THE SYSTEM ist ein Film, der gleich zwei große Karrieren kickstartete: Michael Winner hatte bis zu diesem Zeitpunkt zwar schon einige Dokumentar- sowie preisgünstige, meist exploitative Spielfilme gedreht, aber erst THE SYSTEM verschaffte ihm einen Namen als junge, kreative und verwegene künstlerische Kraft des britischen Kinos, mit der zu rechnen war. Und auch Oliver Reed, ein ambitionierter, charismatischer und energetischer Schauspieler, dem aufgrund seiner Mitarbeit in den Horrrofilmen der Hammer das Etikett des auf Psychopathen abonnierten B-Mimen angeheftet worden war, gelang es mit seiner Darbietung, sich für Größeres zu empfehlen.
Der Film folgt einer Gruppe von jungen Männern um den Fotografen Tinker (Oliver Reed), die das ganze Jahr auf die Sommersaison hinfiebern, in der ihr Heimatort an der englischen Südküste aus dem sprichwörtlichen Winterschlaf erwacht und von spendierfreudigen Urlaubern und attraktiven Mädchen heimgesucht wird. Das titelgebende „System“ bezeichnet die ausgeklügelte Strategie der Männer, die sicherstellen soll, dass sie während der Ferien alle auf eine ähnliche Zahl sexueller Erlebnisse kommen.Tinker ist als Strandfotograf für die erste Kontaktaufnahme zuständig, danach werden die Mädchen von einem Etablissement ins nächste geschleust, wo die Jungs ihr Geld verdienen und ihrerseits ein Chance auf Eroberung erhalten. Doch die Verlockungen dieser Sommer beginnen langsam, aber sicher ihren Reiz zu verlieren: Nach der Saison ist das Örtchen wie ausgestorben, mit miesen Jobs ist kein Staat zu machen, die folgenlose Vergnügung mit wechselnden Mädchen kann das wachsende Bedürfnis nach einer echten Beziehung und einer Perspektive nicht mehr länger ersetzen. Für Tinker beginnen die Zweifel, als er die aus gutem Hause stammende Nicola (Jane Merrow) kennen lernt und sich in sie verliebt. Aber der Kontakt mit ihr zeigt ihm, dass er nicht nur geografisch, sondern auch sozial gefangen ist …
THE SYSTEM erhielt seinerzeit sowohl in Großbritannien als auch in den USA, wo er unter dem Titel THE GIRL-GETTERS vermarktet wurde, hervorragende Kritiken, forderte aber auch die Sittenwächter heraus. Seinen Ruf als „Skandalfilm“ erntete er allerdings wohl weniger, weil es tatsächlich allzu Anstößiges zu sehen gab (der Film wirkt heute einfach nur brav in seinem Verzicht auf explizite Nacktheit und Sexszenen): Es war wahrscheinlich die Darstellung von jungen Männern, die Mädchen nachstellen wie Jäger ihrer Beute, sie innerhalb des „Systems“ zu verwertbarem Material machen und dann für unverbindlichen Sex aufs Zimmer locken, die den konservativen Würdenträgern zu viel war. Winner, der ein ganzes Leben darauf verwendete, sich einen Namen als Provokateur und Nervensäge zu machen, lässt in THE SYSTEM keinen Zweifel an seinen Sympathien: Die Spießer, die einmal im Jahr aus ihrem Lock gekrochen kommen, um Souvenirgeschäfte an nichtssagenden Orten leerzukaufen, bekommen seine Verachtung genauso ab wie die Reichen, die mit ihren Cabrios in ihre Sommerresidenzen fahren und gegenüber den Einheimischen die Nase rümpfen. Aber auch Tinker kommt nicht ungeschoren davon. So sehr er die Verlogenheit all dieser Gesellschaftsspiele auch durchschaut hat, so wenig ist er doch in der Lage, sich von ihnen zu emanzipieren und aus einem Leben auszusteigen, das er als sinnlos erkannt hat. Sein als Rebellentum getarntes Selbstmitleid kulminiert in einer heftigen Ohrfeige für Nicola, als die ausnahmsweise einmal den Spieß umdreht.
Die Gesellschaftskritik von THE SYSTEM wirkt heute manchmal etwas schwer- und selbstgefällig: Er ist ein Produkt seiner Zeit, den frühen Sechzigern, als das, was wir heute „Jugendkultur“ nennen, seinen Anfang nahm, und sich junge Menschen nicht mehr länger damit zufrieden geben wollten, die Biografien ihrer Eltern fortzuschreiben. Oliver Reed, der in nahezu jeder Szene des Films agiert, zeigt als Tinker diese unwiderstehliche körperliche Präsenz, die fast alle seiner Auftritte auszeichnet, aber seine Figur ist auch immer kurz davor, zwischen überelaborierten, dramatischen Dialogzeilen und manischen Körperimprovisationen zum schreiberischen Klischee zu gerinnen. Winner kann die zwei grundverschiedenen Impulse des Films nie ganz versöhnen: Da ist einerseits dieses konstruierte, quasi-literarische Drehbuch voller Symbole und verspielter Zeilen, das wohl auch eine hervorragende Bühnenvorlage abgegeben hätte, anderseits der aufregende sense of place und das Gefühl von sommerlichem Leben, die auch heute noch einnehmend wirken. Es macht Spaß, mit Tinker und seinen Kumpels durch die Straßen und Kneipen von Roxham zu ziehen, mal hier mal dort einzukehren und dabei die unterschiedlichsten Menschen zu treffen, immer mit dem Wissen, dass hier in wenigen Wochen alles ruhig sein wird. Doch der Spaß wird dem Zuschauer durch die bedeutungsschweren Dialoge genauso geraubt, wie er den Protagonisten schon lange abhanden gekommen ist. Die Lockerheit der Anfangsszenen weicht bald der Schwermut, beides von Kamermann Nicolas Roeg kongenial abgelichtet. THE SYSTEM hat natürlich vor allem das Problem, dass er in Konkurrenz zu zahlreichen ähnlichen Filmen steht, die anders als er schon seit Jahrzehnten zum Kanon gehören. Winners Film ist nach der anfänglichen Aufregung längst im Schoß der saturierten Fernsehunterhaltung angekommen und darüber fast vergessen worden. Man darf ihn ruhig wiederentdecken – und wenn es nur als Startschuss für zwei spannende Filmkarrieren ist.
Ja, definitiv ein Film, den anzuschauen es sich lohnt!! Ich habe ihn vor etwas mehr als einem Jahr auf YouTube entdeckt und er hat mir AUSGEZEICHNET gefallen, besser noch als er in obiger Rezension wegkommt. Er war Anlass fuer much, mir fast ein Dutzend weiterer Filme mit dem genialen Oliver Reed anzuschauen, von denen mich meiner Erinnerung nach keiner enttaeuscht hat.
Der schöne Essay hat dafür gesorgt, dass ich Ausschau nach diesem mir noch unbekannten Werk halten werde.
Reed schätze ich sehr. Seine im wahrsten Sinne des Wortes überwältigende Präsenz in „Die Brut“ beglückt mich jedes Jahr aufs Neue. Ich schätze aber auch „Sitting Target“ und den erst jüngst von mir entdeckten „Revolver“ sehr.
Gibt es über Michael Winner eigentlich empfehlenswerte Literatur?
Seine Autobiografie war ein veritabler Bestseller und liest sich recht munter. Davon abgesehen soll es so in ein, zwei Jährchen auch eine deutsche Publikation zu ihm geben, zu der ich auch etwas beisteuern darf.
Vielen Dank für diese Information aus erster Hand!
Ich weiß, wie schwierig es ist in Deutschland ist (wobei dies wahrscheinlich auf viele Länder zutreffen wird), filmwissenschaftliche Literatur bzw. seriöse Filmbücher herauszubringen und welch Kraftakt dies mitunter ist.
Mir ist bewusst, dass dergleichen stets von engagierten Kennern dieser Kunstform der „Sache“ wegen gemacht wird. Der Bertz+Fischer Verlag und natürlich die zahlreichen Autoren haben sich in letzter Zeit im Besonderen sehr verdient gemacht bzw. sind mir stark aufgefallen.
Die Printversion des Himmelhunde-Blogs ist übrigens ein Teil meiner Bibliothek. Gerade erst vor ein paar Wochen hat sie mir viel Freude bereitet als ich eine Rambo-Retrospektive unternahm und mich danach ein wenig in Literatur stürzen wollte!
Schön! 🙂