Archiv für Juli, 2018

Pietro Francisci hatte mit seinen Herkules-Filmen LE FATICHE DI ERCOLE und ERCOLE E LA REGINA DI LIDIA nicht nur zwei absolute Megahits geschaffen (tatkräftige Hilfe erhielt er dabei von Mario Bava) und das Subgenre des Peplum begründet, sondern auch das am Boden liegende italienische Kino wiederbelebt. In den Jahren bis ca. 1966/67 schossen die Pepla nur so aus dem Boden, vor allem nachdem Franciscis Filme mit einiger Verspätung auch in den USA einschlugen wie eine Bombe. Eine Renaissance erfuhr auch der Stummfilmheld Maciste, ursprünglich ein nubischer Sklave, den es in seinen frühen Filmen dann und wann aber auch sehr postmodern mit Anzug und Hut in Abenteuer in der Gegenwart verschlug. MACISTE CONTRO IL VAMPIRO ist der dritte der „neuen“ Maciste-Filmen und haut gleich mal ordentlich rein.

Direkt zu Beginn gibt es ein zünftiges Massaker an den Einwohnern von Macistes (Gordon Scott) Dorf, bei dem Männer Pfeile ins Auge bekommen, Kehlen augeschlitzt und an den Füßen aufgehängt und dann angezündet werden. Maciste kommt zu spät, um das Unheil abzuwenden: Männer, Kinder und Frauen sind tot, die jungen Mädchen wurden auf die Insel Salmanak verschleppt. Mit seinem jungen Freund Ciro (Rocco Vidolazzi) macht sich der Muskelprotz auf den Weg, um die Mädels, darunter seiner Freundin Guja (Leonora Ruffo), zu befreien. Hinter dem Frauenraub steckt der bösartige Dämon Kobrak, der mit hypnotischem Einfluss eine ganze Armee willenloser Mörder befehligt und auch die Frau von Salmanaks Herrscher, die schöne Astra (Gianna Maria Canale), unter seine Einfluss gebracht hat. Maciste zur Seite tritt Kurtik (Jacques Sernas), seinerseits legitimer Thronfolger …

Die Kopie, die mir zur Verfügung stand, war leider in einem etwas traurigen Zustand, was stichhaltige Aussagen über die visuelle Gestaltung etwas schwer macht. MACISTE CONTRO IL VAMPIRO schwankt beständig zwischen staubiger Rumpelkammer und gothischer Prä-Psychedelik, wie sie Maestro Bava himself nur wenig später in seinem eigenen ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA perfektionieren sollte. Er stellte sein Talent für Trickaufnahmen und Ausleuchtung wohl auch hier zur Verfügung, zumindest behauptet das Tim Lucas in seinem Bava-Standardwerk; und wer wäre ich, ihm da zu widersprechen? Langweilig ist Gentilomos Film nie, er geht von Anfang an ein hohes Tempo und wirft seinem schlagkräftigen Helden im Zwei-Minuten-Takt Gegner zum Wegboxen in den Weg, aber richtig interessant wird er in der letzten halben Stunde, wenn das Geschehen immer fantastischer wird. Alles beginnt mit einem fadenscheinig, aber effektiv inszenierten Sandsturm, in dem Maciste und seine Guja die Übersicht verlieren und in eine Grotte stürzen, in der Kurtik mit der Blue Man Group haust. Wenn sich Maciste dann auf den Weg macht, Kobrak zu stürzen, erreicht MACISTE CONTRO IL VAMPIRO seinen Höhepunkt und man ist wieder der sechsjährige Knirps, der die Eltern anbettelt, diesmal doch länger als bis halb neun aufbleiben zu dürfen, um den Höhepunkt des Abendprogramms zu schauen.

Angeblich hat Sergio Corbucci – der gemeinsam mit Duccio Tessari auch das Drehbuch verfasste – Gentilomo zur Seite gestanden, aber darüber weiß ich nichts. Ein paar Szenen wirken zugegebenetwas holprig: Ganz zu Anfang erhascht man etwa einen so kurzen Blick auf ein Seeungeheuer, dass man sich schon fragt, ob da nicht möglicherweise mehr Material gedreht worden war. Aber es ist ja auch diese Unbekümmerheit und eben der Mangel an Perfektion, der diese Filme auszeichnet gegenüber den durchoptimierten, am Reißbrett entstandenen Eventmovies von heute. MACISTE E CONTRO IL VAMPIRO mal in einer richtig schnieken HD-Version: Das wär’s!

Ein weiterer Beleg für die in meinem letzten Eintrag aufgestellte These, die besten Filmerlebnisse seien immer die, in die man völlig unvorbereitet geht. RANCHO DELUXE gehört zu dem kleinen, heute weitestgehend brachliegenden Mini-Subgenre des Countryfilms, das in den Siebzigerjahren, wahrscheinlich in der Folge von Altmans NASHVILLE, reüssierte und uns unter anderem den göttlichen URBAN COWBOY bescherte. RANCHO DELUXE erschien im selben Jahr wie NASHVILLE und ist so unglaublich schräg, wie es Hollywood eigentlich nur in den Siebzigern gestattete. Die Kritik war dann auch entsprechend ratlos, u. a. Roger Ebert, der RANCHO DELUXE mit 1,5 Sternen abspeiste und fragte, was denn da wohl alles schiefgelaufen war. So kann man das natürlich sehen, allerdings entgeht einem dann ein wunderbares Filmerlebnis.

Jack McKee (Jeff Bridges) und Cecil Colson (Sam Waterston), der sich immer als „North American Indian“ vorzustellen pflegt, sind zwei liebenswerte Taugenichtse in einem Kaff in Montana, die auf das Spießerdasein mit Arbeit, Ehe und Kindern keinen Bock haben. Stattdessen treiben sie den wohlhabenden Rinderzüchter John Brown (Clifton James) mit ihrer Tätigkeit als „rustlers“ in den Wahnsinn: Sie erschießen seine Tiere, schlachten sie am Tatort und verkaufen dann das Fleisch. Sie träumen davon, sich irgendwann ihre „Rancho Deluxe“ finanzieren und zur Ruhe setzen zu können und sind auch deshalb auf gutem Weg, weil sie in Browns farmhands Burt (Richard Bright) und Curt (Harry Dean Stanton) zwei zuverlässige Informanten haben. Aber dann engagiert Brown den berühmt-berüchtigten Detektiv Henry Beige (Slim Pickens) …

Eigentlich ist das keine besonders ungewöhnliche Handlung und man kann sich gut eine stromlinienförmigere Version desselben Drehbuchs vorstellen. Die Protagonisten wären dann naive Träumer, die am Ende des Films mit der ganzen Härte der Realität konfontiert würden. In Perrys Film sieht das etwas anders aus: Ja, auch hier bekommen Jack und Cecil am Ende die Quittung für ihr illegales Treiben, aber ein echter Einschnitt in ihrem Leben ist das nicht. Sie sind in der glücklichen Lage, in allem das Positive zu sehen und so wird ihre Inhaftierung unversehens sogar zur Erfüllung ihrer Träume. Man muss das selbst sehen. Was immer wieder überrascht und aus der Bahn wirft, das sind die skurrilen Charaktere, unerwarteten Dialogverläufe und die left turns, die der Film nimmt. RANCHO DELUXE besetzt unter anderem Joseph Spinell als Vater Sam Waterstons, obwohl die beiden Schauspieler nur vier Jahre auseinanderlagen. Slim Pickens Detektiv Beige ist eine Art geriatrischer Columbo, seine Enkelin, die unschuldige, gottesfürchtige Jungfrau Laura (Charlen Dallas), hat es in Wahrheit faustdick hinter den Ohren. Elizabeth Ashley gibt Browns Ehefrau Cora als vom Farmleben gelangweilte Society-Queen, die bei den tumben Curt und Burt mit ihren Avancen leider keinen Erfolg hat.

Was gibt es sonst? Eine Pong-Partie zwischen Jack und Curt, Sex mit Hundemaske, die Theorie, das der Pick-up-Truck für den Einwohner Montana dasselbe ist wie das Feuerwasser einst für die Indianer, einen Zuchtbullen im Hotelzimmer. RANCHO DELUXE ist ein schönes Beispiel für Subversion im Mainstreamkino: Frank Perrys Film ist ein Wolf im Schafspelz und ein Film, der sich wiederzuentdecken lohnt.

 

Beauregard „Bo“ Lockley (Michael Moriarty) wird Polizist in New York, ausgerechnet bei der Sitte: als Ersatz für den in Vietnam gefallenen Bruder und auf Wunsch des Vaters, selbst ein Ex-Cop. Aber er ist von Anfang an am falschen Platz: zu weich, zu idealistisch, zu naiv, zu verwundbar, zu involviert. Sein Partner Richard „Crunch“ Blackstone (Yaphet Kotto), der ihn einweist, ahnt schnell, dass das nicht gut gehen kann. Die Katastrophe beginnt, als Bo einen Alibi-Auftrag bekommt: Er soll die minderjährige Ausreißerin „Chiclet“ ausfindig machen. Was er nicht weiß: „Chiclet“ ist in Wahrheit der Undercover-Cop Patty Butler (Susan Blakely), die sich an den gefährlichen Dealer Stick (Tony King) rangeschmissen hat, und Bos Auftrag hat keinen anderen Sinn, als ihre Geheimidentität auf der Straße zu untermauern. Doch dann passiert genau das, was nicht hätte passieren dürfen: Bo findet „Chiclet“ und sucht sie in Sticks Appartment auf. Beim folgenden Schusswechsel wird Patty tödlich verwundet. Die anschließende Verfolgung Sticks endet in einer gefährlichen Pattsituation der beiden Kontrahenten in einem Fahrstuhl …

Milton Katselas erzählt den Film in einer langen Rückblende, eben als bildliche Illustration des Reports, den der Polizei-Commissioner am Anfang einfordert, um die Hintergründe hinter dem Tod einer Polizeibeamtin, eines Dealers und dem Zusammenbruch eines jungen Cops aufzuklären. Langsam, aber unaufhaltsam entfaltet sich die Geschichte bis zu ihrem tragischen, unausweichlichen, dem Report nachfolgenden Ende. REPORT TO THE COMMISSIONER zeigt dabei alle Stärken des New-York-Copfilms: Wie seine berühmteren Vorbilder, man denke an THE FRENCH CONNECTION (dessen Autor Ernest Tidyman auch hier mitwirkte), SERPICO, DOG DAY AFTERNOON, THE TAKING OF PELHAM ONE TWO THREE, THE SEVEN-UPS, ACROSS 110TH STREET oder andere, hat er diesen unglaublichen Schauplatz, dessen infernalische Heruntergekommenheit er in wundershön körnigen Bildern einfängt. Er besidelt diesen Schauplatz mit abgebrühten, aufgeschwemmten, grauhäutigen Veteranen, die die Cops als versoffenen Haufen desilluisonierter Zyniker geben und sagenhaften Nebendarstellern bis in die letzte Ecke: Yaphet Kotto gibt als Crunch eine Darbeitung für die Ewigkeit, Hector Elizondo ist der Karrierist mit dem Thousand Yard Stare, dem man ständig in die Fresse hauen möchte, Bob Balaban ist als beinloser Penner zu sehen, der sich mit Hundebesitzern anlegt und Menschen, die ihm Böses wollen, in die Beine beißt. Richard Gere ist phänomenal in seinem Debüt-Kurzauftritt as Pimp und Tony L’ULTIMO CACCIATORE King holt aus seinem Auftritt alles raus, was rauszuholen ist. Und wenn man dann denkt, jetzt kann nichts mehr kommen, zeigt William Devane sein Haifischlächeln und legt mit seinem Drei-Minuten-Cameo alles in Schutt und Asche. Über Michael Moriarty muss eh nichts mehr gesagt werden und Susan Blakely nimmt man ihre schwierige, am ehesten „geschrieben“ wirkende Rolle ebenfalls ab. REPORT TO THE COMMISSIONER hat genau jene Authentizität, die man mit dem US-Copfilm der Siebzigerjahre assoziiert.

Hinter REPORT OF THE COMISSIONER steckt die Anklage eines Systems, das sich um seine „Einzelteile“ nicht kümmert, sie unvorbereitet auf ein Schlachtfeld schickt, um eine Quote zu erfüllen, und sie dann ausliefert, wenn sie versagen. Es ist außerdem eine Kritik an dem Brauch, verdeckte Ermittler einzusetzen und diese nicht ausreichend abzusichern. Sie gehen doppeltes Risiko: Entweder ihre Tarnung fliegt auf oder sie werden im Eifer des Gefechts von den Kugeln unwissender Partner getötet. Es ist sicherlich kein Zufall, dass es in REPORT TO THE COMMISSONER zwei junge Leute, „Hippies“, trifft, die nicht genau wissen, worauf sie sich eingelassen haben – und von ihren Vorgesetzten sowieso insgeheim als Gegner betrachtet werden. „Als man Probleme mit Niggern hatte, stellte man Nigger ein. Dann war es die Mafia, also setzte man auf Itaker. Jetzt sind es die Kids also rekrutiert man Kids“, fasst Crunch die Strategie der Polizei zusammen. Oder auch so: „Vor fünf Jahren wärst du nie durch die Polizeischule gekommen.“ Weil sich der Polizeiapparat also einen Scheiß für Menschen interessiert, werden auch die Polizeibeamten zu den Zynikern, die sie sind, zu Rassisten und Gewalttätern. Nur in einer aus den Fugen geratenen Welt kann Bos Idealimus als Wahnsinn ausgelegt werden.

Ich wusste nichts über REPORT TO THE COMMISSIONER, was oft die beste Voraussetzung für denkwürdige Filmsichtungen ist. Ich frage mich heute, warum Katselas Film nicht in einem Atemzug mit den großen Klassikern des Genres genannt wird: Er spricht alle Schlüsselreize an, ist pervers gut gespielt und hat ein sauspannend konstruiertes Drehbuch, das die Daumenschrauben in seinem vorgezogenen Showdown bis zur Unerträglichkeit anzieht. Es geht nicht viel besser.

Franck Poupart tanzt. Er spielt das Air-Saxophon und wiegt sich ebenso enthemmt wie ungelenk zur Musik. Er singt im Auto. Er legt sich mit Rockern an und schaut nervös wie ein Reh im Scheinwerferlicht, wenn sie sich ihm dann zuwenden. Er lügt, betrügt und stiehlt. Er erfindet haarsträubende Ausreden. Oder er schweigt, als hoffte er, die im Raum schwebenden Fragen lösten sich dann in Luft auf. Er schimpft und klagt, fühlt sich immer angegriffen. Er heult und schlägt um sich. Er verliert die Beherrschung, schreit und geht in die Luft wie das HB-Männchen. Im nächsten Moment ist ihm sein Ausbruch dann peinlich, aber zugeben würde er das nicht. Er verliebt sich in ein junges,traumatisiertes Mädchen, das nie etwas sagt. (Oder er meint, sich verliebt zu haben: Eigentlich verliebt er sich in die Idee sich zu verlieben, weil das ein Beweis dafür wäre, dass er kein irrer Solipsist, sondern ein Mensch ist.) Er plant einen Mord für Geld. Er erschlägt eine alte Frau mit bloßen Händen, schleppt ihren leblosen Körper die Treppe hoch, um ihn wieder runterzuschmeißen. Er freundet sich mit einem Mann an, um ihn später umzubringen. Er erwürgt seine Frau, weil sie Fragen stellt. Er rennt mit dem Kopf gegen sein Auto, weil er sich hasst. Er beschimpft sich. Er heult. Franck Poupart ist ein jämmerlicher Feigling, glitschig wie ein Aal, ausgehöhlt, ohne Prinzipien, aber mit der festen Überzeugung ausgestattet, dass das Leben ungerecht zu ihm ist. Er ist ein Mörder. Nur sich selbst zu töten, dafür fehlt ihm der Mut.

Der Mann, der Franck Poupart das jungenhafte blasse Gesicht mit dem vornehmen Schnurrbart gibt, die schütteren Haare, den leeren Blick, die linkischen Bewegungen und das Temperament eines Alligators ist Patrick Dewaere, der hier – glaubt man vielen, die besser mit seinen Filmen vertraut sind als ich – seine beste Leistung abliefert. Er verleiht Poupart eine lachhafte Gestalt, interpretiert ihn als Versager ohne jedes Rückgrat, als Dummkopf, bei dem sich dreiste Bauernschläue mit moralischer Flexibilität und dem gefährlichen Ehrgeiz des Emporkömmlings paart. Manchmal gelingt es Dewaere, als Poupart eine so lächerliche Figur abzugeben, dass man Mitleid mit ihm haben möchte, aber auch diese Tür schlägt er mit seiner Selbstgerechtigkeit sofort wieder zu. Jede, wirklich jede Entscheidung die er trifft, jedes Wort, das er sagt, ist falsch. Das ist kein Unvermögen mehr. Er hat die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens entweder nicht begriffen oder aus freien Stücken verworfen, weil sie ihn nicht weitergebracht haben. Wie man es dreht, es kommt nichts Gutes für ihn dabei heraus: Ersteres macht ihn zum Vieh, letzteres zum Soziopathen.

Alain Corneaus Verfilmung von Jim Thompsons Roman „A Hell of a Woman“ ist ein Meisterwerk, dabei gleichzeitig Hommage, Aktualisierung und Europäisierung sowie beinahe satirische Übersteigerung klassischer Noir-Motive – ohne dabei jedoch ihre tragisch-existenzialistischen Untertöne zu nivellieren. Getragen von Patrick Dewaeres unglaublicher Leistung dürfte SÉRIE NOIRE darüber hinaus eine der beindruckendsten, verstörendsten und herunterziehendsten Porträtierungen menschlicher Jämmerlichkeit sein, die je inszeniert wurden. Die Trostlosigkeit des Films ist kaum zu ertragen: Es hilft ein wenig, dass Dewaere diesen Poupart mit vollem Körpereinsatz interpretiert und SÈRIE NOIRE in manchen Momenten zur Körperkomödie macht. Aber wirklich nur ein wenig. Es fällt schwer, sich ein Leben außerhalb der abgebildeten Tristesse vorzustellen.  Der Himmel ist grau, das Wetter durchweg mies, die Häuser abgeranzt und vergammelt, zwischen ihnen erstreckt sich sumpfiges Brachland oder brutale Betonklötze versperren die Sicht. Nur wenige Menschen bevölkern diese Vorhölle und alle sind sie verloren. Es gibt keinen Ausweg, für keinen von ihnen. Niemand tut irgendetwas Gutes, jeder lebt nur auf Kosten der anderen, schlägt die Tage tot und hofft, abends mehr zu besitzen als am Morgen zuvor. Die vielleicht menschlichste Regung von allen zeigt der von Poupart provozierte Rocker: Anstatt den Jammerlappen vom Stuhl zu fegen, gibt er ihm einen langen Kuss auf den Mund. Er weiß, wie man diese verkommene Welt in ihren Grundfesten erschüttert. Pouparts Blick sagt dann auch alles. Er weiß nicht, wie er reagieren soll. Er geht einfach.

SÉRIE NOIRE endet konsequenterweise nicht mit der Bestrafung des Mörders: Er wird weder verhaftet noch wird er Opfer seines amateurhaften Vorgehens. Stattdessen wird er mit der Parodie eines Happy Ends beschenkt: Wer ihm etwas konnte, hat sich teuer ausbezahlen lassen, eine für Recht und Ordnung sorgende Staatsmacht ist den ganzen Film über nicht in Erscheinung getreten. „Die Leute“, wer immer sie sein mögen, so hört man, munkeln, aber niemand wird etwas sagen, weil es nichts zu gewinnen gibt. Also schließt Franck auf offener Straße seine Mona in die Arme und dreht sich und dreht sich und dreht sich mit ihr, dass ihre Füße vom Boden abheben. „Niemand kann uns jetzt noch etwas anhaben“, ruft er immer wieder wie ein Irrer in die Nacht hinaus. Ich glaube, er dreht sich deshalb so lange, weil er gar nicht weiß, was er mit dieser „Freiheit“, diesem „Triumph“ anfangen soll. Drinnen, im Badezimmer seines Hauses, liegt seine tote Gattin. Er hat sie schon vergessen.

 

 

 

Vorab: Ich habe diesen Film in italienischer Sprache mit englischen Untertiteln geschaut. Von der englischen Synchro habe ich schnell Abstand genommen, weil ich in den letzten Jahren immer wieder die Erfahrung gemacht habe, dass diese italienischen Filmen meistens nicht gut tut. Hätte ich aber geahnt, dass die Fan-Untertitel offensichtlich von einem Legastheniker verfasst wurden, hätte ich mich wahrscheinlich anders entschieden. Der Handlung zu folgen, war möglich, Feinheiten zu erfassen, allerdings nicht. Meine Beurteilung des Films ist also nicht der Weisheit letzter Schluss. Da mir TORINO NERA dennoch gut gefallen hat, ist das für jene, die sich hier eine Anregung für eigene Sichtungen holen wollen, wahrscheinlich aber verschmerzbar.

Rosario Rao (Bud Spencer), ein Sizilianer und zweifacher Vater, der in Turin für den Bauunternehmer Fridda (Marcel Bozzuffi) arbeitet, sitzt für einen Mord im Bau, den er nicht begangen hat. Während eines Fußballspiels wurde Santoro (Gianni Milito), ein Arbeitskollege von ihm, in seiner Anwesenheit mit einer Waffe erschossen, die ihm gehört, die er aber kurz zuvor an einen Bekannten verkauft hatte. Vor Gericht war es seinem Anwalt Mancuso (Nicola Di Bari) nicht gelungen, die erdrückende Beweislast zu entkräften. Der Fall wird erneut aufgerollt, als Raos Sohn Raffaele (Andrea Balestri) in der Zeitung vom Tod eines weiteren Kollegen seines Vaters liest. Gemeinsam mit Mancuso nimmt Raffaele die Ermittlungen wieder auf. Die beiden decken ein Komplott von Fridda auf, der in dem gewerkschaftsnahen Rao ein Hindernis für die eigenen Geschäfte sah und in dessen Rivalität mit dem ebenfalls unliebsamen Santoro eine gute Gelegenheit, beide auf einen Schlag loszuwerden. Ihre Fortschritte bleiben natürlich nicht unbemerkt …

Carlo Lizzani, ein Filmemacher mit ausgewiesen linkem Background, hat mit TORINO NERA einen ausgesprochen publikumsfreundlichen Krimi vorgelegt. Die Besetzung mit Bud Spencer und zwei Kindern in der Hauptrolle spricht in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. TORNO NERA ist sehr handlungsorientiert und „unterhaltsam“: Der Plot um die Jagd nach Beweisen, die den unschuldigen Vater entlasten, trägt den Film, der ausgesprochen temporeich seinem Klimax entgegeneilt. Die gesellschaftskritischen Betrachtungen – die Armut der arbeitenden Bevölkerung, hier vor allem der sizilianischen Bürger, ihre Ausbeutung durch Großunternehmer, die ihre Rendite zur Not auch mit illegalen Methoden sichern – bilden zwar die Basis der Geschichte, doch im Vordergrund stehen ganz klar das persönliche Schicksal der Charaktere und die Frage, ob es Raffaele und Mancuso gelingen wird, den Vater zu entlasten und die wahren Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen. Das ist durchweg spannend, auch wenn große Überraschungen eher ausbleiben.

Trotzdem: Wer genau hinschaut, muss entsetzt sein, über das Bild, das hier von Italien gezeichnet wird. Raffaele und sein kleiner Bruder Mino (Domenico Santoro) müssen tagsüber illegal importierte Zigaretten verkaufen oder am Güterbahnhof Obst stehlen, um die Familie in Abwesenheit des Vaters über Wasser zu halten. Das Mietshaus, in dem sie wohnen, ist in ruinösem Zustand, die Nachbarn einer Etage teilen sich eine triste Holzbaracke zur Verrichtung ihrer Notdurft. Auch die Mutter (Francoise Fabian) ist ständig unterwegs, um die Existenz zu sichern, und in der Folge sind Raffaele und Mino auf sich selbst gestellt, stromern Tag für Tag allein durch die Straßen. Für die Schule bleibt eigentlich auch keine Zeit, andere Dinge sind wichtiger. Auch die Nebenfiguren leben größtenteils in desolaten Verhältnissen: Frauen müssen anschaffen, Männer sterben nach lebenslanger harter Arbeit unter jämmerlichen Umständen. Ihre Tode werden von der Polizei zur Kenntnis genommen, nach den Hintergründen fragt niemand. Die Ursachen scheinen ja auf der Hand zu liegen. Das alles kann den lebhaften, munteren Rythmus des Films aber nicht wirklich beeinträchtigen. Die Unverdrossenheit der beiden Kinder, die ja nichts anderes kennen, lässt die Tragik etwas vergessen. Dafür wirkt das Finale, in dem alles zur Katastrophe führt, dann umso stärker. Wenn der Druck auf den Einzelnen immer weiter wächst, muss selbst der gefestigste Charakter irgendwann brechen.

Bud Spencer in der Rolle des Rao zu besetzen, ist ein großer Coup. Auch wenn das berühmte Duo Spencer/Hill 1972 noch am Anfang stand, hatte Spencer sich doch schon einen Namen als gebeutelter, aber aufrechter Vertreter des „kleinen Mannes“ gemacht, der allerdings niemals echtes Leid befürchten musste. Ihn hier als ohnmächtiges Opfer zu sehen, wirkt daher besonders schwer: Es muss schlimm stehen um Italien, wenn selbst ein Bud Spencer nichts ausrichten kann. Er hat in TORINO NERA eine Art ausgedehnten Cameo, ist meist in Rückblenden zu sehen, in denen er von seinen Söhnen auf die robuste Physis und das zuversichtliche, herzliche Lächeln reduziert wird, und tritt erst im Showdown als handelnde Person in Erscheinung, aber nichtdestotrotz wirkt er als bestimmende Kraft. Er verkörpert einen Hoffnungsschimmer und der Zuschauer betrachtet ihn nach einiger Zeit mit den Augen seiner Söhne. Er stellt dann am Ende die Gerechtigkeit wieder her, aber um welchen Preis? Wie er am Schluss abgeführt wird, seinen Sohn Mino noch einmal in die Arme schließt und dann seinem Schicksal entgegengeht, ohne sich noch einmal umzudrehen, ist herzzerreißend. Und Bud Spencer, den ich immer eher als Typen, denn als Schauspieler wahrgenommen habe, ist grandios. Rätselhaft bleibt allerdings die Rolle von Francoise Fabian: Sie bekommt fast gar nichts zu tun, hat nur wenige, kurze Szenen. Es hätte dafür keine Schauspielerin ihres Formats gebraucht und es scheint fraglich, ob das wirklich so gedacht war. Den Film kann das nicht schmälern. TORINO NERO ist wahrscheinlich kein Höhepunkt in Lizzanis Filmografie, aber dennoch ein Werk, das nur ein echter Künstler in dieser Ruhe und Gelassenheit drehen kann.

 

In einem Stripclub lernen sich die Tänzerin Nathalie (Coralie Revel) und die junge Kellnerin Sandrine (Sabrina Seyvecou) kennen. Sandrine ist beeindruckt vom Mut und der Sinnlichkeit, mit der sich Nathalie Nacht vor Nacht vor ihrem Publkum entblößt und zieht bei ihr ein, lernt in Folge von ihr, ihre sexuellen Fantasien auszuleben und dabei keine Rücksicht auf bürgerliche Moralvorstellungen zu nehmen. Doch beide sind mittellos und fassen daher einen Plan: Sie wollen ihre weiblichen Reize nutzen, um Karriere zu machen. In dem Unternehmen, in dem beide wenig später unterkommen, bietet sich die Chance dazu, denn Sandrines direkter Vorgesetzter, ein unglücklich verheirateter Mittfünfziger namens Delacroix (Roger Mirmont), ist der ideale Kandidat, erobert zu werden. Und von ihm aus ist es nur noch n Katzensprung zu Christophe (Fabrice Deville), dem gut aussehenden Juniorchef …

CHOSES SECRÈTES wurde 2002 von der Cahier du Cinema zum besten Film des Jahres 2002 erkoren (zusammen mit Abba Kiarostamis TEN), was ich jetzt erst einmal umkommentiert lasse. Brisseau (der später wegen sexueller Belästigung während des Castings zu CHOSES SECRÈTES verurteilt wurde) verbindet Elemente des Erotik-Thrillers mit einer gesellschaftskritischen Komponente und surrealen Einsprengseln, die den Vergleich zu Kubrick EYES WIDE SHUT nach sich zogen. Hinter der Story steckt die Empowerment-Fabel zweier Frauen, die sich die Rolle als willfähriger Sexgespielinnen, auf die Gesellschaft gutaussehende, junge Frauen reduziert, zunutze machen, um die Karriereleiter emporzuklettern – den Spieß gewissermaßen umzudrehen. Doch beide müssen feststellen, dass die Macht des Patriarchats stärker ist als sie, ihr subversiver Plan den männlichen Gatekeepers letztlich doch wieder in die Hände spielt. Am Ende steht Sandrine an der Spitze eines Imperiums, sie hat Wohlstand und Macht, ist aber einsam und unerfüllt, während Nathalie zwar „gescheitert“ ist, aber eine Familie und damit das persönliche Glück gefunden hat.

Brisseau versteht es zunächst sehr gut, die eher schlüprigen Elemente seines Films geschmackvoll und künstlerisch in Szene zu setzen. CHOSES SECRÈTES gleitet auch in seinen expliziteren Momenten nicht in den Schmier ab und sieht tatsächlich so luxuriös aus, wie das etliche der preiswerteren Nachzieher von Verhoevens BASIC INSTINCT anstrebten, aber dabei kläglich scheiterten. Das eiskalte Kalkül seiner beiden Protagonistinnen – unter anderem inszenieren sie einen Überfall auf Delacroix‘ Mutter, um sich sein Vertrauen zu erschleichen – ist vor dem Hintergrund ihrer Perspektivlosigkeit nachvollziehbar: Der Zuschauer verzeiht ihnen diese Entgleisungen, weil er ihnen den Erfolg gönnt. Aber natürlich ist schnell klar, dass sich die beiden auf einem Irrweg befinden, dass ihr vermeintliches Ziel eine Sackgasse ist und sie doch nur ihr eigenes Unglück befördern. Das ist nicht verkehrt, denn natürlch kann es kein richtiges Leben im Falschen geben und auch wenn die beiden meinen, „ihr Ding“ durchzuziehen, machen sie letztlich doch den Kotau vor dem (männlich-kapitalistischen) Status quo.

Aber genau bei diesem letzten Schritt verliert sich Brisseaus Film meiner Meinung nach. Er zeichnet den Kapitalisten Christophe als mephistophelischen Schurken, der eine inzestuöse Beziehung zu seiner engelsgleichen Schwester unterhält und in seinem mondänen Chateau Orgien zelebriert, gegen die der Reigen aus Kubricks bereits erwähntem EYES WIDE SHUT wie eine Karnevalsveranstaltung aussieht. CHOSES SECRÈTES gleitet im letzten Akt in fantastische Gefilde ab: Seine Bilder kapitalistischer Dekadenz sind gnadenlos übersteuert und abgeschmackt, die egomanischen Monologe seines Antagonisten Christophe erinnern an einen Bond-Schurken, der zu viel De Sade gelesen, aber nicht verstanden hat, die Bilder sind als Kapitalismus-Kritik hoffnungslos naiv. Das schmerzt umso mehr, als er mit diesem Ende auch die sehr nachvollziehbaren Sorgen und Bedürfnisse seiner Protagonistinnen verrät, die plötzlich nur noch austauschbares Inventar in einer abstrakten (und irgendwie ziemlich eitel wirkenden) Allegorie sind.

CHOSES SECRÈTES ist überaus streitbar (auch vor dem Hintergrund der Vorwürfe gegen den Regisseur) und als solcher erst einmal interessanter und sehenswerter als Dutzender anderer völlg egaler Filme, die Jahr für Jahr herauskommen, aber wie man zu dem Schluss kommen kann, ihn als besten Vertreter seines Jahrgangs zu bewerten, ist mir zunächst mal schleierhaft. Ich habe jetzt gerade nicht so den Überblick über das Filmjahr 2002 und will der Cahier du Cinema ihre Expertise auf keinen Fall streitig machen, aber vielleicht waren da auch einfach zu viele Männer zu beeindruckt von den zur Schau gestellten Reizen der Hauptdarstellerinnen.

 

Der neureiche Mitch Hansen (Michael Rogen) ist mit seiner blonden Geliebten Kiki (Patty Mullen) auf dem Weg in eine glückliche Zukunft, da werden beide Opfer eines tödlichen Unfalls. So scheint es zumindest, denn bei der anschließenden Autpsie wacht der von Herzschmerz geplagte und außerdem grotesk entstellte Mitch wieder auf und tötet seine beiden Pathologen. Zehn Jahre später macht sich Judy (Patty Mullen), die Tochter der Verunglückten, mit ihren Freunden auf den Weg, den Unfallort aufzusuchen. Dabei verschlägt es sie auch zu der mittlerweile stillgelegten Irrenanstalt, in der Mitch einst untergebracht war und immer noch sein Unwesen treibt …

Ob es nun unbedingt erforderlich war, dass dieser mit einem Budget von 90.000 Dollar gedrehte Spätslasher das Arrow-HD-Treatment erfährt, sei mal dahingestellt. Filmhistorisch relevant ist er, wenn überhaupt, weil der spätere SEX & THE CITY-Star Kristin Davis hier sein Spielfilmdebüt feierte: Ob sie heute noch gern darauf angesprochen wird, wage ich zu bezweifeln und im Bonusmaterial glänzt sie dann auch mit Abwesenheit. Aber als Slasher-Komplettist kann ich dem Werk bescheinigen, seine Sache zumindest während der ersten Hälft besser zu machen als unzählige seiner Kollegen. Weil ihm für echten Thrill wohl die Mittel und die Inspiration fehlen, verlegt er sich auf einen angenehm debilen, mitunter die Grenze zur Selbstreflexion mit Lust überschreitenden grellen Humor. In der ruinösen Anstalt trifft das Figureninventar üblichen Opfermaterials etwa auf eine Girl-Punkband, die nicht nur grausame „Musik“ macht, sondern mit Bandleaderin Tina (Ruth Collins) auch über eine sehr exzentrische Sängerin verfügt, deren Verhaltensweisen mitunter an die farbenfrohen Schurken des Endzeitfilms denken lassen. Und die Schlagzeugerin ist eine Russin, die ihrem Hass auf das „System“ Luft verschafft, indem sie wahllose Parolen an die Wände schmiert. (Sehr modern: Die Aufschrift „Men“ auf der Herrentoilette überschreibt sie mit „Persons“.) Mit ihrer Nonkonformität ist es dann aber Schluss, als sie dem Killer gegenübersteht: Ihr Bekenntnis „I voted Republican!“ kann sie aber auch nicht retten. Sehr schön auch Judys Aussage, als sie sieht, wie ihr Freund sich mit schwindender Kraft am Dach des Hauses festhält: „He’s probably not gonna fall.“ Schön, wenn man seinem Partner vertraut.

Für eine Weile macht DOOM ASYLUM also durchaus Spaß, doch die Probleme beginnen, als es in den letzten Akt geht. Es ist ja von Anfang an klar, worauf das alles hinauslaufen wird und weder Regisseur Friedman noch Drehbuchutor Rick Marx haben sich die Mühe gemacht, sich einen Twist auszudenken, der die Laune noch einmal heben würde, nachdem zwei Drittel der Belegschaft abgemurst sind und es folglich nur noch darum geht, den Killer unschädlich zu machen. Das endlose Geschleiche durch das verfallene Gebäude bringt rein gar nichts außer Langweile und Zeit: DOOM ASYLUM hätte gut und gern nach 60 Minuten beendet sein können, denn selbst die schmalen 77 Minuten erscheinen einem dann am Ende noch deutlich zu lang (einen nicht unerheblichen Teil der Laufzeit machen Clips von SWEENEY TODD: THE DEMON BARBER OF FLEET STREET aus, den sich der Killer in seinem Keller auf dem Fernseher anschaut). Die positiven Eindrücke sind so schnell wieder verpufft.

Ich bin trotzdem bereit, in Anbetracht der ersten halben Stunde Gnade walten zu lassen, denn DOOM ASYLUM ist streng genommen eine größere Amateurproduktion (Nachtdrehs waren offenkundig nicht drin und Darstellerin Ruth Collins zahlte man die geradezu irrwitzige Summe von 100 Dollar, damit sie ihre Brüste entblößte). Ich habe ja irgendwann mal geschrieben, mein Ziel sei es, irgendwann behaupten zu können, alle Slasherfilme der „klassischen“ Phase gesehen zu haben und dafür muss man eben Opfer bringen. Es hätte aber, wie gesagt, deutlich schlimmer sein können.

Frankreich in den frühen Sechzigerjahren. Während auf der anderen Seite des Mittelmeeres der Algerienkrieg tobt, werden vier junge Leute langsam erwachsen: Der introvertierte Francois (Gael Morel) entdeckt seine Homosexualität und verliebt sich in seinen Mitschüler Serge (Stéphane Rideau), dessen Bruder in Algerien sein Leben verliert. Henri (Frédéric Gorny), ein Algerienfranzose, rebelliert und versucht nur sehr widerwillig im dritten Anlauf, das Baccalauréat an der gemeinsamen Jungenschule zu machen. Maité (Èlodie Bouchez) sympathisiert mit dem Kommunismus und steht zwischen den Jungen: Francois ist ihr brüderlicher Freund und Serge hat ein Auge auf sie geworfen. Während sie sich auf ihren Abschluss vorbereiten, begeben sie sich auf die Suche nach ihrer sexuellen und politischen Identität.

In seinem preisgekrönten Film zeigt André Téchiné wie das geht mit dem großen, gesellschaftlich wie künstlerisch und emotional relevanten Kino. Da wird nichts ins Drehbuch geschrieben, um irgendeine Quote zu erfüllen, und als Zuschauer hat man nie das Gefühl, einer Lektion beizuwohnen. Wie im zuletzt gesehenen LES TÉMOINS entwickelt Téchiné seine Geschichte ganz organisch aus seinen Charakteren, denen er völlig vorurteilsfrei gegenübersteht, mit all ihren jugendlichen Spinnereien und Marotten. Diese Haltung ist der Geburtshelfer großartiger, komischer wie ergreifender kleiner Momente: Serge, der sich vor Maité nur mit Unterhose bekleidet in einen kalten See stellt, damit seine hartnäckige Erektion verschwindet; Henri, der immer mit einem Radio am Ohr herumläuft, das Kriegsmeldungen überträgt, und am Ende mit einem Benzinkanister vor der Parteizentrale der Sozialisten steht; Francois, der in seiner Verzweiflung über seine Gefühle für Serge einen alternden Schuhverkäufer in seinem Geschäft um Rat fragt, von dem es heißt, er sei homosexuell; Maité, die sich für den abschließenden Badespaß einen gelben Badanzug kauft und dann verschämt meint, sie sehe darin aus wie ein Kanerienvogel. Bei Téchiné hängt alles zusammen, Politik, Sexualität, Identität: Man nennt das auch „Leben“. Und sein Film ist vor allem eine Zelebrierung dieses Lebens.

Wie auch in LES TÉMOINS fällt einem in LES ROSEAUX SAUVAGES sofort dieses Licht auf, das alles illuminiert wie ein impressionistisches Gemälde. Beide Filme kreisen um die Unbeschwertheit der Jugend, ihr Vorrecht, sich auszuprobieren, Freude und Genuss zu priorisieren, um die Schönheit, die damit einhergeht. Und beide Filme spielen vor allem im Sommer, einer Zeit, in der sich da Leben besonders gut genießen lässt, in der man draußen ist, in der Natur, unter Freunden. Aber so, wie nach de Sommer unweigerlich Herbst und Winter kommen, ist auch bei Téchiné immer klar, dass Unbeschwertheit nicht von Dauer sein kann. Zum Leben gehören auch die Tiefen, Sorgen, Ängste, Schicksalsschläge. Gut zu leben heißt nicht, solchen Zuständen auszuweichen, sondern mit ihnen umzugehen, weiterzumachen, den Blick hoffnungsfroh nach vorn zu richten. Das Leben geht weiter, es ist tatsächlich so banal, und der nächste Sommer kommt bestimmt. In LES ROSEAUX SAUVAGES sind es der Krieg, der Tod eines jungen Mannes, die nicht erwiderte Liebe, der Rauswurf aus der Schule und eine kranke Mutter, die den Protagonisten zusetzen und sie auf die Probe stellen. Wie sie damit umgehen, das müssen sie lernen. Am Ende wissen sie immer noch nicht so genau, wie das geht, aber sie haben die Zuversicht, ihr Leben meistern zu können.

Von LES ROSEAUX SAUVAGES war ich ehrlich gesagt begeistert, noch mehr als von LES TÉMOINS, aber es ist schwierig, die Begeisterung in Worte zu fassen. „Zelebrierung des Lebens“, das klingt banal, irgendwie nach fürchterlichem Deutschpop, Werbefernsehen und inhaltsleerem Hedonismus. Aber das ist es bei Téchiné nicht: Wahrscheinlich muss man ein intellektueller französischer Filmemacher sein, um das hinzubekommen, Lebensfreude und Geist zu vereinen – und natürlich dieses magische Licht einzufangen.

Louis Vincent Mangin (Gerard Depardieu) ist ein Cop. Seine Gegner: drei tunesische Brüder, die mit Heroin handeln. Als er Simon (Jonathan Leina), einen der drei, verhaftet, macht er sich an dessen Geliebte Noria (Sophie Marceau) heran. zunächst geht es ihm nur darum, Informationen aus ihr herauszupressen, mit denen er die Organisation der Brüder zerschlagen kann, doch dann mischen sich bald romantische Gefühle mit hinein. Als Noria die Brüder bestiehlt, um ihren Ausstieg aus dem Ring zu schaffen, der ihr ewige Loyalität abverlangt und sie bei Verrat mit dem Tode bedroht, gerät sie in Lebensgefahr. Die Gefühle Mangins kommen ihr da gerade recht …

Maurice Pialats viertletzter Film basiert auf einem Drehbuch von Catherine Breillat und ist in sich schon ser widersprüchlich: Zwar hat der Betrachter es hinsichtlich der Charaktere, der verwendeten Erzähltechniken und der verhandelten Themen mit einem sehr typischen postmodernen Polizeifilm zu tun, aber auch mit einem, der nur sehr am Rande mit Thrill und Crime zu tun hat. Die erste Dreiviertelstunde ist nichts weniger als meisterhaft: In atemlosen Tempo sowie mit großer Akribie und dem scharfen Blick für das Detail wird weniger eine Handlung vorangetrieben, als Polizeialltag im Stile des Police Procedurals beobachtet. Anders als bei den Vertretern aus den Fünfzigerjahren geht es aber nicht länger darum, die Zuverlässigkeit des Apparates zu demonstrieren und so beim Publikum ein Gefühl der Sicherheit zu etablieren, sondern eher ums Gegenteil: POLICE zeigt nicht nur, dass Mangin und seine Kollegen hilflos gegen einen reißenden Strom des Verbrechens anschwimmen, sondern auch, dass die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens bei den Gesetzeshütern längst entsprechend niedergeschlagen hat: Ihre Organisation ist ein Spiegelbild der Kartelle, gegen die sie ankämpfen.

Die dreisten Lügen, Verleugnungen und Ausreden, mit denen zum Teil handfeste Beweise vom Tisch gefegt werden, sind in der ersten Hälfte von POLICE fast schon ein running gag: Als Mangin Noria eine Tonbandaufnahme vorspielt, die ein Telefonat zwischen ihr und einem sie anrufenden Drogenhändler dokumentiert, von dem sie behauptet, ihn nicht zu kennen, behauptet sie steif und fest, es handle sich bei der Stimme um eine andere Frau, die ihr Telefon in ihrer Wohnung abgenommen und nter ihrem Namen geantwortet habe. Aber die Polizei hat dieser Frechheit nur wenig Substanzielles entgegenzusetzen, vielmehr sind ihre Methoden auch alles andere als sauber. Statt sich mit detektivischer Spürnase, überlegenem Intellekt und psychologischer Menschenkenntnis durchzusetzen, baut Mangin auf die Kraft der Einschüchterung, rohe Gewalt und leere Drohungen. Mit klassischen Polizistentugenden wie Vertrauenswürdigkeit, Seriosität, Untadeligkeit, Unbestechlichkeit und Professionalität hat er nur wenig am Hut: Er bändelt ohne große Zurückhaltung mit einer Kollegin (Pascale Rodard) an und wenn das Tagwerk verrichtet ist, geht er mit Lambert (Richard Anconina), dem Anwalt der Verbrecher, in deren Kneipen trinken, die tagsüber aufrecht erhaltenen Grenzen leichtfertig verwischend. Man ahnt, dass das nicht lang gut gehen kann. Auch wenn das Gerangel der beiden Seiten in vielen Momenten an ein Spiel erinnert: Es ist keines. Und es sind vor allem die Schurken, die das ganz genau wissen – und im Zweifel die nötige Kaltblütigkeit besitzen, um Ernst zu machen.

In der zweiten Hälfte nimmt Pialat etwas das Tempo heraus. Aus den gleichförmigen Verhörräumen und Büros des Polizeireviers, durch die Nacht für Nacht dieselben halbseidenen Gestalten, kleinen Ganoven und Gewohnheitstter defilieren verlagert er die Handlung in das Privatleben Mangins, der dem Traum von der Liebe aufsitzt. Die schöne Noria hat alles: Sie ist wunderschön, jung, klug, verletzlich, geheimnisvoll, mutig. Er sieht in ihr die damsel in distress, die er, der Ritter, aus den Fängen des Drachen befreien muss, um ihr ein besseres Leben zu ermöglichen. Mangin glaubt, dass er die Perspektive hat, aus der er die Dinge überlicken kann, aber natürlich irrt er sich gewaltig. Nicht nur riskiert er mit seiner Affäre die blutige Rache der Tunesier, er unterschätzt auch Noria, hinter deren mädchenhaftem Schmollmund sich eine gerissene Frau verbirgt, die genau weiß, welche Hebel sie zur Erreichung ihrer Ziele betätigen muss. POLICE endet ohne großen Knall im Ungewissen. Vielleicht wird alles so weitergehen für Mangin. Wahrscheinlicher ist es aber, dass er irgendwann einmal die Quittung für seine Sorglosigkeit erhält. Die zweite Hälfte ist etwas weniger temporeich und atemlos als die erste, aber sie gibt dem Schicksal Mangins erst die nötige Fallhöhe.

Pialats POLICE ist ein Polizeifilm, wie ihn nur Franzosen machen können. Realistisch, abgezockt, düster, fiebrig, resigniert, aber niemals selbstmitleidig.

 

Mitte der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts ereignete sich ein Paradigmenwechsel, der das Leben, wie es bis dato gelebt wurde, radikal veränderte. Das Aufkommen von AIDS bedeutete nicht nur, dass Sexualität deutlich bewusster und damit vorsichtiger praktiziert werden musste, es bedeutete für die, die zur Risikogruppe gehörten- Homosexuelle, Drogenabhängige -, ein zusätzliches soziales Stigma. André Téchiné beleuchtet in seinem im Jahr 1984 auf der Schwelle zu diesem „neuen Zeitalter“ angesiedelten Film, wie sich dieser historische Wandel im Privaten abzeichnete – und wie das Leben trotz katastrophischer Zäsuren weitergeht: ohne bequeme Indifferenz oder gar Ignoranz, aber auch ohne ohnmächtig machenden Fatalismus, sondern voller Hoffnung und Mut.

Der hübsche, jugendliche Homosexuelle Manu (Johan Libéreau) kommt aus der Provinz nach Paris und zieht dort bei seiner Schwester Julie (Julie Depardieu) ein, einer angehenden Opernsängerin. Das Hotel, in dem die beiden mangels finanzieller Mittel wohnen, ist eine billige, von Prostituierten und halbseidenen Gestalten bewohnte Absteige, aber für Manu spielt das keine Rolle. Er genießt die Möglichkeiten, die ihm das neue Leben in der Metropole bietet, stürzt sich in das schwule Pariser Nachtleben wie ein Verdurstender in einen See. Beim cruisen in eine Park trifft er Adrien (Michel Blanc), einen mittelalten homosexuellen Arzt, der sich sofort in die Unbeschwertheit Manus verliebt und ihn in seinem Beanntenkreis einführt: An einem Wochenende am Mitelmeer lernt Manu die eben Mutter gewordene Schriftstellerin Sarah (Emmanuelle Béart) und ihren Ehemann, den Polizisten Mehdi (Sadi Bouajila) kennen. Als er mit letzterem eine heiße Liebesaffäre beginnt und er wenig später Anzeichen einer rätselhaften, schweren Krankheit zeigt, gerät das bis dahin feste freundschaftliche Gefüge in Bewegung …

LES TÈMOINS – deutscher Titel: WIR WAREN ZEUGEN – entspricht nicht unbedingt dem zeitgenössischen cineastischen Chic: André Téchinés Film hat keinen großen Clou, keine Pointe, er verabreicht keine griffige Moral, keinen Lehrspruch, den man daraus mitnehmen oder weitergeben könnte. Er ergeht sich auch nicht in präapokalyptischem Nihilismus, suhlt sich nicht in Bildern des Leids, um dem Zuschauer Empathie abzuringen. Er sieht das moderne Leben nicht als selbstgefällig-blinden Tanz auf einem brodelnden Vulkan, sondern erlaubt sich den überaus seltenen und wohltuenden Luxus, an das Gute im Menschen zu glauben, an seine Vernunft zu appellieren. Dazu passt, dass er nicht mit dem Finger zeigt, keine Urteile ausspricht. In LES TÈMOINS betrachtet er alle seine Charaktere ohne Vorurteile, er bringt allen die gleiche Sympathie entgegen, konfrontiert den Betrachter erst einmal nur mit ihren Sorgen und Befindlichkeiten und fordert von ihm dann die gleiche unvoreingenommene Haltung ihnen gegenüber ein, die auch er einnimmt. Sie alle sind nicht perfekt, aber wer ist das schon: Manu ist hoffnungslos naiv und ja, auch rücksichtslos in seinem Streben nach Lust und Liebe, aber es ist auch diese Energie und Lebenfreude, die ihn liebenswert macht. Das sieht auch Adrien so und man muss ihn der Träumerei bezichtigen: Hat er denn wirklich geglaubt, dass dieser strahlende Cherub bei ihm bleiben würde, einem glatzköpfigen, kurzgewachsenen Mittfünfziger? Sarah ist keine besonders gute Mutter, aber wir vertrauen ihr, dass sie mit den Herausforderungen der neuen Aufgabe wachsen wird. Der maghrebinische Macho Mehdi ist ein Feigling, aber wer wollte es ihm verübeln: als Polizeibeamter dunkelhäutig und bisexuell? So progressiv und tolerant sind sein Arbeitgeber und die Kollegen dann doch nicht, auch wenn sie ihm die Koteletten gestatten.

Mit der Katastrophe konfrontiert, ändert sich alles, am stärksten natürlich für Manu: Eben noch gehörte ihm die Welt, jetzt kann er dabei zusehen, wie sein jugendlicher Körper vor seinen Augen zerfällt. Mit Mehdis Bequemlichkeit hat es ebenfalls ein Ende: Er muss Verantwortung gegenüber seiner Ehefrau und seinem Kind übernehmen und ihr sein Doppelleben gestehen.  und eine Sarah muss sich entscheiden, wie sie damit umgeht, dass ihr Gatte sie mit einem Jugendlichen betrogen hat und Adrien die ersten wissenschaftlichen und organisatorischen Schritte unternehmen, um das Land für die neue Epidemie zu wappnen. Am Ende treffen sich die Freunde wieder am Mittelmeer, den Platz des verstorbenen Manu hat eine andere junge Eroberung Adriens eingenommen. Es ist nicht klar, ob Mehdi und Adrien sich jemals wieder offen betrachten können, aber sie lassen es auf den Versuch ankommen. Ihre gemeinsame Geschichte kettet sie aneinander. Es sind diese Ehrlichkeit, dieser befreiende Optimismus und die Lebenslust, die LES TÉMOINS auszeichnen und zu etwas Besonderem machen. Téchiné muss dafür nicht die Augen vor der Realität verschließen: Seine Charaktere sind echt in ihren Sorgen, aber auch in ihrem Streben nach Glück, das sie letztlich aneinander bindet, über alle vermeintlich trennenden Unterschiede. Und das ist ein stärkeres Band als Missgunst, Verachtung und Hass.