Um die Bedeutung der Copserie von Anthony Yerkovich und Michael Mann zu beurteilen, bin ich auf Quellen angewiesen, die diese belegen. Zwar erinnere ich mich noch daran, einige Episoden mit meinen Eltern gesehen zu haben, aber weder habe ich damals verstanden, was da eigentlich passierte (Colt Seavers, der mit seinem Geländewagen über irgendwas drüber sprang, während Jody mit ihrem bezaubernden Hintern wackelte und Howie doof guckte, war eher meine Kragenweite), noch wäre ich dazu in der Lage gewesen, die Serie in den Kontext zeitgenössischer Fernsehunterhaltung einzuordnen. Heute gilt MIAMI VICE gemeinhin als Auftakt für jene Form der seriellen Erzählung, die heute bestaunt und als Neuerfindung des Rades gefeiert wird: Geduldig aufgespannte dramaturgische Bögen und komplexe Charaktere und Storys statt nach immergleichem Schema erzählte Kurzgeschichten mit eindimensionalen Figuren, aufwändige formale Umsetzung und ein klar erkennbarer audiovisueller Stil statt Pragmatismus und Schmalhans als Küchenmeister. MIAMI VICE war die erste Serie, die in Stereo ausgestrahlt wurde, der Einsatz von Popsongs und visuellen Effekten galt damals als bahnbrechend, Soundtrackalben und Singleauskopplungen – z. B. Jan Hammers „Crockett’s Theme“ – verkauften sich wie geschnitten Brot, der persönliche Style besonders von Johnsons Sonny Crockett wurde zum Modetrend. HILL STREET BLUES-Autor Yerkovich hatte den Auftrag, eine „Copserie fürs MTV-Publikum“ zu erfinden und offensichtlich war ihm das gelungen, wenngleich MIAMI VICE nur wenig mit der Glätte und Banalität zu tun hat, die man mit Musikfernsehen gemeinhin verbindet.
Der Pilotfilm BROTHER’S KEEPER dient dazu, die Hauptfiguren und die wichtigsten Elemente, seien sie erzählerischer oder stilistischer Art, einzuführen und macht sofort Lust auf mehr. Die fast wortlose Auftaktsequenz, in der der New Yorker Cop Ricardo Tubbs (Philip Michael Thomas) versucht, den Drogenboss Calderone (Miguel Piñero) in einer Diskothek zu stellen, ist reines Kino, bildgewaltig und spannend, die anschließende Ermordung eines Kleindealers und eines Undercover-Cops (Jimmy Smits) durch eine Autobombe, macht unmissverständlich klar, was hier auf dem Spiel steht. Es sind aber nicht lediglich Suspense oder Action, die einnehmen, sondern die schon zu diesem frühen Zeitpunkt unterschwellig spürbare Tragik und Ausweglosigkeit. Gleich nachdem Crocketts (Don Johnson) Partner umgebracht worden ist, schneidet Carter zum Kindergeburtstag von Crocketts Sohn, wo die Mutter (Belinda Montgomery) die üblichen Klagen über den Polizistengatten anstimmt, der nie da ist. Als Crockett eintritt und den Grund für das Zuspätkommen nennt, entgleisen alle Gesichtszüge und die Szene kulminiert in der unfassbaren Idee, dass der Vater seinem Sohn ein Spielzeug-Polizeiauto schenkt. Wenn er den dankbaren Jungen in die Arme schließt, ist in seinem Gesichtsausdruck die ganze emotionale Komplexität der Serie ablesbar. Ein wichtiges Gestaltungsmerkmal sind auch die nächtlichen Autofahrten, die eine Art Schwebezustand zwischen Leben und Tod symbolisieren. Während die Welt an ihnen vorbeirast, sind Tubbs und Crockett in ihrer Hochgeschwindigkeits-Blechblase vollkommen unbewegt, ganz im Moment eingefroren. Im Pilotfilm wird diese Nachtfahrt durch den Einsatz von Phil Collins‘ „In the Air tonight“ endgültig zum ikonischen Bild erhöht.
Vielleicht sind diese Tiefen tatsächlich erst mit dem Abstand der Jahre wirklich spürbar. Wenn ich mich daran erinnere, wie MIAMI VICE seinerzeit im medialen Mainstream rezipiert wurde, stand da immer die angebliche Coolness Crocketts im Vordergrund. Aber wenn man genau hinschaut, sieht man eigentlich einen tief verunsicherten Polizisten, der sich hinter einer Fassade pastellfarbener Shirts und Anzüge versteckt. Verglichen mit anderen Cop-Helden ist Crockett fast ein Softie, der an seinem Job zu zerbrechen droht, von den zum Berufsalltag gehörenden Rückschlägen tief getroffen wird und krampfhaft versucht, die Widersprüche seines Jobs unter einen Hut zu bringen. In der dritten Episode geht er einen Kollegen an, der einen Tatverdächtigen misshandelt hat, weil er damit die Anklage in Gefahr gebracht hat: Man vergleiche das nur mit den sonstigen Fernseh- und Filmbullen, die stets gern für eine härtere Gangart plädieren. Und in Episode 2 bringt sich ein Undercover-Cop (Ed O’Neill) um, nachdem er sich für seine Regelüberschreitungen rechtfertigen musste: Wenn Crockett die traurige Nachricht mit steinernem Gesichtsausdruck entgegennimmt, erkennt man darin nicht bloß Mitgefühl, sondern vor allem schockierte Selbsterkenntnis. Es könnte ihm ganz ähnlich ergehen. Crockett ringt damit, die Kontrolle über sein Leben zu behalten.
Es ist wirklich erstaunlich, wie eng sich Michael Mann mit seiner Filmadaption von 2006 an all diese Themen gehalten, sie lediglich noch einmal konzentriert auf den Punkt gebracht hat. Das Unverständnis, das diese Verfilmung in weiten Teilen der Presse erntete, lässt darauf schließen, dass man die Serie einst gar nicht in ihrer Tiefe erfasst, sich tatsächlich an eher oberflächliche Reize geklammert hatte. Was aber auch verständlich ist, schließlich stach MIAMI VICE in dieser Hinsicht am deutlichsten aus dem doch eher staubigen Serien-Einerlei hervor. Formal gibt es wirklich viel zu entdecken, die Fotografie ist einzigartig, das Zusammenspiel von Bild und Soundtrack wegweisend – hinter den viel gerühmten modernen Serien braucht sich MIAMI VICE nicht zu verstecken. Im Gegenteil: Hinsichtlich atmosphärischer Dichte und Emotionalität kann sich da manche überhypte HBO-Show noch ein Scheibchen abschneiden. Ich bin gespannt, wie’s weitergeht.