Alain sein Leben verloren hat …

Die tragisch verlaufende Doppel-Liebesgeschichte, an deren Ende Christine den schmerzhaften Verlust gleich zweier Liebhaber betrauern muss, ist auf dem Papier tatsächlich aus demselben Stoff, aus dem die Simmel-Träume sind. Die Handlung der Puschkin’schen Novelle wurde für UND DER REGEN VERWISCHT JEDE SPUR aus dem Russland des 19. Jahrhunderts ins Lübeck der Gegenwart verlagert, wo sich diesmal aber kein in der Midlife-Crisis gefangener Großbürger auf verzweifelte Sinnsuche begibt, sondern ein junges Mädchen gegen die überkommenen Vorstellungen der Elterngeneration ankämpfen muss. Die erste Hälfte von Vohrers Film widmet sich ganz der blühenden Liebe von Christine und Alain, verplempert die kostbare Erzählzeit geradezu leichtsinnig mit der Darstellung des jungen Glücks und erspielt sich mit solcher Sorglosigkeit einige Sympathiepunkte. Selbst der „Schurke“ des Films, Christines patriarchischer Vater, darf mit seinen Sorgen und Ängsten Mensch bleiben, auch wenn er am Stammtisch Puffgeschichten von rassigen „Negerinnen“ zum Besten gibt. Das Liebespärchen ist vielleicht eine Ecke zu sorglos, um wirklich als authentisch durchzugehen – angeblich orientierte man sich am US-amerikanischen Vorbild LOVE STORY, das kurz zuvor sämtliche Kassenrekorde gebrochen hatte –, aber das verzeiht man dem Film, für den Vohrer sich einige hübsche Kabinettstückchen hat einfallen lassen. Irgendwann versumpft UND DER REGEN VERWISCHT JEDE SPUR dann aber: Das Geschichtchen ist auffallend banal, mäandert ohne rechte Entscheidungsfreude dahin, sodass man sich unweigerlich fragt: What’s the point? Der erzählerische Clou, der darauf die Antwort liefert, die Entscheidung, den Zuschauer über den Verbleib Alains erst mittels einer verspäteten Rückblende aufzuklären, wirkt indes unangenehm gimmickhaft und unaufrichtig. Der Junge, der immerhin eine gute Stunde lang Identifikationsfigur für den Zuschauer war, hat eigentlich mehr Respekt verdient, als für einen eher preisgünstigen Drehbuchkniff verheizt zu werden. Man nimmt es aber so hin, weil die unerwartete Verwebung der drei Schicksale nach der Story aus dem Bravo-Beziehungsratgeber wenigstens einen Hauch von narrativer Finesse mit sich bringt.

Am Ende ist UND DER REGEN VERWISCHT JEDE SPUR ein unbefriedigender Film: Er ist zu gut, und ja: zu sympathisch, um ihn vehement zu verreißen, aber auch irgendwie zu egal, um sich wirklich für ihn einzusetzen. Es fehlen ihm die bizarren Momente, die Geschmacksentgleisungen, der Hang zum bodenlosen Melodram, das Suhlen im Morast der Siebziger, die die Simmel-Filme zum Teil zwar so abstoßend machen, denen es damit aber eben immerhin gelingt, wenigstens eine echte Emotion beim Betrachter zu evozieren. UND DER REGEN VERWISCHT JEDE SPUR st hingegen: Nett. Klassischer Fall von kann man gucken, muss man nicht.

the-decline-of-western-civilization-part-3-movie-poster-1998-1020447826Von diesem dritten und bislang letzten Beitrag zu Spheeris‘ einflussreicher Reihe habe ich erst im Zuge ihrer Blu-ray-Veröffentlichung erfahren: PART III feierte seine Premiere beim Sundance Festival, wo er mit dem „Freedom of Expression Award“ ausgezeichnet wurde, und lief danach unter anderem in Cannes. Einen regulären Kinoeinsatz oder auch nur eine Videoverwertung erfuhr der Film jedoch nicht, war mithin bislang nicht verfügbar. Das mag aus ökonomischer Sicht verständlich sein: Die gefeatureten Bands (Final Conflict, Naked Aggression, Litmus Green und The Resistance) besitzen wenig bis gar keine kommerzielle Strahlkraft und der Film kann daher auch fast 20 Jahre später anders als seine Vorgänger nicht für sich in Anspruch nehmen, ein wertvolles musikalisches Zeitzeugnis zu liefern. Die Musik ist aber sowieso eher Randerscheinung in Spheeris‘ Dokumentation, die mit ihrem Titel, der zuvor noch als ironische Appropriation gängiger Spießerurteile verstanden werden konnte, nun endgültig Ernst macht. PART III ist gewissermaßen das Ende einer in den vorangegangenen Einträgen (und in Spheeris‘ Spielfilm SUBURBIA) noch verhalten kreisenden Abwärtsspirale. Die Musiker in PART I verfügten in ihrem Zorn auf die Gesellschaft noch über einen gewissen intellektuellen Überbau, der sie erdete, bei den Metallern aus PART II: THE METAL YEARS spürte man jederzeit die eigentlich bürgerlich-materialistischen Tendenzen hinter der bloß oberflächlichen Rebellion. Doch die jugendlichen „Gutterpunks“, die mehr als die Musiker die Protagonisten von PART III sind, befinden sich nun tatsächlich und wahrhaftig außerhalb der Gesellschaft, auf abschüssigem Boden auf dem schnellsten Weg ins Verderben. Es ist schockierend, was man da zu sehen bekommt, und der Film endet dann auch mit der Hiobsbotschaft, die man die ganze Zeit über befürchtet.

Spheeris begleitet eine Clique jugendlicher, meist Anfang 20-jähriger Punks, lässt sie über ihren Alltag zwischen Vollrausch, Schnorren und der Suche nach dem nächsten Schlafplatz reden, über ihre Erfahrungen mit der Polizei, ihre Haltung zur Gesellschaft und natürlich über ihre Eltern. Nicht wenige schauen auf eine Missbrauchsvergangenheit zurück, entschieden sich aus freien Stücken für ein Leben auf der Straße oder wurden schlicht und ergreifend rausgeworfen. Was erschütternd ist, ist nicht nur die totale Ziellosigkeit, mit der sich die Kids durchs Leben schlagen, die völlige Unfähigkeit, sich irgendwie produktiv einzubringen, sondern auch die Nüchternheit, mit der sie ihre Perspektive einschätzen. „What will you be five years from now?“, fragt Spheeris mehrere. „Dead“, antworten die meisten von ihnen. Das ist keine Romantisierung, keine Angeberei. Alle haben Sie Freunde sterben sehen, alle wissen, dass ihr Lebensstil Gefahren mit sich bringt, dass man auf der Straße in der Regel nicht allzu alt wird. Zum Schluss passiert genau das: Das leerstehende Haus, in dem sich einige einquartiert haben, geht in Flammen auf, einer von ihnen schafft es nicht mehr rechtzeitig hinaus. Eine Schrifteinblendung informiert noch, dass „Squid“, ein gut gelaunter Saufbold, kurz nach den Dreharbeiten erstochen wurde, und dass „Spoon“, seine Freundin, auf den Urteilsspruch warte. Der „Family Spirit“, den sie alle beschwören, ist eben eine höchst unberechenbare Gestalt, vor allem wenn man sich ins Gedächtnis ruft, welche Erfahrungen sie bisher mit „Familie“ gemacht haben. Dass das mitten in den USA möglich ist, ist nichts weniger als erschütternd.

Ich hatte eben geschrieben, dass die Musik in PART III eher Randerscheinung sei. Das stimmt, aber dennoch meine ich, dass gerade das durchaus auch entscheidend ist. DIe Punks von Naked Aggression oder The Resistance haben eben etwas, was sie beschäftigt, was ihnen einen Weg vorzeichnet, ein Ventil für all die aufgestauten Aggressionen – auch wenn es ihnen keine wirtschaftliche Sicherheit bringt, so hält es sie doch bei geistiger Gesundheit. Die „Gutterpunks“ haben nichts außer viel zu viel Zeit, die im wahrsten Sinne des Wortes totgeschlagen werden muss. Alkohol und Drogen sind naheliegende Gehilfen, mit denen der Tag begonnen wird und endet. Diese Jugendlichen sind auf der Flucht und jedes innehalten ist schmerzhaft. Man sieht es manchmal in ihrem Gesicht und das sind die eindringlichsten Momente des Films. Der Blick des nach einem Autounfall querschnittsgelähmten Darius, der als Empfänger von Sozialhilfe als einziger eine Wohnung und deshalb jeden Tag Besuch seiner saufenden, sich zudröhnenden und kotzenden Kumpels hat. Er weiß wohl ganz genau, dass diese Freundschaften nichts wert sind, nichts bedeuten. Und trotzdem hängt er lieber mit diesen Leuten rum, als allein zu sein. Oder das kurze Blinken im Auge des gesichtstätowierten Missbrauchsopfers, das gesteht, sich einen schnellen Tod zu wünschen. „I’m not really happy in this life.“ Der Zerfall ist in vollem Gange und man fragt sich, wie wohl THE DECLINE OF WESTERN CIVILIZATION PART IV aussähe.

bitte-lasst-die-blumen-lebenKlausjürgen Wussow als schwerreicher französischer Top-Anwalt Charles Duhamel mit mondänem, akkurat geschnittenem Oberlippenbärtchen und Halstuch unter dem Hemd. Hannelore Elsner als seine ihre Enttäuschung über die vergeigte Schauspielkarriere im Suff ertränkende Gattin Yvonne. Ein unbemerkt überlebter Flugzeugabsturz als Weg, ein ganz neues Leben zu beginnen. Gerd Böckmann als Duhamels Kollege und Freund Balmont, der sich später natürlich als Schurke erweist. Birgit Doll als brave Hamburger Buchhändlerin Andrea Rosner, die Migrantenkindern Märchen vorliest und die triste Welt ein bisschen besser macht. Radost Bokel als ihre Tochter Patty, die mit vorsintflutlicher Beinschiene und demütigem Kulleraugenlächeln geduldig auf die teure Operation in Boston, Masschusetts wartet, nach der sie endlich wieder gehen können soll. Hans Christian Blech als fürsorglicher Opa Langenau, der Mama und Tochter gegen das Vorhaben eines kriminellen Immobilienhais schützt. Schließlich Rainer Basedow als besagter Schurke, der das Buchhandlungs- und Migrantenkinder-Glück mit seinen bösen Plänen zunichte machen will, aber die Rechnung ohne den Wussow gemacht hat. Simmel als lieber Gott, der die Schicksalsschläge gleich kübelweise über seine Abziehfiguren ausgießt, und Duccio Tessari als bemitleidenswerter Regisseur, der keine Chance hat, sich gegen den Achtzigerjahre-Schmalz und -Schmelz entscheidend durchzusetzen. Der Zuschauer – Leidensfähigkeit und Humor vorausgesetzt – immerhin als Gewinner der Herzen: Wer diesen Film mit intaktem Gemüt übersteht, braucht nichts mehr zu fürchten.

Mit BITTE LASST DIE BLUMEN LEBEN setzte Luggi Waldleitner seine Reihe von Simmel-Verfilmungen rund zehn Jahre nach BIS ZUR BITTEREN NEIGE fort. In der Zwischenzeit hatte Eichinger Roland Klicks LIEB VATERLAND MAGST RUHIG SEIN produziert, einige weitere Simmel-Romane waren fürs Fernsehen und das Kino adaptiert worden (darunter DIE WILDEN FÜNFZIGER von Peter Zadek, für den ursprünglich Rainer Werner Fassinder das Drehbuch geschrieben hatte). Waren Waldleitners Simmel-Filme zuvor for better or worse wie aus einem Guss gewesen (selbst Klicks Film fügte sich ästhetisch in den homogenen Korpus ein), sieht man BITTE LASST DIE BLUMEN LEBEN nun das nicht mehr ganz so neue Jahrzehnt an. Der graue Schleier, den RAF-Terror, Ölkrise und Vietnamkrieg sowie der immer noch nicht ganz verwehte Nazi-Dunst in den Siebzigern über die Bundesrepublik gelegt hatten, ist in Tessaris Film einem geschichtsfremden Materialismus, einem weitestgehend apolitischen Weltschmerz und hoffnungsloser Sentimentalität gewichen. Die Vision, die Waldleitner und Alfred Vohrer da auf Zelluloid gebannt hatten, war durchaus abscheulich und abstoßend, aber sie ließ sich immerhin noch als künstlerische Reflexion sowohl der „bleiernen Zeit“ als auch der Simmel-Prosa verstehen. BITTE LASST DIE BLUMEN LEBEN nun verhält sich überhaupt nicht mehr zu Welt, vielmehr kommt in ihm eine naive Fluchtmentalität zum Vorschein, für die schleimtriefender Eskapismus und hoffnungslose Gefühlsduselei ideale Ausdrucksformen sind.

Der Anwalt Duhamel hat keinen Bock mehr auf sein nervtötendes Eheweib, aber auch keinen auf den ganzen Scheidungsstress (selbstgerechtes Arschloch, das er ist, gibt er sich natürlich selbst die Schuld für die Sucht seiner Frau), also nutzt er die sich wie ein Wink des Himmels mit dem Zaunpfahl bietende Gelegenheit, mit seinem beiseite geschafften Vermögen eine neue Existenz aufzubauen. Wussow, in dessen großonkelhaft-selbstzufriedene Visage man den ganzen Film über einen großen Pott extraheißen Kaffee Hag schütten will, legt seinen Staranwalt indes nicht als egoistischen Feigling an, sondern als tragisches Opfer besonders gemeiner Umstände, dem man den konfliktscheuen Ausweg von Herzen gönnen soll. Und damit er in seiner erstaunlich schnell entbrannten neuen Leidenschaft für die Buchhändlerin Andrea nicht allzu herzlos und notgeil aussieht – er eröffnet ihr in einem Anflug von herrschsüchtiger Romantik gleich beim ersten längeren Date, dass er fortan „jede Nacht“ mit ihr zu verbringen gedenke –, wird aus dem verglichen mit seiner Yvonne nur wenig glamourösen Mauerblümchen eine wahre Heilige mit Märtyrerqualitäten, gegen die sich Jeanne D’Arc und Mutter Theresa ausnehmen wie hedonistische Partyluder. Man kann es kaum glauben, auf welch billige und vor allem vorhersehbare Art und Weise man als Zuschauer manipuliert wird: Da gibt es eine Sequenz, in der die Migrantenkinder, denen Andrea deutsche Märchen vorzulesen pflegte, nacheinander mit entrücktem Lächeln ihren Laden betreten und ihr jeweils aus Dankbarkeit eine Topfpflanze überreichen. Tessari quittiert diesen geschmacklichen Terroranschlag zu allem Überfluss mit Gegenschnitten auf die gerührt grienenden Gesichter von Wussow, Blech und Bokel. Letztere wird von Tessari instrumentalisiert, dass es fast einem Fall von Kindesmissbrauch gleichkommt. Ihre Patty könnte jeden Kinderhasser zum Großfamilienvater konvertieren, wie sie da den ganzen Film über genügsam auf ihrer Treppenstufe sitzt, ohne einen Mucks zu machen, oder mit ihrer verstörend hässlichen Clownspuppe im Bett liegt und goldig-naive Kinderfragen stellt. Am Ende, als die grundgute Andrea vom Herrgott abberufen wurde, und der traurig wie ein Hund aus der Wäsche guckende Duhamel in ihrer Buchhandlung den alten Zeiten nachhängt, macht der Auftritt der nun gesundeten Patty alles wieder gut. Illuminiert wie ein Engel tritt sie im Schulmädchenkostüm (ohne Schiene) in das staubige Etablissement und zaubert sofort ein güldenes Licht in die Tristesse und ein glückliches Lächeln auf des Anwalts Gesicht. Die Gedanken, die mir durch den Kopf zuckten, sind nicht druckreif, aber sie kommen angesichts der durch und durch asexuellen, aspirituellen, anti-intellektuellen Atmosphäre des Films sicher nicht von ungefähr. Man sagt den Achtzigerjahren nach, ein steriles Plastikjahrzehnt gewesen zu sein: BITTE LASST DIE BLUMEN LEBEN dient als Beleg dafür, beweist aber gleichzeitig, dass unter der polierten Oberfläche immer noch derselbe Ranz wie zuvor verborgen ist. Es ist ein unerträglicher Film, der einen mit seinen klebrigen Fingern zu sich hinabziehen will, der aber – wie der böse Onkel mit den Gummibärchen – mit seinem Mundgeruch und den Spermaflecken auf der Hose niemanden täuschen kann. Ein durch und durch faszinierendes Machwerk, über dessen Dreistigkeit und Impertinenz ich mehr als einmal laut gelacht habe. Und der Titelsong von Frank Duval schlägt dem Fass endgültig den Boden aus.