Archiv für September, 2019

Es war ein steiniger Weg, aber nach drei Filmen bin ich am Ziel: DRAGGED ACROSS CONCRETE ist für mich der Spitzenfilm, den andere bereits in Zahlers vorangegangenen Werken BONE TOMAHAWK und BRAWL IN CELL BLOCK 99 gesehen hatten, an denen ich mal mehr (BONE TOMAHAWK), mal weniger (BRAWL) auszusetzen hatte. Dabei hatte ich mich schon darauf eingestellt, wieder einigermaßen befremdet zu werden: Zahler fühlt sich, nimmt man diverse Interviews als Indiz, in seiner Rolle als Anti-PC-Edgelord ganz wohl und was ich über DRAGGED im Vorfeld gelesen hatte, bestätigte meine Befürchtungen in dieser Hinsicht: Die Rede war da unter anderem von aus der Zeit gefallenen Cops, die ihr Leid über irgendwelche liberalen Snowflakes und die „Lügenpresse“ klagen, die ihnen die Arbeit erschweren, während ihre braven Polizistentöchter von Schwarzengangs belästigt werden. Nachdem ich den Film gesehen habe, würde ich die Haltung einnehmen, dass Zahler da weniger eine eigene Meinung vertritt, als seine Charaktere sprechen zu lassen – und tatsächlich ist es ein Afroamerikaner, der als einzige Figur  ohne echten charakterlichen Makel auskommt. Darüber hinaus hat es bei DRAGGED für mich auch auf anderer Ebene zum ersten Mal geklickt: Es ist der erste Film Zahlers, bei dem mir der visuelle Stil nicht als Kompromiss erschien, und seine Strategie, Dialogzeilen lange im Raum stehen zu lassen, seine Wirkung voll entfaltete, weil sie so wahnsinnig dicht geschrieben sind und so viel über die Charaktere verraten. Und wo für mich bei BRAWL die alles runterziehende Atmosphäre als übermäßig forciert erschien, erkenne ich in DRAGGEDs resigniertem Existenialismus durchaus einen gewissen lakonischen Humor – und so etwas wie einen Hoffnungsschimmer am Horizont.

Zahler interessiert sich für Männer, die vom Leben in Extremsituationen gedrängt werden, und dafür, was sie in diesen Situationen tun. In DRAGGED ACROSS CONCRETE sind diese Männer der alternde Polizist Brett Ridgeman (Mel Gibson), der immer noch denselben Dienstgrad hat wie vor 27 Jahren, während sein ehemaliger Partner Calvert (Don Johnson) längst zu seinem Vorgesetzten avanciert ist. Hinzu kommen Sorgen wie die MS-Erkrankung seiner Ehefrau (Laurie Holden) und die Übergriffe, die seine Tochter (Jordyn Ashley Olson) auf dem Schulweg über sich ergehen lassen muss. Nachdem er und sein Partner Anthony Lurasetti (Vince Vaughn) wegen „übertriebener Härte“ im Vorgehen gegen einen Drogendealer für sechs Wochen ohne Lohn suspendiert werden, ist die Zeit für besondere Maßnahmen gekommen. Das Gleiche gilt für Henry Johns (Tory Kittles), der nach einer Haftstrafe zu seiner Mutter (Vanessa Bell Calloway) und seinem an den Rollstuhl gefesselten Bruder (Myles Truitt) zurückkehrt und feststellt, dass seine Mom sich als Prostituierte verdingt, um die Mietschulden bezahlen zu können. Sein bester Freund Biscuit (Michael Jai White) hat einen Job in Aussicht, der die nötige Kohle bringen soll. Und bei diesem kreuzen sich dann die Wege von Ridgeman und Johns auf schicksalhafte Art und Weise.

DRAGGED ACROSS CONCRETE ist zweieinhalb Stunden lang, aber das liegt nicht an der Komplexität der Geschichte, die er erzählt, sondern an der Zeit, die Zahler sich für jede einzelne Szene nimmt. Zahler lässt, wie ich oben schon sagte, die Dialogzeilen seiner Charaktere lange in der Luft hängen wie Rauchschwaden in einer ausschließlich von geduldigen Stammgästen besuchten Kneipe. Sie müssen nicht mehr lang über das nachdenken, was sie sagen, dennoch hat jedes Wort Gewicht, bedarf keiner weiteren Korrektur. Reden und Handeln sind eins bei Zahler, Worte werden nicht zur Selbstinszenierung benutzt, dazu, sich größer, wichtiger oder besser zu machen, sie sind Statements des Selbst. Ridgeman hat etwa die Marotte, ständig Wahrscheinlichkeiten in Prozenten anzugeben: Ausdruck eines gnadenlosen Realismus, eines durch und durch nüchternen Blicks auf die Welt, in der kein Platz für Träumereien ist. Aber die Langsamkeit, mit der DRAGGED ACROSS CONCRETE passend zum Titel voranschreitet, auch in seinen brachialen, aber dennoch weitestgehend statischen Actionzenen, hat noch eine andere Funktion: Sie verschärft das Bild einer Welt, in der sich die Dinge mit einer für menschliche Belange gleichgültigen Unausweichlichkeit vollziehen. Jede Handlung ist nur ein weiterer Dominostein in einer Kausalkette, die längst angestoßen wurde. Der Glaube an die Macht der individuellen Entscheidung ist eine Illusion, weil unser Handeln vorbestimmt ist durch Faktoren, die außerhalb unseres Einflusses liegen. Dass Ridgeman den Weg Calverts hätte nehmen können, ist nur eine hypothetische Möglichkeit: Er ist nicht dieser Typ, der strategische Karriereentscheidungen trifft, sondern ein Typ, der so handelt, wie es ihm sein Instinkt eingibt. Lurasetti scheint hingegen die Idee zu haben, ein anderer werden zu können: Er ist mit einer Frau liiert, die ihm intellektuell und vom gesellschaftlichen Status her deutlich überlegen ist, und sein Handeln lässt den Wunsch erkennen, die eigene kleinbürgerliche Herkunft zu überwinden. Er achtet auf Reinlichkeit, hört Jazz und benutzt Formulierungen, die er Gesprächen mit ihr entlehnt hat und als seine ausgibt. Aber am Ende ist er eben doch nur ein Cop, der seinem Partner verpflichtet ist und der zu seinem Wort steht, auch wenn er weiß, dass er den Preis dafür nicht bezahlen kann. Am deutlichsten zeigt sich das Weltbild Zahlers in der kurzen Zwischenepisode um die Bankangestellte Kelly (Jennifer Carpenter), die von ihrem Ehemann nach dem Mutterschaftsurlaub dazu gezwungen werden muss, zu ihrem verhassten Arbeitsplatz zurückzukehren: Kaum dort angekommen, wird die Bank überfallen und sie ermordet. Ihre Eingebung war die richtige, aber die Macht der Entscheidung lag nicht bei ihr. (Die Episode erinnert am ehesten an den bisweilen sadistischen Fatalismus von BRAWL – möglicherweise wäre DRAGGED ohne sie sogar noch besser.)

In meinem Text zu BRAWL erwähnte ich die bisweilen ans Surreale grenzenden Überzeichnungen, die erkennen lassen, dass es bei Zahler keinesfalls um Authentizität oder besser „Realitätstreue“ geht, eine Idee, auf die man angesichts der rohen Ästhetik seiner Filme vielleicht kommen könnte. In DRAGGED sind es die Schurken, mit denen Ridgeman, Lurasetti, Johns und Biscuit konfrontiert werden, die diese Funktion übernehmen. In ihrem Outfit, das sie nie ablegen, erinnern sie an Froschmänner, sie haben keine Gesichter und keine Namen, und es ist demnach nicht nur ihre skrupellose Brutalität, die sie geradezu unmenschlich macht. Dazu passt auch die Szene beim Banküberfall, als sie mithilfe eines Tape Recorders und voraufgenommener Kassetten mit dem Bankdirektor kommunizieren: Die Vorausschau, die in ihrer Planung zum Ausdruck kommt, ist nur noch als dämonisch zu beschreiben – und natürlich eines der deutlichsten Beispiele – neben den „Ehestreits“ zwischen Ridgeman und Lurasetti – für den grimmigen Humor Zahlers. Die „Schurken“ sind demnach weniger Individuen, sondern einfach die Inkarnation der Ungerechtigkeit der Welt, die einen immer etwas härter in den Arsch fickt als man das hat kommen sehen. Erstaunlich, dass es am Ende von DRAGGED doch einen Gewinner geben kann: sicher der deutlichste Fortschritt zum Vorgänger BRAWL – und möglicherweise das erzählerische Zugeständnis, das ich noch gebraucht habe. Wer allerdings befürchtet, dass Zahler weich geworden sein könnte, muss sich keine Sorgen machen. DRAGGED ACROSS CONCRETE ist immer noch ein ziemliches Brett, das Zahler dem Betrachter mit Vorliebe vors Schienbein drischt.

 

 

destroyer (karyn kusama, usa 2018)

Veröffentlicht: September 30, 2019 in Film
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Da steht ein Elefant im Raum und er heißt Nicole Kidman. DESTROYER ist für die Schauspiel-Diva das, was MONSTER für Charlize Theron war: ein Film, der jenen „Mut zu Hässlichkeit“ von seiner überaus attraktiven Hauptdarstellerin verlangt. der Regenbogenpresse, öffentlich-rechtlichen Kulturjournalisten und Jurys von Filmfestivals mit höchster Verlässlichkeit in Verzückung geraten lässt. Wann immer man über DESTROYER liest, im Mittelpunkt steht Kidmans Wandlung, die sie für den Film vollziehen musste. Dabei ist das Vertrocknete-Akoholikerinnen-mit Wischmop-Frisur-Make-up, das man ihr angedeihen ließ, mit Leichtigkeit das Schlechteste an DESTROYER. Erin Bell, der ausgebrannte, weibliche Cop, den die Kidman verkörpert, sieht nicht aus wie ein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern eben aus wie ein Effekt, der einen über den Mut der Aktrice staunen lassen soll, die sich da jeden Tag mehrere Stunden auf dem Stuhl der Make-up-Künstlerin niederlassen musste. Und natürlich darf sie wie zum Ausgleich in den Rückblenden dann auch wieder in voller, makelloser Schönheit erstrahlen – und dabei sogar gut 20 Jahre jünger sein als in der Realität. Es ist ein Wunder, das DESTROYER von diesem Fokus auf die Wandlungsfähigkeit seiner Darstellerin nicht komplett aus der Bahn geworfen wird.

Die Geschichte der Kriminalbeamtin, die mit den Schatten aus ihrer Vergangenheit konfrontiert wird, gewinnt keinen Originalitätspreis, aber wie Kusama sie erzählt, nimmt dennoch ein. Wenn wir die Protagonistin zum ersten Mal sehen, ist sie gezeichnet von einem Hangover, schleppt sich mit glasigen Augen zum Schauplatz eines Mordes, wo zwei Kollegen sie angesichts ihrer desolaten Verfassung mit einem Augenrollen in Empfang nehmen. Sie erkennt den Toten, behauptet, auch den Mörder schon zu kennen, behält dieses Wissen dann jedoch für sich. Nach und nach erfahren wir, dass sie sich als junge Polizistin in die Gang des Kriminellen Silas (Toby Kebbell) einschleusen ließ und sich in ihren Kollegen, den FBI-Beamten Chris (Sebastian Stan) verliebte. Aber der Banküberfall, bei dem die beiden dann mitwirkten, geriet zum Fiasko, kostete Chris das Leben und zerstörte das Leben der jungen Frau. Nun mehren sich die Zeichen, dass Silas zurückgekehrt ist – und Erin sieht die Chance, Rache zu nehmen und damit vielleicht ihren Frieden zu finden.

Kusama inszeniert die Geschichte einer gebrochenen Frau mit quasi-postapokalyptischer Intensität. Der Soundtrack dröhnt und wummert, in den Dialogen wird Silas zum Dämon stilisiert, die Suche Erin nach ihm gerät zu einer Reise ins sprichwörtliche Herz der Dunkelheit. L. A. ist ein sonnengegerbter Moloch, der von verlorenen Seelen bevölkert wird, und Erin fleckige, ausgetrocknete, rotgeäderte Haut ist die Landkarte dazu. Sie begegnet ihren alten Weggefährten, die wie sie von dem zurückliegenden Ereignis gezeichnet wurden, versucht gleichzeitig, mit ihrer entfremdeten Tochter reinen Tisch zu machen und sicherzustellen, dass sie eine bessere Zukunft haben wird. Je näher der Film sich seinem Finale nähert, umso klarer wird, dass es weniger die Grausamkeit ihres Widersachers war, die Chris das Leben kostete und Erin ins Unglück stürzte, sondern vielmehr ihre eigene psychische Disposition. Erin Bell wird von der ihr innewohnenden Finsternis aufgezehrt und sie sucht nicht nach Erlösung, sondern vor allem nach dem Abschluss ihrer tragisch verlaufenen Geschichte. Kusama greift für DESTROYER auf eine Rückblendenstruktur zurück, die nur langsam enttarnt, was an jenem Tag vor rund 20 Jahren passierte und zum Absturz ihrer Protagonistin führte. Die große finale Enthüllung fußt auf einem sehr einfachen, aber enorm effektiven erzählerischen Kniff, der das krasse Gegenteil vom offenkundigen Gimmick des Filmes ist.

Ich liebe Polizeifilme und so hat mir auch DESTROYER sehr gut gefallen, aber es gibt durchaus Ansätze für valide Kritik abseits von Kidmans laut „Oscar“ schreiender Verwandlung. Der Film suhlt sich in seiner Abgefucktheit, kulminiert chon nach einer halben Stunde in einer Szene, in der Erin ihren im Sterbebett liegenden Ex-Komplizen abwichst, um eine Information von ihm zu bekommen, komplett mit Spucke als Lubrikation. Die Figur des Silas wird in den Dialogen so heftig aufgebauscht, dass man zwangsläufig enttäuscht ist, wenn sie dann auftaucht und sich als ziemlich gewöhnlicher Verbrecher entpuppt. Warum Kusama diesen Weg geht, ist klar, aber es mutet dennoch als den Zweck heiligende Effekthascherei an: Man könnte diese Geschichte auch deutlich nüchterner erzählen, was dann vielleicht weniger spektakulär, aber eben auch glaubwürdiger wäre. Wer von der weiblichen Perspektive eine große Neuerkenntnis erwartet, sieht sich ebenfalls enttäuscht, aber das will ich dem Film gar nicht zum Vorwurf machen: Der Polizeifilm lebt von seinen über Jahrzehnte eingeschliffenen Standards und den kleinen Varianten und in dieses Bild fügt sich eben auch DESTROYER ein, der belegt, dass man diese Geschichten auch mit einer Frau glaubhaft erzählen kann. Die Sichtung war nicht ganz einfach, weil es nahezu unmöglich ist, Kidman auszublenden. Und wenn man nicht der Meinung ist, hier eine begnadete Performance für die Ewigkeit geboten zu bekommen, dann bleibt da zwangsläufig eine Kluft. Am Ende hat mir DESTROYER aber doch ganz gut gefallen. Dieser Kniff am Ende ist toll und dass Kusama weiß, wie man inszeniert, steht auch außer Frage. Wer Lust auf bleiche, resignative Düsternis ohne jeden befreienden Humor hat, wird hier ordentlich bedient.

 

Der FBI-Beamte Craig McCall (E. Roger Michell) ist auf das verschlafene Kaff Mena, Arkansas aufmerksam geworden, weil sich in den dortigen Banken ungewöhnlich große Geldmengen anhäufen. Bei seinem Besuch in dem Nest, das lediglich aus einer einzigen Straße besteht, eröffnet sich ihm ein merkwürdiger Anblick: Gleich mehrere brandneu errichtete Geldinstitute stehen dort nebeneinander und teure Autos fahren an ihm vorbei. Man darf annehmen, dass der Agent schon viel gesehen hat, aber auch das kann nicht verhindern, dass ihm die Kinnlade runterklappt. Die Szene findet sich ungefähr zur Hälfte von Doug Limans AMERICAN MADE, der die wahre Geschichte des ehemaligen TWA-Piloten Barry Seal erzählt, der erst zum Spion des CIA und dann zum Drogendealer für das kolumbianische Kartell avancierte und außerdem eine wichtige Rolle in der Contra-Affäre spielte, bevor er von Pablo Escobar Killern umgebracht wurde, und zeigt auf wunderbar  nachdrückliche Art und Weise, welche unerwarteten, mitunter kuriosen Folgen die auf globaler Ebene vollzogenen Winkelzügen der Geheimdienste auf der Mikroebene nach sich ziehen.

Barry Seal (Tom Cruise) ist einer der jüngsten Piloten der TWA-Geschichte, ein Naturtalent, noch dazu ausgestattet mit gutem Aussehen und einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein. Sein Pilotengehalt bessert er sich mit dem Schmuggel kubanischer Zigarren auf, auf den er eines Tages in einer Flughafenbar von einem Herrn namens Schafer (Domhnall Gleeson) angesprochen wird. Der Mann ist vom CIA und er macht Seal zum Spion: Ausgestattet mit einem topmodernen zweimotorigen Flugzeug liefert Barry dem CIA in der Folge Überwachungsaufnahmen von Militärstützpunkten in Mittel- und Südamerika und betätigt sich als Bote für den panamaischen General Noriega. Bei einem Aufenthalt in Kolumbien wird er von drei „Geschäftsleuten“ namens Ochoa (Alejandro Edda), Escobar (Mauricio Media) und Rangel (Benito Martinez) kontaktiert: Die Herren, die in den nächsten Jahren als Medellin-Kartell von sich Reden machen werden, beauftragen den Piloten, für sie Drogen in die USA zu fliegen. Die Aussicht auf 2.000 Dollar pro Kilo überzeugt den Amerikaner mit der flexiblen Moral. Doch sein Nebenverdienst bleibt nicht unbemerkt. Er flieht vor der Polizei in seinem Heimatstaat Louisiana auf Geheiß Schafers nach Arkansas, wo man ihm ein 5.000 Hektar großes Grundstück samt eigenem Flugplatz zur Verfügung stellt. Während sich das Bargeld in seinem Haus türmt, gibt es den nächsten Auftrag für ihn: Weil Reagan die Contra-Rebellen in Nicaragua in ihrem Kampf gegen die Sandinistas unterstützen will, erhält Seal die Aufgabe, Waffen nach Mittelamerika zu liefern. Vor Ort stellen sich die Contras aber als nur mäßig interessiert am Widerstandskampf heraus. Viel mehr reizt sie das Geld, das sie mit kolumbianischen Drogen verdienen können, die ihnen Escobar und Co. im Tausch für die Waffen anbieten. Vollends absurd wird Seals Mission, als er die Contras zu Ausbildungszwecken nach Arkansas bringen muss: Die Freiheit des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten vor Augen, nehmen sie in Scharen Reißaus. Derweil hat Seal immer größere Probleme, sein illegales Treiben vor den Behörden geheim zu halten.

AMERICAN MADE erzählt eine unglaubliche Geschichte in einem halsbrecherischen Tempo, streckt die Paranoia-Sequenz aus Scorseses GOODFELLAS gewissermaßen auf Spielfilmlänge und bildet eine Art Gegenstück zu De Palmas SCARFACE. Wie Tony Montana steigt auch Barry Seal im Verlauf seiner Doppelagentenkarriere in absurde Höhen auf, aus denen er irgendwann zwangsläufig abstürzen muss. Der Unterschied: Während der fiktive kubanische Drogenzar Montana seinen Untergang wie ein antiker griechischer Held selbst herbeiführt, wird Seal Opfer eines schmutzigen Spiels, in dem er letztlich nur eine austauschbare Spielfigur ist. Der Geheimdienst steht ihm genau so lange zur Seite, wie er die dunklen Machenschaften, in die er verstrickt ist, noch decken kann. Anders als die unterkühlten Politik- und Spionagethriller der Siebzigerjahre, in denen abgezockte Profis ihr Handwerk unbemerkt von der „normalen“ Welt verrichten und die in den Schaltzentralen der Macht ausgeklügelten Pläne mit eiskalter Präzision ausführen, zeichnet AMERICAN MADE ein reichlich chaotisches Bild von den Geheimdiensten: Da handeln mit großer Machtfülle ausgestattete Beamten aus dem Bauch heraus auf eigene Faust, gibt es keinerlei Kontrollinstanzen, die die Arbeit der eingesetzten Kräfte auch nur ansatzweise überwachen würden, werden Maßnahmen ergriffen, ohne diese auch nur im geringsten kritisch zu hinterfragen. Wenn alles in Rauch aufgeht, sucht man das Heil in der Flucht, verbrennt alle Beweise und stellt sich dumm. AMERICAN MADE ist wahnsinnig komisch in der Protokollierung all dieser haarsträubenden Fehleinschätzungen, die sich zu einer Kettenreaktion potenzieren, deren Ende niemand mehr absehen kann: Die oben beschriebene Szene kulminiert etwa im Bild eines in Tarnkleidung gewandeten Contras, der sich auf der Hauptstraße des Südstaatennests, in dem er auffällt wie ein Eskimo am Äquator, an einem Zeitungsautomaten zu schaffen macht. Wenn man sich genau überlegt, dass AMERICAN MADE auf Tatsachen beruht (die für den Film natürlich etwas gebeugt wurden), vergeht einem das Lachen aber: Ziemlich gruselig, sich vorzustellen, dass tatsächlich so gearbeitet wurde und immer noch wird.

Eine der größten dichterischen Freiheiten, die sich der Film nimmt, ist die Zeichnung seines Protagonisten: Der echte Barry Seal war klein und übergewichtig, keinesfalls das smarte Sexsymbol, das Cruise verkörpert, darüber hinaus ohne jede Reue für seine Taten. Aber die Besetzung mit dem wahrscheinlich größten lebenden Filmstar ist natürlich goldrichtig: Cruises Seal ist kein Schurke, sondern ein verdammt gutaussehender, talentierter und charmanter Schelm, der die sich ihm bietende Chance nicht zuletzt deshalb ergreift, weil es geradezu absurd wäre, sich dieses einem Groschenroman entsprungene Abenteuer entgehen zu lassen. Und so rast Seal im Adrenalinrausch mit einem ungläubig-geflashten Dauergrinsen durch den Film, er kann einfach nicht fassen, was ihm da in den Schoß gefallen ist. Und wer wollte ihm das verübeln?

AMERICAN MADE ist großartig, intelligent, witzig, spannend, actionreich, toll gespielt, voller Überraschungen und Steigerungen und immer wieder gesprenkelt mit historischen TV-Aufnahmen, etwa von Ronald Reagan, die in diesem Kontext betrachtet geradezu absurd anmuten. Tom Cruise – für mich eh ein Gigant – beweist mal wieder, dass er der wahrscheinlich größte Schauspieler seiner Generation ist und jeden Film, in dem er mitwirkt, schon mit seiner bloßen Präsenz aufwertet. Von seinem nahezu unfehlbaren Gespür für spannende Stoffe mal ganz zu schweigen. Dann ist da dieser geile Polaroid-Look, der gleichermaßen übersättigt wie vergilbt wirkt und eine schöne Abwechslung von der entweder ganz monochromen, oft flachen oder aber comichaft übersteigerten Farbpalette gegenwärtiger Produktionen darstellt. Für mich ein Highlight meines persönlichen Filmjahres 2019 und ganz sicher einer der besten US-Filme der letzten Dekade.

 

An der Oberfläche ist REVENGE der einfache Film, den sein Titel ankündigt: Die junge, scharfe Jen (Matilda Lutz) reist mit ihrem reichen, gutaussehenden Macho-Freund Richard (Kevin Janssens) für ein Wochenende in dessen luxuriöses Designer-Wüsten-Refugium. Die beiden bekommen Gesellschaft von seinen „Geschäftspartnern“ (sprich: kriminellen Partnern) Stan (Vincent Colombe) und Dimitri (Guillaume Bouchède), mit denen Richard regelmäßig auf Jagd geht. Stan fühlt sich beim gemeinsamen Abend von der freimütigen Art Jens angemacht und vergewaltigt sie am nächsten Morgen, als Richard abwesend ist, im Beisein des wortkargen Dimitri. Als Richard zurückkommt und von Jen erfährt, was vorgefallen ist, zeigt er sein wahres Gesicht: Er bietet Jen ein Schweigegeld und ein neues Leben in Kanada an. Als sie sich verweigert, bringen die drei Männer sie um, indem sie sie von einer Klippe stoßen. Aber Jen ist nicht tot, sondern erwacht als Racheengel, der weniger kurzen als vielmehr blutigen Prozess mit den drei Chauvieschweinen macht.

Bei REVENGE handelt es sich auf Handlungsebene um einen sehr geradlinigen Vertreter des Rape-and-Revenge-Films: Er kommt in allem, was er tut, schnell zur Sache und endet in dem Moment, in dem Jen ihre Arbeit erledigt hat. Formal unterscheidet er sich aber erheblich von Genreklassikern wie I SPIT ON YOUR GRAVE, MS. 45 oder THRILLER: EN GRYM FILM. Sind diese – passend zu ihrer Entstehungszeit – meist roh, dreckig und bewusst „hässlich“ gehalten, strahlt REVENGE mit seinen perfekt durchkomponierten, hochgradig stilisierten Bildern in den prächtigsten Farben. Auffällig ist auch das Missverhältnis zwischen dem ursprünglichen Gewaltakt und der Rache: Während die Vergewaltigung üblicherweise in ebenso schonungsloser Härte dargestellt wird wie der anschließende Racheakt, um diesen zu legitimieren, findet sie in REVENGE fast komplett im Off statt. Während Stan sich an Jen vergeht, schneidet Fargeat auf den tumben Dimitri, der den Fernseher lauter stellt, um ihre Schreie nicht hören zu müssen (es läuft ein Autorennen), und dann in den Swimming Pool springt. Grafische Gewaltdarstellung hebt sich die Regisseurin für später auf: Erst wird Jen nach ihrem Sturz von einem Baum aufgespießt und läuft danach mit einem aus ihrer klaffenden Bauchwunde ragenden Aststumpf herum, den sie sich in einer Selbstoperation mit Peyote-Narkose entfernt. Dann werden ihre Peiniger zum Aderlass gebeten. In seinen Goreszenen überschreitet REVENGE mitunter ganz bewusst die Grenze zur Farce und ist in seinen grotesken Bildern nicht mehr weit weg vom wahnwitzigen Fun-Splatter eines BAD TASTE. Der Höhepunkt ist gewiss die Fußsohlenverletzung Stans, der mit mehreren Fingern in die tiefe Schnittwunde greift, um eine Scherbe herauszuziehen, während sich das Blut eimerweise über seine Hand ergießt. Ich bin bestimmt nicht der einzige, der die sexuelle Konnotation dieser Verletzung und den deutlichen Kontrast zu Jens phallischer Aufspießung gesehen hat. Es kann kein Zufall sein und ist nur ein Beispiel für die visuelle Vielschichtigkeit eines Films, der zunächst mal nur oberflächlich „stylish“ aussieht. Im Showdown, bei dem Jen dann gegen ihren Ex-Freund antritt, verwandeln sie die aseptisch anmutende, labyrinthisch verschachtelte Innenarchitektur seines Bungalows angesichts ihres massiven Blutverlustes in ein Schlachthaus, das mit sleekem Chic nicht mehr viel zu tun hat. Und auch hier läuft wieder das Fernsehgerät, preisen zwei Frauen die Konsumwunder eines Shoppingkanals. REVENGE ist nicht explizit witzig, aber seine Obsession mit offenen Wunden, Selbstverstümmelung, Blutungen und im Leib steckenden Fremdkörpern grenzt schon ans Humoristische und so tritt auch Fargeats Zorn auf Machismo und Misogynie, auf Materialismus und Kapitalismus, auf Gewalt- und Waffenfetischismus eher unterschwellig zu Tage, als dass sie ihn wortwörtlich telegrafiert.

Genauso ist ihre Erzählhaltung: REVENGE ist ein Fiebertraum, in dem wir die Innenperspektive einnehmen, anstatt verblüfft und befremdet von außen auf ihn zu schauen. Dass Jen den Sturz von einer 30 Meter hohen Klippe mitsamt folgender Aufspießung auf einem abgestorbenen Baumgerippe überlebt, ist komplett unrealistisch, trotzdem behandelt Fargeat ihre Wiederauferstehung als sei sie das normalste auf der Welt. Ich habe die ganze Zeit auf eine nachgereichte Erklärung für ihre Unverwundbarkeit gewartet, aber sie kam nicht. Die Transformation Jens zum Racheengel – weg von den strohblonden hin zu braunen Haaren, weg von den bunten Bikinis hin zur grauen Unterwäsche mit Patronengurt, weg von der makellosen hin zur Blut- und dreckverkrusteten Haut – vollzieht sich einfach so, wir müssen sie hinnehmen. Eben lutschte sie mit ihren vollen roten Lippen noch lasziv an einem Lollipop. jetzt betäubt sie sich mit Peyote, entfernt den Pflock aus ihrem Bauch und kauterisiert die Wunde mit einer aufgeschnittenen Bierdose, sodass sich deren Motiv, ein aufsteigender Phoenix auf ihre Haut tätowiert. Vorher bediente sie ihren pinkfarbenen MP3-Player, jetzt hetzt sie mit einem meterlangen Schießprügel durch die Wüste und ballert erfahrene Jäger über den Haufen.

Ich bin mir nicht ganz im Klaren, was ich von REVENGE halten soll. Er ist ein audiovisuelles Fest, das für die Zukunft einiges erhoffen lässt, aber er wirkt auch noch wie eine Fingerübung, wie das letzte Training vor der großen Generalprobe. Er klammert sich an eine erprobte Form, die er kaum modifiziert, richtet die Aufmerksamkeit eher auf das „Wie“ als auf das „Was“ und befreit sich gewissermaßen von der Aufgabe, auch noch eine interessante Geschichte erzählen zu müssen. Die Tücke steckt, wie oben erwähnt, eher im Detail, in Irritationsmomenten, die REVENGE davon abhalten, ganz zum tumben Exploiter zu verkommen, aber er nimmt die Gorebauern und Genrefans ganz gern mit. Man merkt, dass Fargeat seinem männlichen Publikum eigentlich ganz gern einen Tritt in die Eier verpassen möchte, aber sie kann sich von den Zwängen und Konventionen des Genres noch nicht ganz frei machen. Aber ich bin gespannt, was da noch kommen mag.

 

 

 

Bei Erscheinen von M. Night Shyamalans Superhelden-Dekonstruktion UNBREAKABLE stand der im Schatten des sensationellen Erfolgs von THE SIXTH SENSE – obwohl er der mit einigem Abstand bessere Film war. Die Wikipedia-Seite berichtet, dass UNBREAKABLE nur der erste Akt einer von Shyamalan erdachten Geschichte sei, doch der Regisseur dementierte nach den eher enttäuschenden Einspielergebnissen alle Gerüchte über mögliche Fortsetzungen, ohne sie jedoch ganz zerschlagen zu können. SPLIT, der zweite Teil dessen, was heute als „UNBREAKABLE-Series“ bezeichnet wird, Shyamalans Antwort auf das MCU, hätte gut und gern ein alleinstehender Film sein können, wenn da nicht mit der letzten Szene und dem Auftritt von UNBREAKABLE-Protagonist David Dunn (Bruce Willis) eine Verbindung geknüpft worden wäre. GLASS, benannt nach dem UNBREAKABLE-Superschurken „Mr. Glass“, Elija Price (Samuel L.Jackson), schließt nun vorerst den Kreis, deutet aber weitere mögliche Sequels an. Die Idee hinter der Geschichte, die so etwas wie eine intellektuelle Reflexion über die Superhelden-Idee darstellt, ist durchaus interessant, vor allem vor dem Hintergrund der in den letzten zehn Jahren vollzogenen Entwicklung des US-Eventkinos, das heute mit wenigen Ausnahmen fest in den Händen des Superheldenfilms liegt. Als UNBREAKABLE anlief, steckte das comicbasierte Superheldenkino hingegen noch in den Kinderschuhen: Erst vier Monate zuvor war X-MEN angelaufen, den man rückblickend als Initialzündung betrachten kann. Aber GLASS wird leider vom Gewicht seiner eigenen Ambitionen und Shyamalans bisweilen mangelhafter Selbstkontrolle heruntergezogen.

In GLASS werden die drei „Superhelden“ David Dunn, der als unverwundbarer und seherisch begabter Vigilant auf der Suche nach Verbrechern durch die Straßen Philadelphias zieht, der Serienmörder Kevin Wendell Crumb (James McAvoy), der einem ganzen Dutzend verschiedener Persönlichkeiten eine Heimat in seinem Kopf bietet, und der superintelligente, an einen Rollstuhl gefesselte Elija Price gefangen genommen und in eine Heilanstalt gesperrt. Die Psychologin Dr. Ellie Staple (Sarah Paulson) ist der Überzeugung, dass die drei unter einer bislang noch nicht erforschten Wahnvorstellung leiden und ihr Ziel ist es, sie davon zu überzeugen, „normale“ Menschen zu sein, die sich ihre besonderen Fähigkeiten nur einbilden bzw. rational erklärbare Vorgänge zu mystifizieren. Aber Superhirn Mr. Glass hat eigene Pläne: Er befreit sich Crumb aus seiner Gefangenschaft.

Shyamalan wirft mit GLASS mehrere spannende Fragen auf: Gibt es Superhelden wirklich? Wenn ja, worin bestehen ihre Superheldenfähigkeiten? Was unterscheidet den Helden vom Schurken? Hat nicht jeder das Potenzial, eine Superfähigkeit auszubilden? Und wenn ja: Was geschieht mit einer Welt, in der jeder Schurke oder Held sein kann? Es mangelt GLASS also ganz gewiss nicht an inhaltlichem Potenzial, wohl aber an einem Drehbuch, das diese Fragen in eine interessante Geschichte überführt, anstatt sie einfach nur in ermüdender Dialogform abzuarbeiten. GLASS ist, das muss ich leider so sagen, todsterbenslangweilig, mit einer Spielzeit von zwei Stunden viel zu lang und außerdem mit einer unangenehmen Gravitas belastet, die jede Euphorie im Keim erstickt. Die andächtige Bedeutungsschwere fällt umso unangenehmer auf, als man als Betrachter über weite Strecken des Films keine Ahnung hat, worauf Shyamalan eigentlich hinauswill: Das ist nicht zwangsläufig ein Makel, wenn der Weg zum Ziel wenigstens Spaß macht, aber leider passiert in GLASS lange Zeit einfach gar nichts. Und das zerrt zunehmend an den Nerven: James McAvoys schauspielerischer Parforceritt nervt mit jeder weiteren Szene ein bisschen mehr, bis man für jeden Augenblick ohne ihn dankbar ist. Sarah Paulson ist entsetzlich dröge als Psychologin, deren Geheimnis Shyamalan viel zu lang für sich behält. Wenn dann in der letzten halben Stunde eine Enthüllung auf die nächste folgt, ist es schon zu spät, zumal die Twists, die Shyamalan sich hier ausgedacht hat, den großen Punch seiner besten Filme vermissen lassen.

Es ist nicht alles schlecht an GLASS, aber von den guten Dingen gibt es eindeutig zu wenig: Samuel L. Jackson ist toll, wird nach Jahren, ach was, Jahrzehnten, in denen er verlässlich auf den Schwarzen reduziert wurde, der „motherfucker“ sagt, endlich einmal wieder schauspielerisch gefordert und beweist, was er leisten könnte, bekäme er die Gelegenheit dazu. Bruce Willis hat als Dunn fast nichts zu tun, aber die souveräne Entspanntheit, die er mitbringt, beatmet den schwermütigen, klumpfüßigen Film um ihn herum mit frischer Luft. Das „Biest“, McAvoys Killer-Identität ist mit aufgepumpten Muskeln, pulsierenden Venen und grollender Stimme ebenfalls eine Schau. Und ja, am Ende, wenn man dann endlich versteht, was das alles eigentlich sollte, stellt sich dann auch Spurenelementen dieses excitements ein, das man aus Shyamalans besseren Filmen kennt. Aber letztlich ist GLASS viel zu laboriert, zu sehr mit Ambitionen belastet, zu überzeugt von seiner eigenen Bedeutung und viel zu umständlich und selbstverliebt, als das dies den bestehenden Eindruck noch entscheidend ändern könnte. Ich war immer der Meinung, dass Kritiker wie Zuschauer die Bedeutung des Plottwists, der Schlussüberraschung in Shyamalans Werk überbewerten. GLASS wirkt hingegen so, als sei sein Macher selbst auf den Hype reingefallen.

 

 

35 mm #34

Veröffentlicht: September 23, 2019 in Film, Zum Lesen
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Die neue Ausgabe des 35 mm-Magazins ist draußen. Im Mittelpunkt steht ein ausführliches Columbia-Pictures-Special, u. a. mit Texten über Frank Capra, Boris Karloff, Rita Hayworth und die Noirs des Studios. Die verschiedenen Kolumnen beschäftigen sich mit Filmen wie YÖ VAI PÄIVÄ (Nordische Schätze); THE SEA BEAST (Buch & Film), TARZAN IN ISTANBUL (Europloitation), DÜRSTENDE LIPPEN (Noir Western) und PARTY WIRE (Der vergessene Film). Für meine eigene Noir-Kolumne habe ich mir Byron Haskins pulpigen TOO LATE FOR TEARS angeschaut, mit Lizabeth Scott als geldgeiler Femme Fatale. Das reich bebilderte Heft kann man wie immer hier bestellen: http://35mm-retrofilmmagazin.de/shop/

Die Texte, die ich zu ATOMIC BLONDE gelesen habe, versäumen allesamt nicht zu erwähnen, dass Regisseur David Leitch eine wichtige Rolle bei der Entstehung von JOHN WICK spielte (er fungierte als Produzent und uncredited director und brachte wahrscheinlich auch seine Erfahrung als Stuntman ein) und dass dieser Film aus derselben Kategorie stamme, die man vielleicht als „over-the-top cool & stylish comic book action“ bezeichnen könnte. Ich fand JOHN WICK ja auch ganz nett, aber ich wundere mich darüber, wie einhellig dieser noch nicht unbedingt als „Klassiker“ zu bezeichnende Actioner schon als Maßstab herangezogen wird. Es soll ja bereits vorher schon slicke Actionfilme gegeben haben. Aber vielleicht bin ich auch zu alt, um zu erkennen, wie wahnsinnig innovativ JOHN WICK war. Immerhin war er ziemlich erfolgreich, sodass wir derzeit bereits den dritten Teil bewundern können. Nun ja.

ATOMIC BLONDE basiert auf der Graphic Novel „The Coldest City“, spielt im Wendejahr 1989 in Berlin und bemüht einen visuellen Stil, den Menschen, die damals nicht dabei waren, als „Eighties-mäßig“ bezeichnen würden: Es gibt viele in Neon-Pink und -Blau getauchte Bilder, Charlize Therons Superspionin Lorraine Broughton trägt platinblonde Haare und ein „Boy London“-Shirt, die Credits werden in einer coolen Schrift im passenden Farbschema eingeblendet und Zwischentitel via Graffiti ins Bild gesprayt. Auf dem Soundtrack gibt es den Synth-Pop, den man am ehesten mit dieser Zeit assoziiert (A Flock of Seagulls, Depeche Mode,  Til Tuesday und Siouxsie & The Banshees) sowie einige NDW-Hits, die wahrscheinlich zum Schauplatz Berlin ’89 passen und nichtdeutschen Zuschauern die nötige Dosis Deutschland verpassen sollen. Offenkundig ging es bei der Zusammenstellung des Soundtracks nicht darum, das Jahr 1989 klanglich authentisch wiederzugeben, sondern Songs auszuwählen, die zum Look des Filmes passen: Letztlich eine richtige Entscheidung, wie Outlaw Vern schon feststellte, da wir uns sonst mit Songs von Kaoma, David Hasselhoff und Milli Vanilli hätten herumplagen müssen. Eighties-Hardliner liegen natürlich nicht falsch, wenn sie sagen, dass 1989 sich komplett anders anfühlte, als dieser Film behauptet, aber dann ist ATOMIC BLONDE natürlich kein Period Piece, sondern ein Actionfilm, der stylish sein möchte. Und das gelingt ihm.

Weniger gut gelingt es ihm, eine Spionagestory zu erzählen, die die gängigen Charakteristika des Genres mit echtem Leben füllt, anstatt sie einfach nur als leere Zitate zu reproduzieren (es gibt einmal einen kurzen zeitgenössischen MTV-Clip, der sich mit der Frage auseinandersetzt, inwieweit Sampling Diebstahl sei). ATOMIC BLONDE bedient sich einer einfachen Rückblendenstruktur, der seine Story als Bericht der Heldin in einer Debriefing-Sitzung mit ihrem britischen Vorgesetzten Gray (Toby Jones) und dem CIA-Mann Kurzfeld (John Goodman) erzählt, und sich damit (erfolglos) an THE USUAL SUSPECTS orientiert. Broughton hat den Auftrag, eine ominöse Liste mit allen in Berlin tätigen Agenten zurückzugewinnen, die dem KGB in die Hände gefallen ist. Ihre Kontaktperson in Berlin ist der MI6-Agent David Percival (James McAvoy), der vielleicht auf eigene Rechnung handelt oder aber der Doppelagent Satchel ist, der sowohl hinter dem Raub der List als auch hinter der Ermordung des britischen Spions James Gascoigne (Sam Hargrave, seines Zeichens berühmter Stunt Coordinator u. a. in AVENGERS: ENDGAME und AVENGERS: INFINITY WAR) steckt, der nebenbei auch der Geliebte von Broughton war. In Berlin wird Broughton sofort von KGB-Leuten aufgegriffen und ihr Aufenthalt gerät zu einer wüsten Abfolge von mit allen Mitteln ausgetragenen Scharmützeln, lesbischen Love-ins mit der französischen Agentin Delphine (Sofia Boutella) und dem Katz-und-Maus-Spiel mit Percival, der mal Verbündeter, dann wieder Gegner ist. Das Prä-Wende-Berlin wird als Spielplatz der Geheimdienste gezeichnet, mehr aber noch als Ort, an dem sämtliche geltenden Regeln dieser Geheimdienste bereits außer Kraft gesetzt sind und jeder seine eigene Agenda verfolgt. Gleichzeitig macht er immer wieder klar, dass dieses Spielchen ultimativ sinnlos ist, weil sich der vermeintliche Partner am Ende doch als Verräter entpuppt, der einem eine Kugel in den Kopf jagt. Wie die ernstzunehmenderen Vertreter des Agentenfilms aus den Siebzigerjahren oder auch ihre postmoderne Variation der MISSION: IMPOSSIBLE-Reihe spielt der Film mit der Idee, dass das Metier des Geheimdienstes zwar unter strengem staatlichen Reglement steht, letztlich aber pures Chaos ist, bei dem keiner mehr weiß, wer zu welcher Seite gehört und jeder Triumph lediglich ein kleiner Etappensieg ist. Was einst eine niederschmetternde Erkenntnis war, ist heute, in Zeiten, in denen die „Ordnung“ der sich gegenüberstehenden Blöcke von Ost und West bereits seit 30 Jahren zerschlagen ist, zum resigniert hingenommenen Status quo avanciert und ATOMIC BLONDE hat damit das Problem, ein Story zu erzählen, die im Grunde genommen selbst nur noch ästhetisches Mittel ist. Worin der große Twist am Ende liegt, habe ich nur so halb verstanden, aber eigentlich ist das auch egal. Es reicht, wenn man bemerkt, dass es einen Twist gibt.

Was aber nicht bedeutet, dass ATOMIC BLONDE nicht sehenswert wäre: Ich kenne die zugrundeliegende Comic-Vorlage nicht, aber der Look des Films ist perfekt. Nahezu jedes Bild möchte man sich an die Wand hängen und versuchte man, eine Screenshot-Sammlung zusammenzustellen, müsste man den Auslöser im Sekundentakt drücken. Es gibt schöne Ideen wie jene, einen Fight vor einer Kinoleinwand stattfinden zu lassen, auf der Tarkowskijs STALKER läuft, die die Liste der Zitatenquelle um einen etwas exotischeren Beitrag bereichern, und Charlize Theron ist einfach großartig. Die Wandlung von der Diva, die in mäßig interessanten Filmen gut aussah, über die furchtlose Darstellerin in Filmen wie MONSTER hin zur Actionheldin in MAD MAX: FURY ROAD und eben ATOMIC BLONDE ist beeindruckend. Die langen Takes, in denen die großartig choreografierten Kämpfe inszeniert sind, erlauben keine Trickserei und doch ist sie absolut überzeugend, wenn sie sich da mit gedungen Meuchelmördern in halsbrecherischen Keilereien misst. Höhepunkt ist ein mehrminütiger, ohne Schnitt gedrehter Kampf in einem Wohnhaus, der sich vom Treppenhaus bis in diverse Appartements erstreckt und in dem unter Einsatz aller greifbaren Mittel gefightet wird, bis sich am Ende zwei blutende, keuchende Profis gegenüberstehen, die sich kaum noch auf den Beinen halten können. Anders als der genannte JOHN WICK gibt es hier keine überstilisierten Ballette zu bestaunen, sondern brutale brawls, in denen es nicht um Eleganz geht, sondern nur darum, dem anderen möglichst großen Schaden zuzufügen und möglichst lange auszuhalten. Man ist geneigt, anzunehmen, dass zumindest einige der nur unzureichend überschminkten blauen Flecken und Schrammen, die Theron zeigt, echt sind. (Kleiner Bonus: Einer der Gegner von Theron ist Daniel Bernhardt, Star der BLOODSPORT-Sequels und damit ein echter Actiongülle-Veteran.) Wenn ATOMIC BLONDE auch kein Film für die Ewigkeit ist, diese eine Sequenz ist Stoff für die Actionfilm-Geschichtsbücher. Es hätte gern mehr davon sein dürfen, denn hier zeigt der Film eine Meisterschaft, die er auf inhaltlicher Ebene vermissen lässt. Leitchs Film macht Spaß, aber er nimmt sich leider eine ganze Nummer zu Ernst für das, was er tatsächlich zu sagen hat.

 

 

 

Das ist es also, das große Finale, der Schlusspunkt unter ein Projekt, das 19 Filme in elf Jahren umfasste und dabei zu einem Moloch anwuchs, der das Kino wie wir es kennen, nachhaltig verändert hat. Nichts ist heute noch so wie in 2008, als mit IRON MAN und THE INCREDIBLE HULK die ersten beiden Filme des MCU erschienen. Wie das kommerzielle Kino der Zukunft aussehen könnte, lässt sich derzeit kaum erahnen, auch nicht, wie es mit dem MCU weitergehen wird. Der Bedarf muss ja irgendwann gesättigt sein, aber Disney und Marvel regieren derzeit mit eiserner Hand und werden ihre Vormachtstellung gewiss nicht kampflos aufgeben. Aber ob die kommenden neuen Filme um eher unbekannte Namen ähnlich Zugkraft entfalten wie die in ENDGAME verabschiedeten Zugpferde Iron Man und Captain America?

Ich habe mich hier in den letzten Jahren zunehmend als Kritiker der Marvel-Filme geäußert, als jemand, der den Superheldencomics mit Sympathie gegenübersteht, aber von ihrer Umsetzung zunehmend enttäuscht und gelangweilt, von der Kritiklosigkeit, mit der sie von ihrem Publikum empfangen wurden darüber hinaus mehr als nur ein wenig genervt war. Ich hatte immer das Gefühl, die Filme verlassen sich allzu sehr darauf, dass es den Comicfans schon reicht, möglichst viele ihrer Helden in einem trick- und produktionstechnisch aufwändigen Spektakel auf der Leinwand zu sehen: Wozu sich also noch lang damit aufhalten, wirklich überzeugende Filme zu inszenieren, mit Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden, und die nicht nur gemacht werden, um ein Franchise am Leben zu halten? AVENGERS: ENDGAME deutet in seinen besten Momenten und Passagen an, wie eine solche Geschichte um die Superhelden aussehen könnte. Aber wer behauptet, dass es zwingend nötig war, über die schon erwähnten elf Jahre und rund 20 Filme auf dieses Finale hinzuarbeiten, der hat von Storytelling keine Ahnung. Zugegeben: Es ist nicht ohne Reiz, dass hier Handlungsfäden zusammenlaufen, die zum Teil vor Jahren aufgenommen worden waren oder dass hier Figuren auftreten, die man seit Jahren nicht mehr gesehen hat, aber letztlich ist das nur ein Gimmick, Zierrat. Ob man Thors in THOR: THE DARK WORLD verstorbene Freundin Jane Foster (Natalie Portman) hier noch einmal in einem wortlosen Zehn-Sekunden-Cameo sieht oder nicht, ist für den Film und die Geschichte selbst natürlich völlig unerheblich.

Aber ich wollte nicht nur lästern: Die Geschichte, die ENDGAME erzählt, ist zunächst mal interessant. Nachdem Thanos (Josh Brolin) die Hälfte der Lebewesen des Universums ausgelöscht hat, sind fünf Jahre ins Land gezogen, in denen die geschlagenen Wunden immer noch nicht verheilt sind. Thanos ist tot, stirbt in einer ziemlich unangenehmen Racheszene, die die Avengers nicht im allerbesten Licht dastehen lässt, sondern sie eigentlich als feige Mörder zeigt, aber der Versuch, die Opfer durch einen Rückgewinn der Infinity Stones wiederzubeleben, scheitert daran, dass Thanos selbst sie zuvor vernichtet hat. Eine Zeitmaschine müsste her, denn mit ihrer Hilfe könnte man die Infinity Stones aus der Vergangenheit in die Gegenwart holen, sie benutzen, um den Massen-Genozid rückgängig zu machen und sie dann vernichten. Eine mögliche Lösung tut sich auf, als Scott Lang (Paul Rudd) aus dem Quantenraum zurückkehrt (in den er in ANT-MAN AND THE WASP geraten und dort verloren gegangen war).

ENDGAME gliedert sich in vier große Abschnitte: die Einleitung, eine erstaunlich deprimierende Bestandsaufnahme, die folgende Rekrutierung der mittlerweile in alle Himmelsrichtungen verstreuten Avengers, das Zeitreiseabenteuer, das seinerseits in mehrere Missionen geteilt ist, und die große Schlacht am Ende. Seine besten Momente hat der Film in den mittleren beiden Teilen, die zum einen eine hübsche Weiterentwicklung der „arbeitslos“ gewordenen Superhelden zeigt, mit unter anderem Thor (Chris Hemsworth) als bierbäuchigem Hängertypen, zum anderen ein Wiedersehen mit Szenarien aus zurückliegenden Filmen ermöglicht, die man nun aus anderem Blickwinkel und verkompliziert um typische Zeitreiseparadoxien sieht. Endlich, endlich zeigt sich dann einmal, welches erzählerische Potenzial ein „Cinematic Universe“ wirklich mit sich bringen könnte, wenn die Backstorys der einzelnen Charaktere ihr gegenwärtiges Handeln bestimmen, Szenen aus unterschiedlichen Filmen miteinander in einen Dialog treten, aus dem dann auch tatsächlich etwas Neues hervorgeht. Trotzdem treten auch hier wieder Mängel auf, die immer wieder auch daran zweifeln lassen, dass da ein Mastermind seit 2008 an einem zusammenhängendem Narrativ werkelt: Die Begegnung von Hulk (Mark Ruffalo) und The Ancient One (Tilda Swinton) aus DOCTOR STRANGE wirkt hoffnungslos lazy, was sich nur damit erklären lässt, dass hier vor allem ein zukünftiger Storystrang angetriggert werden soll. Für den Betrachter, der sich heute noch nicht für in drei Jahren nachgereichte Erklärungen interessiert, sondern in erster Linie für die Schlüssigkeit des Films hier und jetzt, ist diese Masche immer noch schwer zu schlucken.

Auffallend auch, dass ENDGAME auf den letzten Metern deutlich die Luft ausgeht: Ich bin bei die finalen Scharmützel dann auch eingepennt. Was der Höhepunkt sein sollte, ist ein lebloses Spektakel aus dem Computer, in dem jeder Avenger seine 15 Sekunden bekommt, während der er seelenlose Avatare in die ewigen Jagdgründe befördern darf. Boring. Überhaupt: Bin ich der einzige, der findet, dass ENDGAME wie schon INFINITY WAR zuvor fürchterlich leblos wirkt? Die Menschheit, für die ich die Helden da angeblich einsetzen, spielt kaum eine Rolle, man hat eigentlich nie das Gefühl, dass sich das alles auf unserem Planeten abspielt. Der Film ist so sehr damit beschäftigt, die Dutzenden von Plotlines zu einem befriedigenden Ende zu bringen, dass keine Zeit bleibt, mal einen Moment atmen oder sich entwickeln zu lassen. Ich räume aber gern ein, dass mich dieser erste Zyklus auf de letzten Metern wieder etwas versöhnt hat. Ich würde mir einfach wünschen, dass man sich in der Zukunft ein bisschen mehr traut und wegkommt von diesen ultrasimplen Storylines, in denen die Helden einem blöden MacGuffin nachjagen und egale Schurken besiegen. Mal sehen.

Der Tierhorrorfilm ist nicht kaputtzukriegen. Sharxploitation ist mittlerweile ein eigenes Subgenre, ganz ähnlich verhält es sich mit Filmen über Krokodile, Piranhas, Riesen- oder Giftschlangen und Spinnen. Bären kommen als Monster hingegen eher selten vor: William Girdlers GRIZZLY fällt natürlich ein, aber sonst wird Meister Petz eher als Zwischengegner in Abenteuerfilmen wie THE REVENANT, THE EDGE oder auch SHOOT TO KILL eingesetzt. Über die Gründe kann man spekulieren, ich würde mal vermuten, dass sie darin zu suchen sind, dass Bären zum einen eher positiv konnotiert sind, Bärenattacken zum anderen tricktechnisch nicht eben leicht umzusetzen: Während früher Dutzende von Hai-, Krokodil-, Piranha- und Krakenfilme damit davonkamen, Archivmaterial mit Bildern wild im Wasser plantschender Menschen zu verbinden, funktioniert das mit Bären deutlich weniger gut. Umso bemerkenswerter, dass Adam MacDonald das Kunststück gelungen ist, mit bescheidenden Mitteln einen verdammt zupackenden Bärenfilm zu drehen. Bei mir rannte BACKCOUNTRY gewissermaßen offene Türen ein, denn der Film verbindet gleich mehrere Elemente, die mir todsicher ein Frösteln bescheren: er bedient die Angst, in der menschenleeren Weite der Wildnis verlorenzugehen, von einer reißenden Bestie verschlungen zu werden und grausam zu sterben, ohne eine Spur zu hinterlassen.

BACKCOUNTRY begleitet das Pärchen Jenn (Missy Peregrym) und Alex (Jeff Roop) bei einer Wandertour in die endlosen Wälder Kanadas. Er war schon häufiger dort und gibt sich der skeptischen Freundin gegenüber als erfahren aus, sie hat eigentlich keine Lust auf die ganze Sache, seinem Drängen aber schließlich nachgegeben. Schon früh mehren sich die Zeichen für Spannungen: Als sie einem Führer begegnen (Eric Balfour) und sie ihn zum Abendessen einlädt, brodelt Alex vor Eifersucht. Dann beginnt ihm sein Zeh Probleme zu bereiten, den er sich direkt zu Beginn des Trips verletzt hat. Als die beiden am vermeintlichen Ziel angekommen sind – wo er ihr einen Heiratsantrag machen will – stellen sie fest, dass er mit seiner Kenntnis der Gegend deutlich übertrieben hat und sie sich hoffnungslos verirrt haben: Und sie haben weder Karte, noch Kompass oder Telefon dabei. Wasser und Proviant sind rar, doch das ist nicht das Schlimmste: Ein gefräßiger Bär ist ihnen auf der Spur.

Es dauert eine ganze Stunde, bis der Bär zum ersten Mal in voller Gestalt in Erscheinung tritt, aber trotzdem verschwendet MacDonald bis zu diesem Zeitpunkt keine Sekunde. Die Spannung brodelt unterschwellig vor sich hin, die Wälder werden weniger in idyllischer Pracht eingefangen, sondern in herbstlicher Tristesse. Alles sieht gleich aus, unwirtlich und gleichgültig gegenüber den Menschen, die sich hierhin verirren. Als Betrachter folgen wir keinem in romantischer Liebe entbrannten Pärchen, sondern zwei Menschen, zwischen denen eine unsichtbare Barriere steht. Als die beiden mit der Tatsache konfrontiert sind, völlig auf sich gestellt zu sein, bricht es aus Jenn heraus: Er sei ein Versager, ein Angeber, der sich immer beweisen müsse. Was eigentlich das Ende ihrer Beziehung sein könnte, wird dann bezeichnenderweise zu einem Neuanfang. Aber der kommt zu spät. Die Bärenattacke ist kurz und heftig: Nachdem das Tier zuvor schon einmal von ihnen unbemerkt das Zelt beschnüffelt und ihren Proviant gefressen hatte, greift er sie schließlich an. MacDonald nutzt die Inszenierungstechniken des Found-Footage-Films, eine Handkamera, die Bestandteil der Szenerie zu sein scheint und im Eifer des Gefechts schon einmal ihr Motiv aus dem Fokus verliert. So wird natürlich auch die Tatsache kaschiert, dass da wahrscheinlich mit einem Prop gearbeitet wurde, das einer genaueren Betrachtung nicht standgehalten hätte. So krallt man sich zwangsläufig im Sessel fest: Wie da einer der Protagonisten seiner ewigen Bestimmung zugeführt wird, als ausgehöhltes, blutiges Abendessen im Dreck endet, mit einer feuchten Bärenschnauze in den dampfenden Eingeweiden, ist schon ein ziemlich derbes Ende für eine Figur, der man bis dahin eine Stunde lang auf Schritt und Tritt gefolgt ist. Aber die Art und Weise, wir MacDonald seine Geschichte erzählt ist cleverer, als dass man ihr damit gerecht würde, sie lediglich als Resultat ökonomischer Limitierungen zu begreifen oder sie auf einen Schlag in die Nieren zu reduzieren. Üblicherweise stilisiert der Tierhorrorfilm seine Monster zu intelligenten und unbesiegbaren Bestien (man denke nur an die Sequels zu JAWS, in denen der Hai eine echte Vendetta gegen die Familie Brody führt und sie geradezu verfolgt): Die Protagonisten werden belagert, immer weiter in die Enge gedrängt und schließlich dazu gezwungen, alles in die Waagschale zu werfen, um ihren tierischen Gegner zu besiegen. In BACKCOUNTRY ist das völlig anders: Der Bär ist einfach ein Bär, der zufällig den Weg der beiden Wanderer kreuzt und MacDonald verzichtet auf jegliche Dämonisierung. Als das Tier zum Angriff übergeht, lässt das Kräfteverhältnis halt einfach keinen Zweifel daran, wer den Kürzeren zieht. Demnach gibt es auch keinen Bossfight am Ende: Für die überlebende Jenn liegt das Heil einzig in der Flucht – und der Bär legt keine gesteigerte Motivation an den Tag, ihr lang nachzurennen, schließlich gibt es noch anderes Futter. BACKCOUNTRY ist weniger ein Tierhorror-, als vielmehr ein ziemlich bitterer, realistischer Abenteuerfilm über die Unbarmherzigkeit der Natur. Als solcher wirkt er ausgesprochen nachdrücklich: Verträumten Naturromantikern verpasst er einen ordentlichen Denkzettel. Ich bin eh kein Campingfreund, aber nach BACKOUNTRY noch weniger.

us (jordan peele, usa 2019)

Veröffentlicht: September 19, 2019 in Film
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Mit GET OUT widmete sich Regisseur Jordan Peele noch ziemlich explizit der Frage, inwiefern die alten Strukturen der Sklaverei in den zwischenmenschlichen Beziehungen von Weißen und Schwarzen auch heute noch in den USA lebendig sind, und schuf daraus einen schwarzhumorigen (no pun intended) Horrorfilm, der auch gut als Beitrag zur klassischen TWILIGHT ZONE-Serie durchgegangen wäre. Auch in US verbindet Peele gesellschaftskritische mit satirischen Tönen in einer diesmal allerdings komplexeren und in der Ausführung nicht mehr ganz so zwingenden Versuchsanordnung.

Als Kind wurde Adelaide (Lupita Nyong’o) schwer traumatisiert: Bei einem Kirmesbesuch stahl sie sich von ihren Eltern davon und landete in einem Spiegelkabinett, in dem sie zu ihrem Schrecken ihrem gespuckten Ebenbild begegnete. Jahrzehnte später ist sie mit Gabe (Winston Duke) verheiratet und Mutter von Zora (Shahadi Wright Joseph) und Jason (Evan Alex). Im gemeinsamen Urlaub wird die Familie abends plötzlich von Doppelgängern überfallen. Mit Gewalt gelingt ihnen die Flucht, aber sie müssen feststellen, dass ihnen dieses Schicksal nicht als einziges widerfahren ist: Das ganze Land wird von Doppelgängern überrannt, die bestrebt sind, den Platz der „Originale“ zu übernehmen.

Wie schon in GET OUT zeigt Peele große Meisterschaft in der minutiösen visuellen Gestaltung seines Films. Da wird nichts dem Zufall überlassen und eine erstaunlicher Spagat bewerkstelligt: So aufgeräumt und clean die Kompositionen auch anmuten, bei genauerem Hinsehen sind sie mit kleinen Details, Hinweisen und Zitaten geradezu überhäuft. Das beginnt schon während der Exposition, die das traumatische Ereignis aus Adelaide Kindheit bebildert und ein Thriller-T-Shirt als wichtige Requisite verwendet. In der Titlesequenz wird man mit dem Bild einer Wand von Kaninchenkäfigen konfrontiert, dessen Bedeutung erst eine gute Stunde später aufgelöst wird. Spielbergs JAWS wird gleich doppelt zitiert, einmal auf einem T-Shirt, das Sohnemann Jason trägt, dann in einer dem Vorbild nachempfundenen Szene am Strand. Es ist auch bestimmt kein Zufall, dass jemand dieses Namens ständig eine Maske mit sich herumträgt, genauso wenig wie die Präsenz eines C.H.U.D.-VHS-Tapes in einem Regal: US spiegelt das Untergrund-Thema des liebenswerten Eighties-Kulthorrorfilms. Das Slant Magazine weist in seiner Rezension außerdem auf eine Reminiszenz an Philipp Noyce‘ Thriller DEAD CALM hin, die ich leider nicht verifizieren kann. Das Spiel mit popkulturellen Versatzstücken setzt sich auch auf dem Soundtrack fort, auf dem der Song „I got 5 on it“ der Bay-Area-Rapper Luniz eine wichtige Doppelrolle zukommt. Einen eher humorvollen Einsatz erhalten hingegen die Rap-Revoluzzer von N.W.A., deren Skandalsong „Fuck the Police“ gespielt wird, weil ein Alexa-artiges Gadget die Aufforderung von Nachbarin Kitty (Elisabeth Moss) falsch versteht: Die will nämlich eigentlich einen Notruf absetzen.

US ist am stärksten, wenn er sich auf die subkutane Wirkung seiner Inszenierung und Bilder verlässt: die kleine Adelaide, die auf der Kirmes von Eindrücken bestürmt wird; die Mutter, die sich im Urlaub einfach nicht entspannen kann, weil sie spürt, dass da etwas nicht stimmt; die vier reglosen Schatten in der Einfahrt; sinnlose Morde von aus dem Nichts auftauchenden Doppelgängern. Peeles Film ist nicht arm an unheimlichen und spannenden Bildern und der Regisseur versteht es ohne Frage, eine Atmosphäre trügerischer Ruhe aufzubauen, diese dann mit Details zu durchkreuzen, die nur ein kleines, aber entscheidendes Bisschen neben der Spur liegen, schließlich die Katastrophe einbrechen zu lassen. Aber das reicht ihm eben nicht, er möchte dem Betrachter mehr mitteilen. Und hier gerät US dann ins Stocken, weil der Film überfrachtet wirkt und vor lauter Gesellschaftskritik und cleverer Zitate sowohl die Stringenz als auch die emotionale Resonanz vernachlässigt. Am Ende schien mir der Film zu aufgeblasen oder wenigstens zu umständlich für das, was er zu sagen hat. Vielleicht habe ich ihn auch nicht verstanden, was aber letztlich auf dasselbe hinausläuft.

US überführt die fraglos brandaktuelle Kritik an der Ausbeutung der Dritten durch die Erste Welt (oder, weniger geopolitisch ausgedrückt, der Unterprivilegierten durch den saturierten Mittelstand und die Oberklasse) in eine griffige Parabel: Die Doppelgänger sind geknechtete Wesen, die es satt haben, in ihrem unterirdischen Kerkersystem zu hausen, und etwas vom Wohlstand ihrer Zwillinge da oben abhaben wollen. Dass es unsere Ebenbilder sind, die uns zu Leibe rücken, soll wohl verdeutlichen, dass „wir“ uns von „denen“ nicht unterscheiden, aber trotzdem wirkt die Metapher schrecklich überstrapaziert. Hinzukommt, dass viel Potenzial fahrlässig verschenkt wird: Der Mord an ihren Ebenbildern fällt den Protagonisten erschreckend leicht, eigentlich spielt es gar keine Rolle, dass ihre Todfeinde dieselben Gesichter wie sie tragen. Auch zu der Erkenntnis, die etwa am Ende eines Selbstjustizfilms wie Cravens LAST HOUSE ON THE LEFT steht, nämlich dass „wir“ eigentlich deutlich grausamer als die vermeintlichen Eindringlinge sind, kommt Peele nicht. Ähnliches gilt für den „Twist“ am Ende: Er ist toll (da widerspreche ich vielen meiner Kollegen), aber Peele weiß nichts mit seinen Implikationen anzufangen. Er wirft viele Ansätze und Interpretationsmöglichkeiten in den Raum, ohne sie zu letzter Konsequenz auszuformulieren. US fehlt auf erzählerisch-konzeptioneller Ebene der Feinschliff, den Peele ihm auf formaler Ebene ohne Zweifel zukommen ließ.