Archiv für Januar, 2020

Episode 72: Drei Brüder (Theodor Grädler, Deutschland 1974)

Der Besitzer eines Spirituosenladens stirbt nach einem Überfall auf sein Geschäft mit einer Schädelverletzung. Das Letzte, was er sagen kann, ist: „Der Jork war’s.“ Doch es gibt drei Jorks, die Brüder Albert (Horst Frank), Heinz (Ralf Schermuly) und Bertram (Manfred Seipold) und alle wollen zur Tatzeit zusammen in ihrer gemeinsamen Wohnung Skat gespielt haben. Bewegung kommt in die verfahrene Situation, als Keller und sein Team Spuren einer Frau in der Wohnung der Jorks finden: Offensichtlich war die Bardame Olga (Evelyn Opela) bei ihnen, als der Mord geschah. Zwar halten die Vier dicht, doch Keller weiß, dass er nur hartnäckig genug bohren muss, bis die Mitwisser umfallen.

In DREI BRÜDER wird der bereits 1973/74 einsetzende, schleichende Übergang zu DERRICK sehr evident, denn die Zermürbungstaktik, die Keller, Heimes und Grabert fahren, erinnert sehr an die Masche, die dem Oberinspektor später so oft zum Erfolg verhelfen sollte. Mit sichtlicher Schadenfreude hängen die Kriminalbeamten in der Nähe der Verdächtigen herum, ganz genau wissend, dass ihre bloße Anwesenheit reicht, um sie nervös zu machen. Und so ist es dann ja auch. Keller hat absolut Recht mit seiner Einschätzung: Der Schweigepakt, den die drei Brüder zusammen mit Olga geschlossen haben, ist für den Täter leicht zu halten, doch für die drei, die ihn decken müssen, wird der Druck irgendwann zu groß werden. Horst Frank ist, wie wir längst wissen, geboren für diese Typen, die nichts aus der Ruhe bringt, die geradezu dazu geboren sind, krumme Dinger zu drehen und die Polizei an der Nase herumzuführen. Und Ralf Schermuly steht hier noch am Anfang an einer langen Karriere, in der er wieder und wieder den schwitzig-nervösen Mörder spielen sollte. Dazu gibt es , gewissermaßen als Bonus, die bezaubernde Evelyn Opela, Wolfgang Völz als Barkeeper und Antje Weissgerber als trauernde Witwe, die den Jorks mit Kopftuch und Handtasche auflauert und sie immer wieder fragt „Haben Sie meinen Mann ermordet?“

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Episode 73: Tod eines Landstreichers (Jürgen Goslar, Deutschland 1974)

In der Nähe eines Gasthofes wird die Leiche eines Landstreichers aufgefunden, den man am Vorabend erschlagen und dann am Fundort abgeladen hatte. Keller und Co. machen drei Leidensgenossen des Mannes ausfindig – Kamann (Hans Schweikart), Pock (Klaus Schwarzkopf) und Lumm (Walter Kohut) -, die berichten, ihr Freund habe ein Huhn stehlen wollen und sei dann nicht zurückgekommen. Im Gasthof von Eberhard Scherf (Paul Dahlke) fällt nicht nur das seltsame Verhalten des Inhabers und seiner Familie auf, die auffallend geduldig mit den drei munteren Landstreichern sind, die hauseigene Metzgerei macht das Gebäude auch zu einem verlockenden Ziel für Hungrige.

Eine schöne Episode, die sich durch den unvorhersehbaren Verlauf, das muntere Zusammenspiel der drei Landstreicher Schweikart, Schwarzkopf und Kohut sowie den insgesamt verständnisvollen und versöhnlichen Tonfall auszeichnet, der einen schönen Kontrast zu Reineckers sonstigen Abrechnungen darstellt. Zwar gibt es wieder die bekannten Tricks und Wendungen, die Lügen und falschen Alibis, die zum Inventar der Serie gehören, aber letztlich ist der gesamte Fall vor allem hochgradig tragisch. Bei der Charakterisierung der drei Vagabunden und ihrem Rapport hat der Autor sich viel Mühe gegeben und die Akteure danken es ihm mit Darbietungen, denen man die Freude anmerkt, die sie dabei hatten, die Figuren zum Leben zu erwecken. In einer Nebenrolle ist Walter Sedlmayr zu sehen.

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Episode 74: Mit den Augen eines Mörders (Theodor Grädler, Deutschland 1974)

Die Schülerin Eva Wechsler (Susanne Uhlen) kommt nach der Schule nicht nach Hause. Am nächsten Tag findet man sie tot auf, erwürgt. Ihre Spur verliert sich nach einem Treffen mit ihrer besten Freundin (Simone Rethel), mit der sie an den Französisch-Hausaufgaben verzweifelt war. Hauptverdächtiger ist der Musiklehrer Voß (Michael Heltau), der für das Mädchen schwärmte – und seine Zuneigung wohl auch erwidert fand.

Was wäre DER KOMMISSAR ohne Altherrenschmier und unangenehme Ambivalenz? Hier ist es das Geständnis des Lehrer, zwar in Eva verliebt, aber sich doch der Implikationen doch bewusst zu sein. Er will warten, bis sie mit der Schule fertig ist und sie erklärt sich einverstanden. Das ist wahrscheinlich der nüchterne Weg, mit dem Problem umzugehen, aber so ganz zufriedenstellend ist das trotzdem nicht. Gleichaltrige jugendliche Liebespaare kommen bei Reinecker nur am Rande vor, dafür sehen sich die Mädchen bei ihm auffallend oft den Avancen älterer Herren ausgesetzt. Und natürlich sind es immer ganz besondere Mädchen, denen das passiert, damit wir auch die Zwickmühle verstehen, in denen sich seine verschwitzt-geilen Herren da befinden. Susanne Uhlen hat nicht viele Szenen, aber in einer davon wirft sie sich ihrem Lehrer angetrunken (selbstverständlich Whisky), mit verführerischem Schlafzimmerblick und kurzem Schulmädchenrock an den Hals, das kleine Luder. Ich finde diese Episoden mittlerweile ja fast am besten, weil sie die ganze Verlogenheit des Bürgertums und seine gähnenden Abgründe in den Vordergrund holen, ohne sich dabei selbst der Objektivität verdächtig zu machen. Es dampft und brodelt nur so.

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Episode 75: Im Jagdhaus (Gottfried Reinhardt, Deutschland 1974)

Im Sommerhaus der Familie Schenk wird ein Toter gefunden: Es ist Paul Schenk (Harry Meyen), der Bruder und Geschäftspartner von Alwin (Herbert Fleischmann): Er war in das Haus gefahren, um dort seine Schwägerin Eva (Ursula Lingen), mit der er ein Verhältnis hat, davon zu überzeugen, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. Neben den Töchtern Helga (Eleonore Weisgerber) und Sabine (Sabina Trooger) ist auch Barek (Klaus Herm) im Haus, ein Angestellter der Schenks, der sich dort ein Wochenende entspannen sollte.

Reinecker kopiert sich selbst, was nicht weiter schlimm ist, in diesem Fall aber besonders auffällig, schließlich liegt die Episode, bei der er sich großzügig bedient, „Domanns Mörder“ noch nicht allzu lang zurück. Hier wie dort zeigt eine feine Bürgerfamilie im Angesicht des Todes ihre hässlichen Seiten. Die Schenks – die davon ausgehen müssen, dass einer von ihnen der Mörder ist, und dies auch tun – decken sich ohne Zögern und schieben den Verdacht auf den armen Barek, dem der auf biedere Waschlappen abonnierte Klaus Herm seinen verdatterte Hundeblick leiht. Das ist durchweg unterhaltsam, ohne wirklich spektakulär zu sein. Am außergewöhnlichsten an der Episode ist wahrscheinlich der Score von Eugen Thomas, der dem lang Prolog eine ganz eigene Stimmung verleiht.

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Episode 76: Sein letzter Coup (Helmuth Ashley, Deutschland 1974)

Vor einem Polizeirevier wird en Toter abgeladen: Es handelt sich um einen bekannten Spitzel. Er hatte von einem „großen Ding“ erfahren, dass „Der Professor“ (Peter Lühr) nach seiner Haftentlassung plant. Zusammen mit seinen Leuten (u. a. Peter Vogel, Walter Buschhoff, Günther Stoll) will er einen Geldtransporter ausrauben. Keller und seine Leute finden heraus, wann das Ding steigen soll.

Eine schöne Abwechslung von den vielen bürgerlichen Eifersuchts-, Gier- und Affektmorden, die die Serie in dieser Zeit bestimmen und schon einen Vorgeschmack auf Reineckers modus operandi bei DERRICK ermöglichen. Hier also mal wieder eine richtige Milieugeschichte mit Berufsverbrechern, einem alternden Gentleman-Gauner, den mit Keller wenn schon keine freundschaftliche, so doch eine respektvolle Beziehung verbindet, und einem Nachtclub mit zitternder Garderobendame (Eva Pflug) und schwarzer Soulröhre, Gaststar Donna Hightower, die aber leider die hüftsteife Weißbrotversion von RnB mit ihrer Stimme begleiten muss. Keller und Kollegen stellen sich ziemlich dusselig an, vor allem Grabert, dem das Geld förmlich unter dem Hintern weggeklaut wird, macht keine gute Figur und am Ende ist es nur des Professors Kinderliebe, die ihm ein Bein stellt. Eine schöne Episode.

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Episode 77: Ohne auf Wiedersehen zu sagen (Jürgen Goslar, Deutschland 1974)

Ein junges Mädchen aus dem Ruhrgebiet wird tot in einer Münchener Kiesgrube aufgefunden. Sie war zusammen mit einer Freundin vor einigen Wochen von zu Hause abgehauen, mit dem Ziel Hamburg. Der Vater (Heinz Reincke) der – wahrscheinlich – noch lebenden Franziska stürzt sich mit dem Kommissar und seinen Leuten ins Schwabinger Nachtleben, nachdem sie den Studenten Achim Merk (Bernd Herberger) ausfindig gemacht haben, bei dem die Mädchen einen Monat lang untergekommen waren. Er scheint mehr zu wissen, als er zugibt,

Erneut eine schöne Milieuepisode, von Jürgen Goslar mit Drive inszeniert. Zum ersten Mal kommt auch Elmar Wepper als Harrys Bruder Erwin über die Statistenrolle hinaus. Die Szenen, in denen er mit Reinckes verzweifeltem Vater in diversen Schwabinger Kneipen und Nachtklubs abtaucht, atmen noch einmal den Hauch des deutschen Sleaze, den man aus dieser Zeit zu schätzen weiß. Super der Kommentar, als die beiden in einem zwielichtigen Etablissement namens „Podium“ landen: „Das ist ja mal ein eindeutiger Laden!“ Die Blicke der Schläger, Loddels und Nutten, die da rumstehen sind Gold wert und so verräterisch, dass sie auch Schilder mit der Aufschrift „Ich weiß was!“ tragen könnten. Reincke gibt alles, läuft „Franziska“ rufend und gegen die Türen polternd durch die Räumlichkeiten des Puffs und der rückgratlose Merk wird rehabiltiert, als er den Mörder (Wolfgang Wahl) in einem erbitterten Faust-und-Messerkampf bezwingt. Sehr putzig dabei der Moment, in dem das Licht erlischt und der Verbrecher – trotz erkennbar guter Sichtverhältnisse – blind herumtappt.

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Episode 78: Schwierigkeiten eines Außenseiters (Michael Braun, Deutschland 1974)

Helmut Domrose, Besitzer eines Schnapsladens im Erdgeschoss eines Merhfamilienhauses, wird von einem Einbrecher aufgeschreckt und totgeschlagen. Seine ungeladene Waffe sowie die Tatsache, dass der Täter durch eine Tür entkam, die eigentlich immer abgeschlossen ist, lassen eigentlich nur den Schluss zu, dass Domrose Opfer eines Anschlags wurde. Der Verdacht fällt schnell auf Theo Klinger (Raimund Harmstorf), einen Proleten, der mit dem Schnapsverkäufer im offenen Clinch lag, wegen seines lauten Motorrads bei allen Mietern verhasst ist und mit seinem alkoholkranken Vater zusammenlebt.

Harmstorf im Heinz-Klett-Modus macht die Episode. Mit Nickel-Sonnenbrille, kniehohen Stiefeln, Lederhose und Schlangenlederjacke über dem Unterhemd gibt er ein Bild für die Götter ab, dazu hat er für die bürgerlichen Langweiler in seinem Haus nur unverhohlene Verachtung übrig. Ganz anders ist er zu seinem Vater, einem ganz armen Tropf, den er in einer Superszene nach dem Schweinebratenessen unter den Armen packt und auf den Sozius seines Bikes hebt wie ein Papa seinen kleinen Sohn. Die Auflösung ist clever konstruiert, auch wenn die Identität des Mörders keinen, der die Serie von Anfang an verfolgt, überraschen dürfte. Mit Dirk Dautzenberg feiert ein Akteur seine Premiere, der später noch DERRICK bis in die Neunzigerjahre treu bleiben sollte.

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Episode 79: Jähes Ende einer interessanten Beziehung (Theodor Grädler, Deutschland 1974)

Der junge Mann Strassner (Vadim Glowna) wird vor der Tür seines Mietshauses erschossen als er auf dem Weg ist, sich mit Studienrätin Kämmerer (Johanna von Koczian) zu treffen, mit der er ein Verhältnis hat.

Eine von Reineckers gesellschaftskritischen, progressiven Episoden: Es geht um die Doppelmoral, mit der die sexuelle Aktivität von Frauen, vor allem solchen in „respektablen“ Berufen, sozial geächtet, ja mit dem Aus bestraft wird. Die Lehrerin Kämmerer – die schöne Johanna von Koczian spielte ein Jahr später in zwei Episoden die Geliebte von Kriminaloberinspektor Derrick – und ihre Freundin Agnes Kremp (Doris Schade), Haushälterin eines Geistlichen, lassen sich auf ein Abenteuer mit dem deutlich jüngeren Strassner und seinem Kumpel Lobach (Klaus Löwitsch) ein – und fürchten anschließend um ihre Existenz. Strassner nutzt die Angst der Frau für sich, in dem er sie zu weiteren Treffen nötigt. Der Täter ist ein bürgerliche Beschützer der Moral, der es nicht akzeptieren mag, dass ein Gammler den Ruf einer geachteten Frau in den Schmutz zieht – natürlich ohne zu merken, dass es überhaupt erst diese Haltung ist, die ein nächtliches Sexabenteuer zu einem schandhaften Akt macht. Grädler inszeniert mit großer Sympathie und der richtigen Mischung aus Direktheit und Zurückhaltung und die Koczian ist einfach wunderbar.

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Episode 80: Der Segelbootmord (Wolfgang Becker, Deutschland 1974)

Dr. Gerhard Reger (Peter Pasetti) hat sich von seiner Gattin Magda (Ruth Leuwerik) scheiden lassen und die deutlich jüngere Alexa (Gerlinde Döberl) geheiratet – sehr um Missfallen seines Sohnes Hans (Franz Winter), der in einem Internat am Starnberger See lebt. Bei einem Besuch des Vaters beobachten die beiden wie die junge Gattin mit dem Boot kentert – die Rettung für sie kommt zu spät. Reger ist sich sicher, dass seine Frau ermordet wurde. Und tatsächlich finden sich entsprechende Hinweise.

Eine gute, aber nicht besonders auffällige Episode. Am ehesten sticht das sonnig-vornehme Ambiente heraus, das schon deutlich im Kontrast zur Münchener Großstadt und den verrauchten Pinten darstellt, in die es Keller und seine Jungs sonst so verschlägt. Die sommerliche Stimmung wird vor allem von Ruth Leuwerik unterlaufen, die hier eine besonders kaltes Exemplar der Gattung Frau verkörpert. Am Schluss wird etwas gegen Scheidungen polemisiert und gegen Männer, die sich jüngere Frauen nehmen, aber das Augenrollen hält sich in Grenzen.

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Episode 81: Der Liebespaarmörder (Michael Braun, Deutschland 1974)

Die schöne Kellnerin Anita (Christiane Krüger) kann sich der Avancen der Männer in dem Lokal der Meringers (Claus Biederstaedt und Ruth-Maria Kubitschek), in dem sie arbeitet, kaum erwehren. Als ihr Freund Karl (Tommi Piper) sie abholt und zu einem abgelegenen Platz in den Wald zum Knutschen bringt, werden die beiden erst verfolgt und dann schließlich überfallen. Karl fällt dem Unbekannten beim Versuch, ihn zu verjagen, zum Opfer. Als Verdächtige kommen Kurt Meringer in Frage, der ein Auge auf seine Angestellte geworfen hatte, der Stammgast Korte (Jan Hendriks), der sich bei ihr immer wieder einen Korb abholte, und ihr Vater (Rolf Henniger), ein Künstler, der seine Tochter als Marienfigur malte.

Die Männer kriegen schön ihr Fett weg in dieser Episode, in der Biederstaedt mal wieder einen jener onkeligen Vergewaltiger spielt, die er drauf hat wie kein anderer. Gleich zu Beginn tratschen zwei ältere Herren über die scharfe Anita mit den langen Beinen und darüber, wie gut der Kerl es doch hat, der sie abholen darf. Hahaha, hohoho. Es ist das Grauen, vor allem weil die Frauen, allen voran die Meringer direkt danebenstehen und doch so behandelt werden, als seien sie gar nicht da.

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Episode 82: Traumbilder (Helmuth Ashley, Deutschland 1974)

Der Drogenabhängige Andreas Merkel (peter Chalet) wird auf offener Straße aus einem fahrenden Auto erschossen, Kommissar Keller beim Rettungsversuch verwundet. Der Junge war ein Freund von Martina Linnhoff (Sabine von Maydell), die vor einigen Monaten nach einem LSD-Trip in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert werden musste. Die Spuren führen in einen Appartementkomplex des reichen Unternehmers Kremer (Paul Hubschmid), der hier offensichtlich nicht nur Drogen verkaufte, sondern das Mädchen auch an den alten Weinhändler Schamberg (Alexander Rolling) verscherbeln wollte …

Die Episode erinnert mit ihrer von einem schlechten Trip geschädigten jungen Frau etwas an die spätere DERRICK-Folge EIN TODESENGEL, nur dass sich das Ganze hier nicht zum Rachedrama, sondern zu einer relativ handelsüblichen Gangstergeschichte entwickelt. Harry Mayen spielt den Psychiater, DERRICK-Stammschauspieler Wilfried Lier den Hausmeister des Wohnkomplexes. Keller unterstützt aus dem Krankenhausbett, was Reinecker später ebenfalls bei DERRICK wieder aufgreifen sollte.

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Episode 84: Am Rande der Ereignisse (Theodor Grädler, Deutschland 1976)

Der Kunstexperte Dr. Zorn (Paul Edwin Roth) wird von einem unbekannten durch die Tür seines Hotelzimmers ermordet. Kurz zuvor hatte der der Hotelsekretärin Erna Gutmann (Maria Schell) einen Brief diktiert, mit dem er von einem Geschäftspartner mehr Geld für seine Arbeit einfordern wollte. Das Diktat wurde von einem Drohanruf unterbunden, nachdem der Mann die Sekretärin fortschickte. Kurz nach dem Mord erhält auch sie einen Drohanruf. Kommissar Keller ahnt aber schnell, dass sie etwas weiß. Die Spur führt zu der Kunsthandlung von Kampmann (Romual Pekny) und seinem Sohn (Werner Pochath).

Eine eher schwache Episode: Der Mordfall gibt nicht viel her und das Drehbuch verschwendet viel zu viel Zeit auf die Beziehung der Gutmann zu ihrer an Multipler Sklerose erkrankten Tochter (Gaby Fischer): Hier gibt es wieder die Überdosis Melodram um das hübsche Mädchen, dass in krasser Verleugnung der Tatsachen und mit leuchtenden Augen frohlockt, dass es bald schon wieder tanzen gehen werde oder beim Spaziergang schon fast wieder die Kirche erreicht habe. Und Erwin Klein (Elmar Wepper) ist natürlich zu Herzen gerührt ob dieser Unverdrossenheit angesichts eines schweren Schicksals. Der ganze Subplot hat letztlich keine andere Funktion als Maria Schells Figur ein Motiv für ihr Schweigen zu geben – sie bekommt Geld dafür, das sie gut gebrauchen kann – und krankt an übertriebener Gefühlsduselei als auch an mangelnder Sensibilität im Umgang mit solchen Themen (das zeigt sich auch in späteren DERRICK-Folgen, in denen es um Behinderungen geht). Der Showdown, in dem Erik Schumann auftritt, ist ganz nette, sonst bleibt da nicht viel. Selbst Pochath wird gnadenlos verschenkt. Ganz sicher einer der raren Tiefpunkte der Serie.

Achtung: Episode 83: Das goldene Pflaster (Wolfgang Becker, Deutschland 1975) ist aus rechtlichen Gründen nicht in der DVD-Komplettbox enthalten (es fehlt noch eine weitere Episode), vielleicht reiche ich die zu einem späteren Zeitpunkt nach.

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Episode 85: Warum es ein Fehler war, Beckmann zu erschießen (Michael Braun, Deutschland 1976)

Der Geldtransporter-Fahrer Beckmann (Dirk Dautzenberg) wird nach einem Überfall von den Gangstern um Koch (Hans Brenner) erschossen. Das hätte eigentlich nicht passieren dürfen, denn er war in die Planungen der Verbrecher involviert, sollte sogar mit einem Teil der Beute für sein Mitwirken entlohnt werden. Beckmanns Sohn (Jörg Pleva) führt Keller und seine Männer auf die richtige Spur. Und die führt von Koch geradewegs zum Bankdirektor Höringer (Will Quadflieg), der ein sehr seltsames Verhältnis zu seiner jüngeren Gattin (Alwy Becker) und seinem Sohn Erhard (Gerd Böckmann) pflegt …

Gute Episode, die neben dem interessanten Kriminalfall überdies mit einer tollen Besetzung aufwartet (neben den Genannten wirkt auch noch der immer gern gesehene Ulli Kinalzik als Verbrecher mit). Gleich zu Beginn läuft der Nummer-eins-Hit „Kung Fu Fighting“ (der mehrmals Anwendung findet) und in einer ultraschmierigen Nachtclub-Szene sorgt Michael Holms Schmachtfetzen „Tränen lügen nicht“ für die passende besoffen-rührselige EIn-Uhr-Nachts-Stimmung. Auch das Script ist hervorragend: Immer, wenn man glaubt, den Fortgang der Geschichte zu erahnen, gibt es eine überraschende Wendung. So ist dann auch nicht die Dingfestmachung von Koch entscheidend, sondern der sehr bizarr verlaufende Besuch von Brenner und Heines im Hause des Bänkers, bei dem vor allem Böckmann zu Hochform aufläuft und eine der verrotteten Großbürgerfamilien zum Vorschein bringt, auf die Reinecker sich dann bei DERRICK spezialisierte. Wenn es was zu mosern gibt, dann das die Auflösung nicht mehr wirklich etwas zusetzen kann – und das der gute Walter hier leider durch Abwesenheit glänzt.

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Episode 86: Ein Mord auf dem Lande (Theodor Grädler, Deutschland 1976)

Die erwachsenen Kinder des Wirtshaus-Besitzers Tolke (Walter Sedlmayr) – die Töchter Grete (Lis Verhoeven), Anni (Jutta Speidel) und Sohn Walter (Martin Semmelrogge) sowie Annies Freund Hans (Frithjof Vierock) – zittern jeden Abend, wenn ihr Vater den Laden betrunken abschließt, denn dann gibt es meist Schläge für sie. Auch an diesem Abend wird Tolke wieder übergriffig – doch am Ende liegt er selbst mit einem Beil erschlagen im Hof. Alle verdächtigen Hans, der vor Tolke nach draußen geflohen war, doch der schwört, mit dem Mord nichts zu tun zu haben. Der Nachbar Krüger (Werner Kreindl) tritt als Zeuge auf …

Dem Kriminalfall fehlt etwas der Pep, aber ich liebe diese bayrisch-zünftigen Gasthof-Settings mit Trachten tragenden Herren, die zu Blasmusik aus der Musikbox ihre Maß trinken. Ihren Wirt haben sie alle gehasst, weil sie wussten, dass er ein Schwein war, aber getan haben sie natürlich nichts – immerhin hat er ihnen das Bier verkauft. In einer schönen Szene hält einer der Trinkenden eine flammende Rede, wie gut es doch sei, dass Tolke jetzt endlich tot sei, verdient habe er es und das sei überhaupt kein Grund Trübsal zu blasen, woraufhin er demonstrativ die Musik anmacht. Das kann Keller natürlich nicht durchgehen lassen: EIn Mord ist durch nichts zu rechtfertigen, bellt er, und zieht den Stecker. Am Ende stecken hinter dem Mord ganz weltliche Motive, aber das kennt man von Reinecker ja schon.

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Episode 237: Nachtgebete (Theodor Grädler, Deutschland 1994)

Ulrike Berger (Monika Baumgartner), Angestellte im Nachtclub der Ganoven Cottbus (Robert Jarczyk) und Sacko (Hanno Pöschl), wird ermordet, weil sie „auspacken“ will. Vorher benennt sie den Kunsthistoriker Dr. Roth (Gerd Anthoff) als leiblichen Vater ihrer jugendlichen Tochter Marianne (Joschka Lämmert). Roth ist erstaunt: Zwar hat er die Berger bei einem Kuraufenthalt kennengelernt und sich mit ihr angeregt unterhalten, aber sonst war da nichts. Bei einem Treffen mit Marianne erlebt er, wie Cottbus und sein Schläger versuchen, das Mädchen aus der Wohnung zu prügeln. Er schaltet die Polizei ein und nimmt die Vormundschaft an. Doch damit zieht er den Zorn der Verbrecher auf sich …

So langsam erinnern die Serie und Derricks Funktion darin an den Michael-Landon-Heuler EIN ENGEL AUF ERDEN. Und zur angemessenen Bewertung müsste ich eigentlich ein neues Kriterium einführen: Als Krimiepisode versagt NACHTGEBETE auf ganzer Linie, es gibt auch keine inszenatorischen oder schauspielerischen Glanzlichter oder Kunststückchen zu bestaunen, stattdessen regiert die zu dieser Zeit typische Biederkeit. Dennoch geht von der Folge eine enorme Faszination aus: Es ist schon erstaunlich, auf welche dramaturgischen Irrwege sich Reinecker begibt, um seine Weltanschauung und Moralphilosophie unters Volk zu bringen. Er diagnostiziert einen Zustand allgemeiner „Gleichgültigkeit“ gegenüber dem nächsten, der sich dem Drehbuch zufolge auch in der Weigerung des Dr. Roth widerspiegelt, die Vaterschaft für ein ihm völlig unbekanntes Mädchen von einer flüchtigen Bekanntschaft unterjubeln zu lassen. Aber er wird von Engel Derrick ja dann doch auf den Pfad der Tugend geführt: In einer nur als bizarr zu bezeichnenden Wendung, nimmt der Historiker (der noch mit seine Mama zusammenwohnt) Marianne bei sich auf wie ein Heiliger, führt sie in sein Haus und konstatiert: „Hier wohnst du jetzt.“ Warum? Weil das langweilige Spießerleben zwischen ledergebundenen Wälzern die Nachtclubangestellte – wer bezahlt eigentlich deren Kur? – so nachhaltig beeindruckt hat, dass sie es als Zukunft für ihre Tochter herbeivisioniert, wissend, dass sie bald den ihren letzten Atem aushauchen wird. Die letzten fünf Minuten, in denen Dr. Roth und seine Familie im dunklen Haus das Auftauchen der Killer erwarten, sind sogar ganz spannend, beim Rest kann man nur den Kopf schütteln. Dafür gibt es aber eine der überzeugenderen Disco-Szenen in der an solchen nicht gerade reichen Serie und Hanno Pöschl, der mit weiß geschminktem Gesicht und rotem Pagen-Jackett Frauen versteigert.

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Episode 238: Abendessen mit Bruno (Alfred Weidemann, Deutschland 1994)

Die Unternehmer Mandy (Wolf Roth) und Martin Sasse (Sebastian Koch) haben ein Problem: Sie werden von ihrem Angestellten Simon (Thomas Schücke) erpresst: Dafür, dass er ihnen belastendes Material überlässt, will er Teilhaberschaft im Unternehmen. Es kommt zur Auseinandersetzung, bei der Sasse den Emporkömmling erschlägt. Den Mord schieben die Sasses – der Vater (Ernst Jacobi) und Martins Schwester Ingrid (Sosa Macdonald) – ihrem geistig behinderten Bruder Bruno (Phillip Moog) in die Schuhe. Derrick glaubt aber nicht an dessen Schuld und entlässt den jungen Mann zurück in die Obhut der Verräter …

Nach dem KAFFEE MIT BEATE nun also das ABENDESSEN MIT BRUNO. Mehr als an den Whodunit aus den Siebzigerjahren erinnert die Folge aber an eine andere und Reinecker macht sich noch nicht einmal die Mühe, das Vorbild zu Verschleiern: Einen geistig Behinderten namens Bruno gab es bereits schon einmal bei DERRICK und auch damals wollte dessen feine Familie ihm den Mord des Bruders in die Schuhe schieben, weil er sich nicht wehren konnte: Die Rede ist von ANSCHLAG AUF BRUNO von 1979, in der Dieter Schidor die Rolle des wehrlosen Tropfes übernahm. Wer DERRICK seit den Anfängen verfolgt, weiß bereits, dass die Serie in der Darstellung von psychischen Erkrankungen die Grenze zur Fantasy mitunter lustvoll überschreitet. Das ist auch hier so: Moog, der seine Popperfrisur gegen einen einem Behinderten offensichtlich angemesseneren Dreidollarhaarschnitt, die Barbour-Jacke gegen einen beigefarbenen Opablouson eingetauscht hat, interpretiert den Bruno als dumpf ins Leere starrenden, schweigenden Forrest Gump mit Teddybär. Seine Erkrankung bestehe darin, erklärt der Arzt (der ihn aus seiner Obhut entlässt, weil er seine Klinik schließen will, um sich anderen Dingen zu widmen!), dass Bruno „alles auf einmal“ wisse und verstehe. Möglicherweise sei er damit ja sogar gesünder als die vermeintlich „Normalen“. Der Kniff Derricks, den vermeintlichen Mörder zu entlassen, um so den Druck auf die von Schuldgefühlen geplagten Sasses zu erhöhen, ist ebenfalls alt: Das gab es schon einmal in der KOMMISSAR-Episode DREI BRÜDER von 1974. Weil Reinecker damals aber noch Krimis schrieb statt moralphilosophisch verquaste Kammerspiele, wurde die Kapitulation der Täter da glaubwürdig herbeigeführt. Hier verliert der Mörder schon am ersten Abend beim Anblick seines Bruders die Nerven und versteigt sich in eine peinliche Zornrede. Wie schon oben konstatiert: Als Krimi zum Vergessen, als Blick in die Reinecker’sche Gedankenwelt faszinierend.

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Episode 239: Katze ohne Ohren (Horst Tappert, Deutschland 1995)

Als Karina (Svenja Pages), die Freundin des Drogenhändlers Manfred Mauser (Peter Kremer) im Fernsehen ein Interview mit dem Physiker Kostiz (Karlheinz Hackt) hört, in dem dieser die Jugend dazu ermahnt, die drängenden Aufgaben zur Verbesserung der Erde anzugehen, verlässt sie ihren Partner. Wenig später wird er in seiner Tiefgarage erschossen.

Der Titel klingt wie ein frühes Draft einer Til-Schweiger-Erfolgskomödie, bezieht sich aber auf den Vortrag des Wissenschaftlers: In Südafrika habe er eine Frau gesehen, die eine Katze fütterte, der das Ozonloch die Ohren „weggebrannt“ habe. Das Bild hat den Mann so erschüttert, dass er darüber seinen Wissenschaftlerjob an den Nagel gehängt hat, um nun als Mahner und Aufrütteln durch Fernsehshows, Schulen und andere Einrichtungen zu tingeln und die Jugend an ihre große Verantwortung zu erinnern. Die Episode dieser Tage zu schauen, sorgt für ein interessantes Déjà-vu und erinnert zum einen daran, dass die letzten rund 25 Jahre in Sachen Klima- und Umweltpolitik leider ziemlich verschlafen wurden, zum anderen, dass man von Reinecker in dieser Phase seines Schaffens offensichtlich keine spannenden Fernsehkrimis mehr erwarten darf. Die Figur des Wissenschaftlers kann man vielleicht als Alter ego des Autors verstehen, der seine Tätigkeit als Erfinder von Kriminalfällen niedergelegt hat, um seine Zuschauer über den Status quo der Welt und des menschlichen Daseins zu ermahnen. So ehrlich das auch gemeint sein mag: KATZE OHNE OHREN steht sich bei seinem Anliegen mit ihrer bisweilen bizarren Weltfremdheit mehr als einmal selbst auf den Füßen. Da ist zum einen der Drogendealer Kremer, der freudestrahlend vom Treffen mit den „großen Bossen“ kommt und seiner Freundin mitteilt, dass sie ihm nun alle Münchener Schulen überlassen haben, aber in seiner Wohnung abgepacktes Heroin rumliegen hat und zum Verkauf schon einmal abgerissene Junkies wie Andreas Klausen (Robinson Reichel) bei sich begrüßt. Dann ist da der Wissenschaftler, der mit seiner Karriereentscheidung beruflichen Selbstmord begeht. Warum es der Betreiber einer Drogenklinik für eine gute Idee hält, einen Weltverbesserer vor Junkies darüber schwadronieren zu lassen, dass sie vor der Wirklichkeit wegrennen, anstatt die Welt zu retten, sei dahingestellt. Sehr rührend fand ich die Idee, dass Kostiz seine Vorträge auf Kassetten aufnimmt und dann kostenlos an seine Zuhörer verteilt. Das Geschäftsmodell scheint mir nicht wirklich durchdacht. Aber was weiß ich schon.

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Episode 240: Anruf aus Wien (Alfred Weidenmann, Deutschland 1995)

Babette (Sibylle Widauer), die Tochter des geschiedenen Ehepaars Bach (Peter Fricke & Jutta Kammann), wird entführt, die Entführer fordern eine Million DM. Panisch vor Sorge willigt Bach ein, ergreift bei der Lösegeldübergabe schließlich zur Waffe und erschießt den Boten. Bevor Derrick und Klein Bach festnehmen können, müssen sie aber erst noch eine Möglichkeit finden, Zeit zu gewinnen und die Entführer aus der Reserve zu locken. Sie holen Charlotte (Veronika Fitz), die Ehefrau des Toten, in ihr Boot und fordern sie auf, den Partnern ihres Mannes zu erzählen, er sei nach Wien gereits, um mit ihr dort ein neues Leben anzufangen, und sie erwarte seine telefonischen Instruktionen. Sie macht bei dem Spiel mit – aber wohl vor allem, weil sie im Schock glaubt, ihr Mann sei wirklich nach Wien gereist …

Die letzten Folgen waren ja schon viel, viel besser als das, was Reiencker uns sonst so im Jahr 1994 aufgetischt hatte, doch ANRUF AUS WIEN kommt einem Quantensprung gleich. Nicht nur, dass dem Mann nach gut drei jahrzehnten Fließbandkrimiarbeit noch einmal etwas Neues eingefallen ist: Die Folge ist tatsächlich sauspannend. Zunächst mal geht das alles sehr normal los: Es wird ein etwas zu harmonisches Papa-Tochter-Idyll gezeichnet und die Mama als Buhmann aufgebaut. Fricke zieht dann seine Masche durch und wird immer erratischer und panischer, während seine Ex-Gattin bemüht ist, die Nerven zu behalten. Richtig interessant wird das alles, als Derrick hinzustößt und seinen raffinierten Plan ausheckt. Reinecker zieht die Spannung hier sehr geschickt aus dem nicht zuletzt von Harry geschürten Zweifel, dass Charlotte begreift, was auf dem Spiel steht und mitspielt. Veronika Fitz ist toll als völlig abgeschaltete Gattin, die nach dem Schock der Todesnachricht in einen Zustand der Trance gerät und kurzzeitig Trost in dem von Derrick inszenierten Spiel findet. Aber der Zustand ist natürlich immens fragil: Bei jedem Anruf der Ganoven bei ihr erwartet man, dass sie aus ihrem Trancezustand aufwacht, sich verrät, die Täuschung auffliegen lässt und so den Tod des Mädchens verursacht. Clever gescriptet, gut umgesetzt, toll.

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Episode 241: Ein Mord, zweiter Teil (Alfred Weidenmann, Deutschland 1995)

Der Gefängnispsychologe Dr. Grossler (Stefan Wigger) sucht Derrick auf: Rudolf Kollau (Wolf Roth), den Derrick vor sieben Jahren wegen des Mordes am Geliebten seiner Ehefrau Agnes (Gudrun Landgrebe) festgenommen hatte, steht kurz vor seiner Entlassung wegen guter Führung. Doch Grossler glaubt nicht an den trügerischen Frieden: Für ihn ist Kollau der „absolute Verbrecher“ und nur darauf aus, sich an seiner Ex-Gattin zu rächen, die mittlerweile mit dem biederen Beamten Arno (Edwin Noel) verheiratet ist und in dem Haus wohnt, das Kollau noch zur Hälfte gehört. Tatsächlich bittet er Agnes, seine Bücher bei ihr im Keller unterstellen zu dürfen, bis er eine Bleibe gefunden hat, doch dann steht er wieder vor ihrer Tür, bezieht erst einen Kellerraum und beginnt von dort aus seinen Keil zwischen die Eheleute zu treiben. Derrick sind die Hände gebunden. Was hat Kollau vor?

Reinecker klaut wieder beim Besten: sich selbst. In DER UNTERMIETER war es Peter Kuiper, der sich nach der Haftentlassung in der Wohnung seiner mittlerweile wieder verheirateten Ex-Freundin breitmachte und dabei unter anderem deren Untermieter drangsalierte. Hier wie dort wird Derrick von einem befreundeten Beamten auf den Schurken aufmerksam gemacht, ist der Neue an der Seite der Verflossenen vom Typus des Reinecker’schen Waschlappens. Den wesentlichen Unterschied markiert hier die Besetzung der Schurkenrolle, denn der großartige Wolf Roth legt seinen Eindringling nicht wie Kuiper als zudringlichen, bullyhaft-einschüchternden Gewaltmenschen an, sondern als intelligenten, äußerlich betont kontrollierten, innerlich aber brodelnden Psychoterroristen, dessen immenses Drohpotenzial fast auschließlich zwischen den mit einem süffisanten Lächeln ausgesprochenen Zeilen liegt. Und der Roth hat Freude an dieser Rolle, uiuiui. Er ist ja fast immer super, aber hier ist nahezu jeder seiner Auftritte zum Niederknien. Wenn er seine schlotternde Ex beim Frühstück mit dem Gatten stört und scheißfreundlich nach einem Kaffee fragt oder immer wieder fallen lässt, dass das Haus, das sie bewohnen, ja zur Hälfte ihm gehöre, spürt man den ganzen über die Jahre aufgestauten Zorn und die Freude, die ihm das Wissen verschafft, dass schon seine bloße Anwesenheit die beiden verrückt macht. Mit Derrick liefert er sich hingegen scharfe Wortgefechte, in denen er seine Verachtung für den Beamten nicht zurückhält: Derrick, sonst nie um eine schlagfertige, altersweise Antwort verlegen, wird hier auffällig wortkarg. Wenn es etwas zu meckern gibt – neben der Tatsache, dass die Episode ein Dreiviertelremake ist -, dann ist es wahrscheinlich das Ende. Die Idee ist zwar gut, aber trotzdem fühlt es sich ein bisschen wie ein Letdown an. Egal, Wolf Roth rockt!

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Episode 242: Teestunde mit einer Mörderin? (Alfred Weidenmann, Deutschland 1995)

Der attraktive Roland Ortner (Thomas Kretschmann) ist auf dem Weg zu seiner attraktiven Geliebten Isabel (Christina Plate), die pikanterweise die Pflegerin von Rolands schwerkranker, schwerreicher, aber deutlich älterer Ehefrau Agnes (Ursula Lingen) ist. Bei seiner Ankunft ist Isabel tot, erschossen, und für Roland kann es keinen Zweifel geben, wer als einziger als Mörder in Frage kommt: seine Ehefrau, die ihm die Affäre einst zugestanden hatte, weil sie spürte, dass sie ihrem jungen Ehemann nicht mehr bieten konnte, was er brauchte.

Das ist eine reine Schauspielfolge, in der vor allem Ursula Lingen viel Raum erhält, um ihre würdevolle Grande Dame zu geben. Sie verfügt über große Präsenz, macht den Schmerz ihres Charakters greifbar, der spürt, dass seine grenzen- aber eben auch körperlose Liebe nicht mehr in gleichem Maße erwidert wird und deren Rettungsanker letztlich zur totalen Entzweiung führt. Thomas Kretschmann, Anfang 30 erst, aber bereits mit einigen nennenswerten Produktionen im Rücken, funktioniert gut als ihr deutlich weniger in sich ruhender, vor Lebenslust vibrierender Ehemann, der sich nach eigenem Bekunden von ihr hat kaufen lassen. Das wird leider zu wenig ergründet: Man erhält einen kurzen Einblick in ihre gemeinsame Vergangenheit, aber man erfährt nie, was der junge Mann an der Frau, die seine Großmutter sein könnte, fand. Die ganze Beziehung wird nicht richtig glaubwürdig, auch wenn sich die beiden Darsteller alle Mühe geben. Hinzu kommt der wenig spektakuläre Verlauf: Man weiß schnell, wer der Mörder ist und eine richtige Überraschung bleibt aus. Trotzdem: gehobener Durchschnitt, wie ich ihn mir gefallen lasse.

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Episode 243: Ein Mord und lauter nette Leute (Theodor Grädler, Deutschland 1995)

Die Geschäftsleute Kelpe (Sky DuMont), Bienert (Klausjürgen Wussow) sowie dessen Sohn Hans (Christoph Eichhorn) finden das Callgirl Ruth tot in ihrem Appartement. Alle drei Männer hatten eine Beziehung mit der Frau, zahlten ihr die Miete und ermöglichten ihr auch, ihre Schwester Lona (Julia Dahmen) auf ein Internat zu schicken. Derrick holt das junge Mädchen nach München und berichtet ihr, wer ihre Schwester war. Lona möchte unbedingt die Liebhaber Ruths kennenlernen und dabei helfen, den Mörder zu finden.

Das ist natürlich etwas, was Reinecker nicht versteht: Wie eine Frau sich mehreren Männern gleichzeitig darbieten kann, wie diese Männer sie auch noch untereinander teilen – und wie sogar deren Ehefrauen und Geliebte damit einverstanden sind, weil diese Ruth so ein wunderbarer Mensch war. Und weil er das nicht versteht – was ja vor allem sein Problem ist -, müssen diese Männer und Frauen ölig-verschlagene Schmierlappen sein, denen die falsche Betroffenheit nur so aus jeder Pore tropft – und eine(r) von ihnen natürlich ein Mörder, bei dem es mit der Polyamorie dann doch nicht so weit her war. Was grundsätzlich trotzdem ein Superansatz für 60 Minuten stimmungsvolle Unterhaltung wäre, wenn Reinecker nicht viel zu viel Gewicht auf die Trauerbewältigung der hübschen, aber langweiligen Lona legen würde. Sky DuMont spielt seine Masche runter, Klausjürgen Wussows onkelige Schmierigkeit wird vollkommen verschenkt. Gut, dass Christine Buchegger noch da ist, die Kelpes Sekretärin und Geliebte mit der devoten Strenge einer zärtlichen Domina versieht.

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Episode 244: Kostloffs Thema (Dietrich Haugk, Deutschland 1995)

Der selbsternannte Theaterinhaber, Schauspiellehrer, Stückeschreiber, Regisseur und Philosoph Kostloff (Gert Anthoff) führt die Polizei zur Leiche eines seiner „Schüler“ in einem Steinbruch, nachdem er ihn als vermisst melden wollte. In den Steinbruch schickte er seine Eleven, um ihre Stimme zu schulen. Derrick und Klein ist er damit sofort verdächtig: Und tatsächlich tut der selbstverliebte, von sich selbst überzeugte Sohn einer schwerreichen Mutter (Maria Becker) nichts, um diesen Verdacht zu zerstreuen. Im Gegenteil: Mit seinen seltsamen Theorien darüber, dass jeder Mensch ein Opfer sei und töte, was er liebe, liefert er sich gewissermaßen auf dem Präsentierteller. Nur Beweise gibt es nicht. Also liefert ihm Derrick einen Undercover-Beamten (Nikolaus Gröbe) als neuen „Schüler“ …

Das ist schwierig. Auf der Habenseite hat die Episode ein paar interessante formale Kniffe vorzuweisen, die ich in diesem Stadium von an Leichenstarre erinnernder Routine, in den die Serie zumindest inszenatorisch eingetreten ist, schon nicht mehr erwartet habe. Da dröhnt ein theatralischer Score über die rauschhaft-beknackten Monologe von Kostloff, gibt es eine mit Handkamera inszenierten Film-in-Film, wird das Finale im Steinbruch mit harten Schnitten zum Videoclip. Putzig ist wieder einmal Reineckers unverhohlen zur Schau getragene Verachtung für all diese Kunstfuzzis mit ihren überkandidelten Konzepten und Ideen: Wie schafft man es unter diesen Voraussetzungen, über 30 Jahre lang am Fließband Drehbücher zu schreiben, ohne sich selbst zu hassen? Das macht Spaß, das gefällt. Weniger sicher bin ich mir bei Gert Anthoff, der in der Serie sonst meist den Typus des bürgerlichen Waschlappens verkörpert, der mal positiver, mal negativer angelegt ist, und hier von der Leine gelassen wird. Er dreht ziemlich auf als Kostloff, stolziert wie ein Pfau in einer unglaublichen Hausjacke herum, trinkt Likör mit abgespreiztem Finger, schwadroniert, redet sich in Rage, zitiert Wilde, wedelt affektiert mit den Händen herum und umgarnt am Schluss den neuen Schüler in deutlich homoerotischer Intention. (Da fiel mir nach rund vier, fünf Jahren Derrick und 244 absolvierten Folgen zum ersten Mal auf, wie abwesend das Thema Homosexualität in der ganzen Serie ist.) Das finde ich prinzipiell gut, aber zum einen nehme ich Anthoff die Rolle einfach nicht ab, zum anderen ist dieser Kostloff als Figur – oder so, wie Anthoff ihn anlegt, viel zu comichaft für die Serie. Bei allem, was es zu kritisieren gibt, eins kann man KOSTLOFFS THEMA Nicht vorwerfen: dass die Episode langweilig oder routiniert wäre. Das gibt bei der Erstsichtung einen Bonus.

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Episode 245: Derricks toter Freund (Theodor Grädler, Deutschland 1995)

Arno Beckmann (Walter Renneisen), ein ehemaliger Kleinkrimineller, wird durch die Tür seiner Wohnung erschossen. Das Appartement hatte ihm die wohlhabende Martha Hauser (Christiane Hörbiger) zur Verfügung gestellt, eine platonische Freundin des Opfers. Wie Derrick herausfindet, hatte der auf Anraten seines Zellenkameraden, des Heiratsschwindlers Leo Körner (Jürgen Schmidt), Frauen angeschrieben, um an Geld zu kommen, das ihm aufgrund fehlender Ausbildung und mangelnden Selbstbewusstseins fehlte. Beckmann machte mit seiner Hilflosigkeit, aber auch mit seiner Offenheit nicht nur Eindruck auf Martha, sondern auch auf deren verheiratete Tochter Helga (Roswitha Schreiner) und ihre Freundin Ilse (Gertrud Jesserer). Alle drei Frauen hatte von ihren Männern nicht mehr viel Zuneigung zu erwarten.

Die irreführend betitelte Episode – Derrick kannte Beckmann gar nicht, fühlt sich ihm dann aber durch die Berichte der Frauen verbunden, eben als sei er ein Freund – macht aus dem traurigen Tropf das männliche Gegenstück zu all den unschuldigen weiblichen Zauberwesen, die vor allem in den Siebzigern regelmäßig die Köpfe alternder Männer in DER KOMMISSAR und DERRICK verdrehten. Beckmann ist in der Interpretation von Renneisen ein bemitleidenswerter Trottel, eine Art treudoofer Straßenhund, den man adoptiert, um ihn gesund zu pflegen, aber seine Unbedarftheit und Wärme öffnet ihm den Weg in die Herzen der Damen, die von ihren patriarchischen Männern keine Liebe mehr erfahren. DERRICKS TOTER FREUND passt zu Reineckers Altersthema der zunehmenden Vereinsamung, das im Zentrum dieser späten Jahrgänge steht, aber die Folge scheitert an Renneisen. Dass wohlhabende Frauen ihn als Sozialexperiment adoptieren, mag ja noch angehen, doch dass sich Roswitha Schreiner in diesen linkischen Hampelmann verliebt, sich auch eine körperliche Beziehung zur platonischen wünscht, ist dann doch etwas zu viel des Guten. Renneisen overactet gnadenlos und was liebenswert und unvoreingenommen wirken soll, wirkt tölpelhaft und peinlich. Es liegt an Traugott Buhre, der Marthas autoritären Gatten spielt, dass das Konstrukt halbwegs funktioniert. Wenn es Renneisen schon nicht gelingt, seinen Beckmann zur überirdischen Sympathiefigur zu machen, so schafft Buhre es, allen Hass auf sich zu ziehen. So ist die Episode kein Totalreinfall – und als faszinierender Blick ins vernebelte Oberstübchen von Sozialmärchenonkel Reinecker eh faszinierend.

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Episode 246: Eines Mannes Herz (Alfred Weidenmann, Deutschland 1945)

Der Geschäftsmann Ludwig Dalinger (Walter Schmidinger) sucht die Familie um Dr. Kirchheimer (Ralf Schermuly) auf: Die Tochter des Hauses war vor zwei Jahren spurlos verschwunden und Dalinger zeigt große Anteilnahme an ihrem Schicksal. Wenig später wirft er sich vor einen fahrenden Zug und in seinem Abschiedsbrief, der den Kirchheimers zugeht, erklärt er ihnen, dass er das Herz ihrer Tochter in der Brust trage. Der Mann hatte nach dem Engagement seines Geschäftspartners Bertram (Wolf Roth) ein neues Herz erhalten, für das offensichtlich ein junger Mensch sterben musste …

Kein echter Kriminalfall, weil der Mord an der Verschwundenen nicht geklärt wird, aber eine ziemlich faszinierende und spannende Geschichte. Im Unterschied zu vielen anderen von Reineckers offen „humanistischen“ Folgen, ist EINES MANNES HERZ ausnahmsweise mal nicht gnadenlos verlabert und moralinsauer, sondern tatsächlich involvierend und bewegend. Das Schicksal sowohl der Kirchheimers als auch Dalingers lässt nicht kalt, wird durch die Leistungen der Darsteller nachvollziehbar und greifbar. Und der Verzicht auf einen Schurken, der alles Übel dieser Welt verkörpern muss, tut der Sache gut. Bertram, der der Anforderung an einen Bösewicht noch am ehesten entspricht, ist eigentlich auch ein armes Schwein, das nicht wusste, dass seine Bemühungen, das Leben seines Freundes zu retten, zum Tod eines anderen führen würden. Das Schlussbild, das ihn zeigt, wie er mit einem Phantombild des vermeintlichen Mörders die Gäste eines Münchener Nachtclubs anspricht – zuvor hatten wir erfahren, dass er sein Geschäft aufegegeben habe und nicht mehr erreichbar sei – ist gleichermaßen tragisch wie bewegend und eine schöne Abwechslung zum sonst vorherrschenden Reinecker’schen Pessimismus.

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Episode 247: Dein Bruder, der Mörder (Hans-Jürgen Tögel, Deutschland 1995)

Musterknabe Randolf Basler (Holger Handtke) hat Scheiße gebaut: In seinem Bett liegt eine tote Prostituierte. Seine patente Löwenmutter (Eva Kotthaus) will die Zukunft des Sohnes um jeden Preis retten, also überredet sie dessen Bruder Hubert (Peter von Strombeck), die Leiche mit ihr gemeinsam wegzuschaffen. Anstatt sie aber einfach irgendwo abzuladen, legt Hubert sie sorgfältig vor ihrer Haustür ab und sucht gleich am nächsten Tag die Familie der Toten auf. Dabei erfährt er, dass sie eine von den Großeltern unerwünschte Tochter hinterlässt, um die sich nun Vera (Carin C. Tietze), die Schwestern der Toten, kümmern muss. Hubert bietet ihr seine Hilfe an und zieht so die Aufmerksamkeit Derricks auf sich, der großes Interesse an dem Mann zeigt, weil er spürt, dass er mit dem Mord zu tun hat. Das gefällt Randolf natürlich überhaupt nicht …

Die Episode passt zu Reineckers humanistischer Mission. In Folge um Folge proklamiert er die Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen als das Übel unserer Zeit, das sich in DEIN BRUDER, DER MÖRDER wieder einmal darin niederschlägt, dass Mutter und Sohn für sich entscheiden, dass seine Zukunft wichtiger ist als die Gerechtigkeit, eine Prostituierte letztlich niemand vermisst und seine Tat am Ende nur ein Unglück war, für das man ihm die Zukunft nicht versauen sollte. Mitgefühl: Fehlanzeige. Hubert, als „Versager“ apostrophiert, kann und will da nicht mitgehen: Er spürt eine Verantwortung für die Tote und das Bedürfnis nach Wiedergutmachung. Die Sympathien sind klar verteilt, auch weil Holger Handtke und Eva Kotthaus in ihren Rollen nahezu ohne positive Eigenschaften auskommen dürfen. Man kann kaum etwas gegen die Konstruktion der Episode sagen, die wieder ein bisschen an die Anfangstage der Serie erinnert, aber ohne den Furor auskommen muss, den Derrick damals noch an den Tag legte. Reineckers Hauptaugenmerk liegt auch nicht mehr bei den Schurken und ihrer Überführung durch den Kriminalbeamten, sondern beim Altruismus des Bruders. Weil seine Wohltätigkeit aber weniger aus einem Schuldgefühl hervorgeht, sondern beinahe instinktiv aus ihm kommt, und wir als Zuschauer bemerken, in welche Gefahr er sich damit begibt, ist die Folge dann doch recht spannend.

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Episode 248: Die Ungerührtheit der Mörder (Helmuth Ashley, Deutschland 1995)

Professor Weiland (Wolf Roth), Lehrer einer Abiturklasse, ist fasziniert vom Mord und was er in unserem Gehirn anstellt. Für einen Aufsatz lädt er den soeben aus der 15-jährigen Haft entlassenen Frauenmörder Ali Klais (Michael Mendl) in die Schule ein, damit seine Schüler ihm Fragen stellen können. Die Begegnung mit dem ungerührten Mann hinterlässt einen starken Eindruck bei den jungen Leuten und sie suchen ihn nach Schulschluss in der Kneipe auf, in der er kellnert. Auch an der Polizeipsychologin Sophie Lauer (Marion Kracht), die als junges Mädchen Opfer einer Vergewaltigung war, gehen die Worte Klais‘ nicht spurlos vorbei. Als Klais erschossen wird, befürchtet Derrick das Schlimmste …

Im Zentrum der Episode steht ein interessantes Spannungsverhältnis, das auf Erzählebene aber leider nicht wirklich zufriedenstellend eingebunden wird: Mir ging als Betrachter das Messer in der Tasche auf angesichts der Selbstgerechtigkeit, mit der Weiland den völlig verstörten, intellektuell deutlich unterlegenen Mörder vorführt und die Schüler dann mit ihrem begrenzten Weltbild auf ihn einprügeln lässt, und auch Derrick und Klein sind zu Recht angewidert von dem Schauspiel. Zum Teil wird der moralische Furor der Schüler aber durch die angebliche „Ungerührtheit“ Klais‘ gerechtfertigt: Er zeigt weder Reue noch ist er überhaupt in der Lage, seine Tat annähernd zu reflektieren. Dem Drehbuch nach zu urteilen, soll das tatsächlich auf seine Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Leben schließen lassen, auch wenn eine andere Erklärung angesichts der Situation, in der er sich befindet, ja viel naheliegender scheint: Nach 15 Jahren Haft eben erst auf freiem Fuß (er wird von Weiland am Knast abgeholt und direkt in die Schule gebracht) sieht er sich als „Ausstellungsstück“ einem Tribunal gegenüber, das von dem völlig unvorbereiteten Mann nicht nur Auskunft über längst vergangene Gefühle und Gedanken, sondern sogar eine Art erneutes Schuldgeständnis einfordert. Dass die Jugendlichen mit der Situation ebenso überfordert sind wie er, ist verständlich (passenderweise erklärt ihnen der von der Begegnung mit dem Mörder geradezu berauschte Lehrer, was sie zu denken und am besten auch zu schreiben haben), aber dass eine Polizeipsychologin nicht in der Lage ist, einen Schritt zurückzutreten und ihre eigenen Befindlichkeiten außen vor zu lassen, disqualifiziert sie eigentlich für ihren Beruf. Abgesehen von der interessanten Ausgangssituation gibt die Folge leider sonst nicht viel her. Aber sie ist auch kein Schuss in den Ofen.

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Episode 249: Herr Widanje träumt schlecht (Alfred Weidenmann, Deutschland 1995)

Herr Widanje (Henry van Lyck) wird vor seinem Haus erschossen. Der Mann pflegte einen ausgeprägten Vergwaltigungs-Fetisch, den er auch vor seiner Gattin (Eleonore Weisgerber) nicht verheimlichte und den er dann auch aktiv auslebte. Kergal (Edwin Noel), Vater der jungen Dina (Julia Brendler), die Widanje zum Opfer fiel, zog die Anzeige zurück, weil der Unternehmer ihm im Gegenzug einen Arbeitsplatz in seiner Firma anbot. Zu den Verdächtigen gehören außerdem Agnes Voss (Gudrun Landgrebe), die Therapeutin von Widanjes Gattin, sowie der junge Staatsanwalt Dahlau (Philipp Moog), der ein Foto von Dina auf dem Schreibtisch stehen hat, um das ungesühnte Verbrechen nicht zu vergessen …

Ich habe mich noch nicht so recht zu einer echten Einschätzung dieser Episode durchringen können, die einige interessante Elemente und Details aufweist – hier wären einmal die schwarzweißen Behandlungsvideos zu nennen, die Dr. Voss Derrick von ihren Patienten vorführt – und damit überrascht, dass der Mord am Ende nicht aufgeklärt werden kann. Das Problem ist, dass sie keinen echten Drive entwickelt. Nicht dass, die Serie zu diesem Zeitpunkt sonst ein Ausbund an Spannung und Intensität wäre, aber Weidenmann gelingt es einfach nicht, die verschiedenen Ansätze hier unter einen Hut zu bringen und seine Story so geradlinig zu entwickeln wie das nötig wäre. Am Ende macht sie einen etwas überladenen, ungeordneten Eindruck und sie steht sich dabei selbst im Weg. Was schade ist, denn eigentlich hat die Prämisse großes Potenzial, das man aber nur hier und da aufblitzen sieht.

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Episode 250: Mitternachtssolo (Helmuth Ashley, Deutschland 1995)

Arthur Bolz (Edgar Walther), der Inhaber eines Nachtclubs, wird von seinem Geschäftsführer Prasko (Winfried Glatzeder) erschossen, als er ihn der Unterschlagung von Geldern bezichtigt. Bevor Prasko und seine Mitarbeiter die Leiche fortschaffen können, werden sie vom Nachtwächter Randel (Udo Samel) erwischt. Der sieht seine große Chance: Doch er will kein Geld für sein Schweigen, sondern Praskos Ehefrau Inge (Susanne Uhlen) …

Die Standard-Ausgangssituation nimmt mit Randels Forderung leider keine Wendung ins Bizarre, sondern in ein wenig überzeugendes Melodram: Natürlich verliebt sich Inge, deren Ehemann ein absolutes Arschloch ist, in den biederen Nachtwächter, weil der echtes Interesse an ihr zeigt. Ein Happy End darf es aber nicht geben, weil sich Inge wie einst Winnetou in einen auf Old Shatterhand Randel abgefeuerten Schuss wirft. Derrick guckt drein, als wollte er sagen: „Kinders, was macht ihr immer nur für Sachen.“ Glatzeder ist gut als schwitzender Schurke, aber die Episode ist nicht mehr als unterer Durchschnitt.

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Episode 251: Die zweite Kugel (Horst Tappert, Deutschland 1996)

Johannes Kahlert (Dirk Galuba) erpresst Schutzgeld von italienischen Gastronomen. Veronese (Peter Bertram) weigert sich zu zahlen, also schickt Kahlert seinen Laufburschen Valentino (Götz Hellriegel), um ihn einzuschüchtern. Der nimmt seinen Freund mit, Kahlerts Sohn Konrad (Oliver Hasenfratz). Im Gasthaus des Opfers kommt es allerdings zu einem Schusswechsel, bei dem Konrad durch eine Kugel am Arm verwundet wird und Veronese daraufhin erschießt. Weil er medizinische Versorgung benötigt, aber nicht riskieren kann, dass die Schusswunde der Polizei gemeldet wird, wendet er sich an den Priester Figges (Philipp Moog), um vor diesem die Beichte abzulegen und somit auf das Beichtgeheimnis bauen zu können. Tatsächlich erklärt sich der Pfarrer bereit, einen Arzt (Lambert Hamel) zu organisieren, der dichthält. Derrick kommt der Sache schnell auf die Spur, aber er möchte den Täter identifizieren, ohne den Pfarrer zum Verletzen des Beichtgeheimnisses zu zwingen.

Vielleicht ist diese Folge die ultimative Neunziger-DERRICK-Episode: Philipp Moog spielt einen Pfarrer und Derrick agiert als Hebamme der Wahrheit mit Respekt vor einem heiligen Gelübde. Erzählt wird in getragenem Tempo, alle Schauspieler sind mit großem Ernst bei der Sache, der sich in einer respektvollen Behutsamkeit niederschlägt, so als hätten sie Angst, Reineckers fragile Prosa könne sonst zerbrechen. Selbst Galuba, sonst der verlässliche Mann fürs Grobe, reißt sich sichtlich am Riemen: Anstatt seinem dämlichen Sohn gründlich den Arsch zu versohlen, schluckt er den Ärger herunter. Heraus fällt allerdings eine Actionszene, wahrscheinlich eine von insgesamt drei überzeugenden in 30 Jahren DERRICK: Aus einem fahrenden Auto wird mit einer Maschinenpistole auf den holzhackenden Pfarrer geschossen (Moog im weißen Shirt und Latzhose vorm Holzstapel), der sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit bringt. Hatte Tappert als Vorbereitung etwa John Woo studiert?

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Episode 252: EInen schönen Tag noch, Mörder (Alfred Weidenmann, Deutschland 1996)

Der Buchhalter Dannhof (Gerd Burkard) kommt mit schlechten Nachrichten auf die Großbaustelle seines Chefs, des Bauunternehmers Kottler (Volker Lechtenbrink): Dessen Geschäft steht kurz vor dem Konkurs, das Überleben hängt von frisierten Zahlen ab, die Dannhof aber nicht liefern will. Kottler nimmt den Buchhalter mit auf einen kleinen Spaziergang und stößt ihn dann in die Baugrube. Rudolf (Stefan Kolosko), Sohn des Kranführers Alex Hasinger (Stefan WIgger), hat wie sein Vater alles gesehen, doch der Ältere zwingt den Jungen zur Falschaussage: Alles sei ein Unfall gewesen, Kottler habe versucht, den stürzenden Dannhof festzuhalten. Dannhofs Kinder, Albert (Philipp Brammer) und Erika (Natali Seelig), sind am Boden zerstört. Aber Derrick gibt nicht auf und bringt Kottler dazu, die Kinder des Toten auf einen großen Empfang einzuladen.

Volker Lechtenbrink ist gut, Philipp Brammer nervt und Reinecker war beim Verfassen des Scripts wohl nicht durchgehend im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Im Streitgespräch mit Dannhof, bei dem auch Kottlers engste Mitarbeiter anwesend sind, gesteht der Unternehmer, dass er „derzeit schwach“ sei, aber diese Schwäche garantiert nicht zeigen werde: Was damit, dass er es ausgesprochen hat, ja irgendwie hinfällig ist. Viel Zeit wird darauf verwendet, das Leid des trantütigen Geschwisterpärchens einzufangen: Vor allem diese Erika ist grauenvoll, sagt in der ganzen Episode kein Wort, guckt lediglich deprimiert aus der Wäsche und lässt sich von ihrem Bruder in den Arm nehmen. Was soll das?

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Cormans Poe-Verfilmungen HOUSE OF USHER, THE PIT AND THE PENDULUM, THE PREMATURE BURIAL und TALES OF TERROR waren zu Beginn der 1960er-Jahre immens erfolgreich und verhalfen dem emsigen Billig- und Vielfilmer plötzlich zu vorher ungeahntem Respekt und Bekanntheit. Unter anderem erregten die Filme auch das Interesse des altgedienten Produzenten Edward Small, der als Geldgeber für TOWER OF LONDON fungierte. Wer letzten Endes die Idee dazu hatte, Shakespeares „Richard III.“ und „Macbeth“ zu verquicken, ist von meiner Warte aus nicht abschließend zu beurteilen: Sowohl Produzent Gene Corman, Rogers Bruder, als auch Small selbst behaupteten, den Ausschlag gegeben zu haben. Angeblich befürchteten Gene und Drehbuchautor Leo Gordon, der Bedarf des Publikums könne nach vier Poe-Filmen gesättigt sein und nach einer Abwechslung verlangen. Wenn dem so war, erwies sich ihre Befürchtung als falsch: TOWER OF LONDON war kein großer Erfolg beschieden und Corman kehrte danach schnell wieder zu dem bewährten, keinesfalls ausgereizten Erfolgsrezept zurück, drehte innerhalb von zwei Jahren THE RAVEN, THE MASQUE OF THE RED DEATH und schließlich TOMB OF LIGEIA. TOWER OF LONDON bezeichnete er rückblickend als „foolish“ und beklagte sich über die ständigen Interventionen seines Geldgebers Small. Die ursprünglich auf drei Filme angelegte Zusammenarbeit der beiden wurde aufgrund beiderseitiger Unzufriedenheit noch während der laufenden Dreharbeiten wieder aufgelöst. Small blieb dem Filmgeschäft danach noch einige Jahre erhalten und finanzierte im Anschluss unter anderem die beiden Vincent-Price-Filme TWICE TOLD TALES und DIARY OF A MADMAN, bevor er 1977 verstarb.

Hauptfigur von TOWER OF LONDON ist der körperlich wie seelisch deformierte Richard, Herzog von Gloucester (Vincent Price), Bruder des sterbenden Königs Edward (Justice Watson) und des braven George, Herzog von Clarence (Charles Macauley). Entgegen Richards Erwartungen ernennt Edward George zum Vormund seiner beiden Söhne und zum Interims-König und entfacht damit den Zorn und Neid des krankhaft ehrgeizigen Mannes. Der König ist noch nicht tot, da hat Richard seinen Bruder bereits erdolcht – mit einem Messer, dessen Griff das Wappen der Woodvilles zeigt, der Familie der Königin. Als nächstes muss die Kammerzofe Mistress Shore (Sandra Knight) dran glauben, weil sie sich weigert, das Gerücht zu streuen, die Prinzen seien unehelich gezeugt worden: Sie stirbt auf der Streckbank. Die Schandtaten gehen allerdings nicht spurlos an Richard vorbei: Die Geister der Ermordeten erscheinen ihm, prophezeien ihm den Tod an einem Ort namens Bosworth, durch die Hand eines Toten und treiben ihn sogar dazu, seine geliebte Gattin Anne (Joan Camden), seine einzige Vertraute, im Wahn zu erwürgen …

Das Drehbuch vermischt, wie bereits erwähnt, zwei Shakespeare-Dramen zu einem milde schwarzhumorigen Historienstoff inklusive Geisterzulage, der unter der versierten Hand Cormans durchaus schön und stimmungsvoll, aber letztlich doch etwas zu vorhersehbar und gemütlich geraten ist, um nachhaltige Spuren zu hinterlassen. Vordergründig mag sich TOWER OF LONDON von Cormans Poe-Adaptionen nur durch das Schwarzweiß (und natürlich die literarische Vorlage) unterscheiden, aber das hieße, das Genie seiner Horror-Klassiker zu verkennen. Sein Poe-Zyklus, so traditionsbewusst, klassisch und literarisch er auch anmuten mochte, zündete ja nicht zuletzt bei der jungen Generation, die zu Beginn der Sechzigerjahre sicherlich andere Dinge im Kopf hatte als die Klassiker der amerikanischen Schauerliteratur. Hinter der barocken Fassade verbargen sich Filme, die gnadenlos mit der Elterngeneration abrechneten, die Alten als verdrehte, neurotische, mitunter gar verbrecherische Heuchler zeichneten, die sich nicht nur weigerten, loszulassen und die Zügel den Jüngeren zu überlassen, sondern sie gleich mit ins Verderben rissen. Dieser Aspekt schwingt zwar auch in TOWER OF LONDON mit – in der wahrscheinlich schockierendsten Szene des Films fällt Richard zusammen mit seinem Kompagnon Ratcliffe (Michael Pate) über die beiden noch nicht den Kinderschuhen entwachsenen Prinzen her und erstickt sie mit einem Kissen im Schlaf -, aber der Anstrich des Historienfilms und die Geschichte um Thronfolge und höfische Ränkespiele entziehen den Film auch dem Erfahrungshorizont des Zuschauers, der sich eher fühlt wie ein distanzierter Museumsbesucher vor einem Glaskasten mit halbverfallenen Reliquien. Vincent Price hat sichtlich Spaß, als langsam dem Wahn verfallender Buckliger voll aufzudrehen, aber das Drehbuch hätte etwas mehr Fallhöhe vertragen können: Richard ist schon in der ersten Szene ein mörderisches Dreckschwein und die sich anschließende 90-minütige Talfahrt lässt als einzig offene Frage, wer der Tote ist, durch dessen Hand er sein Leben verlieren wird. Das ist nicht unbedingt das tragfähigste und noch weniger ein spannendes Konzept.

Im Netz steht überall zu lesen, dass TOWER OF LONDON nichts mit dem gleichnamigen 1939er-Film von Rowland V. Lee zu tun habe (aus dem Corman sich zur Bebilderung der finalen Schlacht bediente), was ich nach Überfliegen diverser Inhaltsangaben für eine einigermaßen abenteuerliche Behauptung halte. Beide Filme drehen sich um Richard, Herzog von Gloucester, und seine verbrecherischen Anstrengungen, den Thron zu besteigen, basieren lose auf Shakespeares Stück und enden mit Richards Tod auf dem Schlachtfeld. Es sind schon Filme für weniger Gemeinsamkeiten als „Remakes“ bezeichnet worden.

35 mm #36

Veröffentlicht: Januar 27, 2020 in Film, Zum Lesen
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Es ist nicht mehr ganz aktuell, aber noch aktuell genug, um es hier noch unterzubringen. Die Dezemberausgabe des 35mm Retro-Filmmagazins raus und im Online-Shop erhältlich. Passend zur Jahreszeit – aber nicht zum Wetter – steht das Heft ganz im Zeichen des Schnees. Es gibt einen Beitrag zu Schnee-Noirs, zur Bedeutung des Schnees in CITIZEN KANE und ALL THAT HEAVEN ALLOWS und zu den Schnee-Kriegsfilmen FIXED BAYONETS und SKI TROOP ATTACK. Das ist natürlich noch nicht alles an Winter-Content, denn unter anderem habe ich mir für meine Noir-Kolumne Robert Siodmaks CHRISTMAS HOLIDAY angeschaut. Das Heft könnt ihr wie immer hier bestellen.

Francos Gothic-Trilogie findet nach dem schwachen LA FILLE DE DRACULA ihren unangefochtenen Höhepunkt in LE MALDICIÓN DE FRANKENSTEIN, der die dunkelromantische Poesie von Filmen wie UNE VIERGE CHEZ LES MORTS VIVANTS oder LES CAUCHEMARS NAISSENT LA NUIT mit der pulpigen Wildheit und der unbekümmerten Improvisation von DRACULA CONTRA FRANKENSTEIN, dem Auftakt des Dreigespanns, vermählt. Alle Stärken des Spaniers kommen hier ungefiltert zum Vorschein: die betörende Ungeschliffenheit seiner traumgleichen Bildkompositionen, seine ungezügelte Fabulierfreude, die sich auch von einem wieder einmal sichtbar kargen Budget nicht in Ketten schlagen lässt, die mitunter verblüffenden visuellen Einfälle und dann natürlich diese fremdartige Stimmung, mit der das alles beatmet wird. Eigentlich müsste LE MALDICIÓN DE FRANKENSTEIN ein fürchterlicher Rohrkrepierer sein, aber stattdessen wird man schon von den ersten Sekunden völlig in seinen Bann geschlagen. Was auch daran liegt, dass Franco mit einem richtigen Knalleffekt einsteigt. Anders als andere Filme, die einem Auftakt nach Maß nichts hinzuzusetzen wissen, wird sein durchgedrehtes Frankenstein-Epos danach aber nur noch wahnsinniger.

Dr. Frankenstein (Dennis Price) ist am Ziel seiner Träume als Wissenschaftler angelangt: Er hat ein silbernes Monster (Fernando Bilbao) erschaffen, das nach dem passenden Elektroschock zu brüllen anfängt: „Mein Kopf! Diese Schmerzen!“ Der Forscher, der sich von kleinen Unzulänglichkeiten den Spaß nicht verderben lässt, frohlockt: Die Kreatur spricht, also ist sie denkfähig! Wenig später stürmt eine halbnackte Frau (Anne Libert) in das Labor: Sie ist mit Federn bedeckt, hat Klauen statt Finger, stößt einen schrillen Vogelschrei aus und attackiert dann den Hals des hilflosen Frankenstein, während ihr Assistent seinen Gehilfen (Jess Franco) erdolcht. Die beiden Attentäter karren das Monster daraufhin in einer Kiste ins malerisch auf einer Klippe gelegene Schloss des schurkischen Cagliostro (Howard Vernon), der es benötigt, um eine Rasse von Supermenschen zu erschaffen. Dem Plan Cagliostros stellen sich Dr. Seward (Alberto Dalbés) und Vera Frankenstein (Beatriz Savón), die Tochter des Wissenschaftlers entgegen, der – ebenfalls mit dem Wunder der Elektrizität zu bemitleidenswertem Leben erweckt – hilfreiche Ermittlungstipps gibt.

Schon dieser Versuch einer Zusammenfassung sollte Liebhabern grellen Pulps die Herzen aufgehen lassen: Was Franco hier auftischt, ist natürlich hirnerweichernder Blödsinn, aber das spielt angesichts des gebotenen Ideenreichtums und der betörenden, Genredefinitionen sprengenden Eigenartigkeit seines Films keine Rolle. LA MALDICIÓN DE FRANKENSTEIN operiert jenseits gängiger erzählerischer Paradigmen: „Spannung“ oder „Dramaturgie“  im herkömmlichen Sinne verstanden spielen keine Rolle für das, was Franco tut. Der Film folgt seiner eigenen Logik: Selbst der auch recht abgedroschene Begriff der „Atmosphäre“ beschreibt nur unzulänglich, was hier passiert. Gleichzeitig ist sein Horrormärchen aber auch wieder recht straight: Man kann seiner Geschichte durchaus folgen, nur ist sie ihm lediglich Mittel zum Zweck für seine wüsten Einfälle. In einer Sequenz werden Vera Frankenstein und der verräterische Gehilfe Cagliostros aneinandergefesselt, in einen Kreis aus am Boden befestigten Eisenstacheln gestellt und dann vom silbernen Monster ausgepeitscht, während um sie herum die Schöpfungen von Cagliostros „neuer Rasse“ – Statisten in Halloweenkostümen – anfeuernd zuschauen. Ziel des perfiden Spiels ist es, zu überleben, indem man den anderen als „Fallschutz“ missbraucht. Franco dehnt die Sequenz gnadenlos aus, aber das ganze Setting ist so herrlich durchgeknallt, dass man dem ganzen gern in voller Länge beiwohnt. Hervorzuheben ist auch Howard Vernon, der seinen Cagliostro als charismatisch-selbstverliebten Zampano mit soulpatchigem Kinnbart gibt und damit weniger wie der Schurke eines Horrorfilms als vielmehr wie ein besonders exzentrischer Showmaster oder Las-Vegas-Magier rüberkommt. Auch Schauspielveteran Dennis Price verdient unsere Aufmerksamkeit: Kurz vor seinem Tod und von der Alkoholsucht gezeichnet, liefert er als wiederbelebter und auf einer Liege aufgebahrter Frankenstein eine Leistung ab, bei der man nicht weiß, ob man seine Aufoperungsgabe bewundern oder seinen Grad an Selbstverleugnung bemitleiden soll. Und Anne Libert, die bereits in UNE VIERGE CHEZ LES MORTS VIVANTS als Muse für Francos Phantasmagorien diente, ist als Vogelfrau ein echter Showstopper.

Wer diesen speziellen Franco-Vibe zu lieben gelernt hat, kommt um LE MALDICIÓN DE FRANKENSTEIN kaum herum; wer nicht weiß, was es mit Franco auf sich haben soll, findet hier einen wie ich finde recht munteren Einstieg. Wem das zu vage ist, der kann sich überlegen, wie reizvoll er die Vorstellung eines zu Beginn der Siebzigerjahre in Kollaboration von Jean Rollin, Helge Schneider und René Cardona inszenierten BARBARELLA-Horror-Remakes findet.

 

 

 

Zur mittlerweile 5. Ausgabe des Morbid Movies haben wir uns etwas Feines ausgedacht. Beim „Hieb- & Stichfest“ widmen wir uns an zwei Tagen ausschließlich und in angemessener Ausführlichkeit einem unserer Leib- und Magengenres: dem Slasherfilm.

Wie immer wird das erlesene Programm sowohl ausgesuchte Schlitzerpreziosen von 35 mm enthalten als auch diverse Digitalscreenings – leider ist es nämlich gar nicht so einfach, brauchbare und vor allem nicht gnadenlos überteuerte Kopien ausfindig zu machen, liefen doch viele der schönen Slasherfilme in Deutschland gar nicht oder aber nur in radikal gekürzten Fassungen im Kino.

Da wir aber bekannt dafür sind, gern die Blutwurst kreisen zu lassen, gibt es bei uns ausschließlich mit der groben Kelle – und dafür greifen wir dann halt auch mal auf die Konserve zurück. Schließlich geht doch nichts über ein schönes Dosengulasch vom Discounter. Und wo wir schon beim Thema sind: Das Screening von ZOMBI RITUAL, dem neuen Film der Nürnberger Postmortem Productions, die vor zwei Jahren schon mit ihrem MANIA am Start waren, wird garantiert wieder für volle Hütte, ausgelassene Stimmung und fliegende Schlachtabfälle sorgen.

In diesem Sinne: Wer zuletzt kommt, den bestraft der Jason.

 

 

Sturmbannführer Walter Kraft (Manfred Krug), der ein Konzentrationslager unter seiner Aufsicht hat und begeisterter Boxer ist, wurde vom Häftling Kominek (Stefan Kvietik), den er mit besonderer Zuwendung über Wochen zu einem gleichwertigen Gegner aufgepäppelt hat, in einem Trainingskampf niedergestreckt. Die Schmach sitzt tief in dem stolzen, eingebildeten Nazi: So weit ging sein Sportsgeist dann doch nicht, und er überlegt nun, ob er den aufmüpfigen Tschechen für den Affront durch den „Schornstein schicken“ soll. Seine treue Gattin Helga (Valentina Thielová) rät ihm ab: Er solle an die Zeit nach dem Krieg denken, wenn alle, die ihn im Ring sehen, sagen werden, dass er seinen Gegner nach einer Niederlage habe hinrichten lassen und ihm so die aussichtsreiche Boxerkarriere ruinieren. „Glaubst du, die Menschen sind dazu wirklich fähig?“, fragt er sie enttäuscht. „Ich glaube, sie sind zu noch viel Schlimmerem in der Lage“, antwortet sie. Im Hintergrund steigt schwarzer Rauch aus einem Schornstein.

Wenn der Sportfilm (und natürlich Sport selbst) eine gleichnishafte Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Lebens auf spielerischer Basis und in einem eng abgezirkelten Bereich – Sportplatz und Regelwerk – darstellt, dann ist der Boxfilm (und analog der Boxsport) sowohl die reinste als auch die direkteste Umsetzung dieser Idee: Es muss nicht ein Ball ins, übers oder durchs Netz geschossen, geworfen, geschlagen oder sonstwie bugsiert werden, vielmehr geht es darum, den Gegner mit einem Schlag niederzustrecken – und selbst stehenzubleiben. Der Boxer ist der Inbegriff des leidenden Helden: Er stählt seinen Körper, lässt sich verprügeln, um am Ende blutend zu triumphieren. Leiden tut er trotzdem, auch der Sieg ist mit Schmerzen verbunden. „Es geht nicht darum, wie oft du niedergeschlagen wirst, sondern darum, wie oft du wieder aufstehst“: Der Satz, den Rocky Balboa – der neben Muhammad Ali wahrscheinlich berühmteste Boxer aller Zeiten – in ROCKY BALBOA ausspricht, beschreibt offenkundig nicht nur seine Kampf-, sondern auch seine ganze Lebensphilosophie. Im Boxen wie im Leben geht es für ihn darum, sich unter extremen Bedingungen zu behaupten und einfach immer einmal mehr und härter auszuteilen als er selbst einstecken muss. So lehrt der Boxsport auch eine gewisse Duldsamkeit: Selbst den Sieg gibt es nicht kostenfrei, er steht am Ende eines Leidenswegs – ja, vielleicht machen die Schmerzen und Entbehrungen, die man überstehen muss, den Triumph überhaupt erst so wertvoll.

Vor diesem Hintergrund erscheint es als logisch, warum der Gefängnis- und der Sportfilm in der Filmgeschichte so eine überaus produktive Liaison gepflegt haben (bzw. warum Sport und Haft eng miteinander verwoben sind). Im sportlichen Wettkampf überwindet der Häftling die physischen Mauern sowohl des eigenen Körpers als – damit verknüpft – auch der ihn umgebenden Haftanstalt. Es ist ein Prozess der Transzendenz durch eine Art sublimierte Selbstauflösung: Besonders leistungsfähig ist der Sportler immer dann, wenn er zu denken aufhört, wenn er nur noch eine mechanische Abfolge präzise einstudierter und instinktiv ablaufender Bewegungen ist. Wenn das Denken im Knast wahnsinnig macht, ist eine Tätigkeit, bei der das Denken zumindest vorübergehend ausgeschaltet wird, die Erlösung. Und der Sport ermöglicht unter Bedingungen, innerhalb derer kein Erfolg und schon gar keine Überwindung der Mauern vorgesehen ist, einen Sieg, auch wenn der keine zählbaren Folgen hat. Knastsportfilme sind fast ein eigenes Filmgenre (man denke an THE LONGEST YARD, VICTORY, GRIDIRON GANG oder MEAN MACHINE), Knast-Kampfsportfilme noch einmal ein eigenes innerhalb des Actionfilms (siehe z. B UNDISPUTED, UNDISPUTED II und UNDISPUTED 3: REDEMPTION) und sonst kommt es auch in zahlreichen „normalen“ Knastfilmen zum sportlichen Zeitvertreib (siehe LOCK UP). BOXER A SMRT, in dem ein tschechischer KZ-Insasse die Chance erhält, einen seiner Peiniger zu besiegen und damit vielleicht auch zu einem groß angelegten Ausbruchsversuch beizutragen, wendet dieses Motiv- und Themenfeld überaus konsequent und auf erschütternde, aber niemals melodramatische, sondern im Gegenteil hochgradig zurückhaltende, ja beinahe nüchterne Art und Weise auf die Vernichtungspolitik des Dritten Reiches an. Vielleicht stellt der Film sogar so etwas wie die Apotheose des oben zusammengefassten Komplexes dar.

Erwähnter Kraft vertreibt sich die Freizeit in seiner insgesamt eher langweiligen Tätigkeit als KZ-Verantwortlicher mit regelmäßigen Boxtrainings, bei denen ihm seine Frau und diverse Lakaien immer wieder bestätigen, wie gut in Form er sei. Leider fehlt es ihm jedoch an einem wenigstens halbwegs gleichwertigen Sparringspartner, der eine Herausforderung darstellte und dazu beitrüge, dass Kraft sich verbessert. Er wird schließlich fündig in Kominek: Der Mann soll wegen eigentlich wegen eines Fluchtversuchs hingerichtet werden, doch er weicht einem Schlag Krafts so geschickt aus, dass dieser sofort den herbeigesehnten, erfahrenen Boxer in ihm erkennt. Der benötigt natürlich etwas Zuwendung, da er durch die Strapazen des Lageralltags schwer abgemagert und außer Form ist: Die Sonderrationen, mit denen er aufgepäppelt wird, tragen ihm natürlich die Eifersucht seiner weniger begünstigten Kameraden ein, doch mit seiner Sonderrolle ergeben sich auch für sie neue Perspektiven: Kraft nimmt Kominek zum Training mit nach draußen, sodass sich der Kontakt zu einer im Widerstand tätigen Tschechin ergibt, die den Häftlingen bei einem Fluchtversuch helfen soll. Doch zuerst will Kominek seinen Peiniger endlich einmal besiegen.

BOXER A SMRT zeigt die absurde, grausame Willkür eines totalitären Regimes in klaren Bildern und ungeschönter, aber keinesfalls sadistischer Direktheit. Die Häftlinge werden zu sinnlosen Tätigkeiten verdonnert – einmal sieht man, wie sie im Kreis Dreck von einem Haufen zum nächsten schaufeln, einmal müssen sie sich auf Kommando hinlegen und wieder aufstehen, bis sie nicht mehr können -, immer wieder werden einzelne aus purer Langeweile der Wärter erschossen. Kraft ballert einmal einfach so aus dem Fenster seines Büros in die entfernt stehende Menge: Dass man wieder sieht wer, noch ob überhaupt jemand fällt, spiegelt die ganze banale Alltäglichkeit sinnlosen Mordens und Sterbens wider: Es ist einfach bedeutungslos geworden. Dann wieder wird einer von ihnen – der Protagonist Kominek – auserwählt und entgegen des vorherrschenden Dogmas bevorzugt behandelt: Sein Wohlergehen ist auf einmal von allergrößter Bedeutung, bloß weil es Kraft so gefällt. Er baut eine Beziehung auf zu dem Mann, den er eigentlich hinrichten wollte, doch auch diese Beziehung ist ein trügerisches Konstrukt: Kominek ist für Kraft nicht mehr als ein menschliches Werkzeug.

Auch der Ort, an dem sich das alles abspielt, ist bizarr: Ein in der Einöde errichtetes Barackendorf, das keine andere Funktion hat, als Menschen zu knechten und sie dann doch nach dem Zufallsprinzip durch den Schornstein zu jagen. In einer in ihrer Einfachheit sprachlos chenden Szene taumelt der vom Training kommende Kominek geradewegs durch eine aus dem Krematorium kommende Rußwolke, atmet den Rauch ein, von dem wir und er wissen, dass es sich um die Überreste seiner Kameraden handelt. Wie kann man damit leben? Wie lebt man damit? Kominek lehnt sich gegen den Wahnsinn auf, der Sport gibt ihm ein Ziel, auf das er fieberhaft hinarbeitet. Er will nichts mehr als seinen Gegner nur einmal auf die Bretter zu schicken. Als es ihm gelingt, ist er stolz, auch wenn der Sieg ihm keinen Preis einbringt. Im Gegenteil: Sein Triumph ist ein Affront, für den er eigentlich den Tod verdient. Darin ist die ganze groteske Absurdität der Situation enthalten: Er wird trainiert, ein ebenbürtiger Gegner zu sein, aber zu ebenbürtig darf er dann doch nicht sein. Das Ende von BOXER A SMRT ist wie der ganze Film: Ohne große Emphase oder raumgreifendes Pathos, sondern leise, hintersinnig, raffiniert. Wenn man nicht aufpasst, fliegt es an einem vorbei wie Asche. Peter Solan braucht keine Kabinettstückchen, keinen brausenden Score, keine Schnittgewitter, einfach nur die Stille und das Gesicht seines Protagonisten, das nichts mehr zeigt außer Leere.

 

Raymond Franval (Andrés Resino) und seine Geliebte Beatriz Coblan (Geneviève Robert) werden von Emilia (Danielle Godet), Raymonds eifersüchtiger Schwiegermutter, und dem despotischen Machthaber Mendoza (Jean Guedes), dem gehörnten Ex Beatriz‘, aus Rache eines Mordes bezichtigt und landen auf der titelgebenden Gefängnisinsel, wo sie von den tyrannischen Wärtern Senora Cardel (Rose Palomar) respektive Weckler (Jean-Louis Collins) gedemütigt und gequält werden. Am Sterbebett Mendozas erfährt ihr Anwalt (Dennis Price), was er schon lange wusste, nämlich dass die beiden unschuldig sind, und unternimmt daraufhin einen Versuch, sie zu retten.

Der WiP-Film, an dessen Popularität Franco mit etlichen Filmen maßgeblich mitgearbeitet hat, ist ein problembehaftetes Genre: Die vordergründige Kritik an Totalitarismus und Strafvollzug ist ihm in der Regel nur ein willkommenes Deckmäntelchen, das seinen männlichen Zuschauern ein Alibi liefert, sich ruhigen Gewissens Lesbensex, Vergewaltigungen und Sadomaso-Einlagen hinzugeben. Wahrscheinlich gibt es kein einziges kommerzielles Filmgenre neben dem Porno, das so auf die Objektifizierung von Frauen setzte wie dieses. Freilich funktionierte das auch andersrum, wie etwa in Jonathan Demmes eher links zu verortendem Genrebeitrag CAGED HEAT, der das Versprechen von Sex und Gewalt wiederum dazu nutzte, um seinen Zuschauern eine Botschaft von Nonkonformismus, Auflehnung und Konsumverweigerung unterzujubeln, und tatsächlich steht LOS AMANTES DE LA ISLA DEL DIABLO diesem deutlich näher als anderen Frauenknastfilmen Francos. Der Film spielt in einem nicht näher konkretisierten süd- oder mittelamerikanischen Staat, aber es ist ziemlich offensichtlich, dass Franco sich an der faschistischen Regierung Spaniens abarbeitet und die Handlung lediglich auf einen anderen Kontinent verlegte, um der Zensur aus dem Weg zu gehen. Mehr als um genüsslich zelebrierte Sadismen geht es hier also um die Grausamkeit eines totalitären Regimes, dessen einziges verlässliches Prinzip es ist, dass der Staat immer Recht hat. Die Kolportage- und Episodenhaftigkeit, sonst ein deutliches Merkmal des WiP-Films, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, jede sexuelle Vorliebe seines Publikums zu bedienen, weicht demnach der Konzentration auf die beiden Hauptfiguren und ihr grausames Schicksal, und die sie umgebenden Figuren sind lediglich von Interesse, sofern sie dieses Schicksal beeinflussen. LOS AMANTES DE LA ISLA DEL DIABLO ist kein greller Exploitation-Feger voller spektakulärer Episoden, comichafter Charaktere und geschmackloser Highlights, sondern aus einem Guss, sehr konsequent und von Franco tatsächlich ungewöhnlich konzentriert auf sein niederschmetterndes Finale hin konstruiert und inszeniert. Erstaunlich eigentlich, dass er zu den eher unbekannteren, seltener gepriesenen Werken des Spaniers zählt. Natürlich muss man ein paar Abstriche bei den Production Values machen: Die „Teufelsinsel“ ist ganz offensichtlich keine solche, denn Franco zeigt immer nur das an einer Steilküste liegende festungsartige Gebäude. Howard Vernon hat lediglich zwei, drei kurze Szenen, die nahelegen, dass er nur eine Stippvisite am Set absolvierte, weil er vielleicht gerade in der Gegend war. Das irritierendste Merkmal ist aber der gut sichtbare Fleck am Revers von Price‘ Anzugjacke: Der britische Mime hatte ein starkes Alkoholproblem entwickelt und auch sein Anwalt wirkt eher wenig vertrauenswerweckend, insofern ist es denkbar, dass Franco ihm absichtlich ein verschmutztes Jackett anzog. Ich vermute aber, dass Price sein Jackett verschmutzte und in der Kürze der Zeit keine Lösung für das Problem gefunden werden konnte. Eine erzählerische Ungereimtheit erinnert hingegen an EL SECRETO DEL DR. ORLOFF mit der geradezu magischen Genesung eines todkranken: Hier altert der schurkische Mendoza zwischen der Eröffnungssequenz, in der er die Protagonisten in den Bau bringt, und seinem Geständnis um Jahrzehnte, gesteht sein Verbrechen auf dem Sterbebett, während Raymond und Beatriz anscheinend nur einige Monate im Gefängnis weilen. Da ist im Eifer des Gefechts irgendwas schief gelaufen.

Trotzdem ist LOS AMANTES DE LA ISLA DEL DIABLO ein durchaus sehenswerter Film. In Frankreich wurde er unter dem Titel QUARTIER DE FEMMES in einer mit mehr Sex aufgebrezelten Fassung gezeigt. Die Version, die mir zur Verfügung stand, dauerte knapp 76 Minuten und ist damit rund 15 Minuten kürzer als es für die spanische Kinofassung des Films in Throwers Buch „Murderous Passions“ angegeben ist. Schien mir aber nicht gekürzt zu sein.

Mit diesem Mittelteil in Francos loser Gothic-Horror-Trilogie der frühen Siebzigerjahre (nach DRACULA CONTRA FRANKENSTEIN und vor LE MALDICIÓN DE FRANKENSTEIN) gelingt dem Regisseur das Kunststück, einen auf dem Papier geradlinigen, dazu vergleichsweise sauber inszenierten Film hoffnungslos zu vergeigen. Die Liste der unerklärlichen Fehlentscheidungen beginnt mit dem fragwürdigen Clou, eine Geschichte um Vampirismus ins Gewand eines bräsigen Whodunits zu kleiden, bei dem ein uninteressanter Inspektor (Alberto Dalbés) die Schar der Nebendarsteller befragt, deren Antworten den Zuschauer aber nicht tangieren, weil er ja längst weiß, woher die Bissmale kommen. Noch fahrlässiger ist aber sein Umgang mit der nominellen Hauptfigur Luisa Karlstein (Britt Nichols), der „Tochter Draculas“, die zu Beginn des Films vom Vampirgrafen (Howard vernon) gebissen wird und sich dann kontinuierlich in einen Vampir verwandelt, bis sie am Ende den Tod findet: Sie bleibt als Charakter vollkommen unscharf, taucht immer mal wieder auf, damit der Zuschauer nicht vergisst, dass sie ja auch noch da ist, und bestreitet ihre beiden größten Szenen nackt im Bett mit ihrer Cousine Karin (Anne Libert) im lesbischen (aber sehr soft gefilmten) Liebesspiel. Am Schluss, wenn sie in Sarg schlafend angezündet wird, bekommt sie noch nicht einmal einen Close-up spendiert, der sie unzweifelhaft identifizieren würde.

So verworren und in sich selbst versunken Francos Filme auch manchmal sind, normalerweise merkt man, was den Regisseur an ihnen interessierte. Und wenn man möchte, kann man die Schraddeligkeit eines Films wie DRACULA CONTRA FRANKENSTEIN auch ausgesprochen liebenswert finden. LA FILLE DE DRACULA hingegen ist anders, er macht zunächst einen planvollen und geordneten Eindruck, der dann aber dem Verdacht weicht, dass Franco schon vor der ersten Klappe den Bezug zum Stoff verloren habe und nun vergeblich versuche, ihn wiederzufinden. Er inszeniert die erste Vampirattacke tatsächlich im Stile eines Giallos mit Close-ups aufs geile Voyeuristenauge und einem mit schwarzem Trenchcoat und Hut vermummten Blutsauger, gibt sich selbst eine ziemlich große Nebenrolle als Skepsis-Skeptiker, der den Inspektor dazu mahnt, die Möglichkeit übersinnlichen Treibens nicht ins Reich des Aberglaubens zu verweisen, und lässt ein kleines, hier eher unbedeutendes Handlungsdetail aus LE MANO DE UN HOMBRE MUERTO Revue passieren. Handwerklich lässt LA FILLE DE DRACULA die auf große Eile deutende Schlamperei aus DRACULA CONTRA FRANKENSTEIN weitestgehend vermissen, aber dann gibt es eben doch wieder diese fragwürdigen Entscheidungen, die zeigen, dass doch vieles on the spot improvisiert oder verworfen werden musste. Hat er seine Hauptfigur vergessen oder hat er das Interesse an ihr verloren? Und warum wirken die Auftritt Draculas, die doch nach eine dramatischen Inszenierung verlangen, geradezu lustlos hingeworfen? Es ist nicht nachzuvollziehen.

Es fallen immerhin ein paar schöne Aufnahmen ab, die Musik ist eigentlich in fast allen Franco-Filmen zumindest dieser Zeit ausnehmend positiv hervorzuheben und Francos Part ist tatsächlich eines der besten Elemente von LA FILLE DE DRACULA, der von mir tatsächlich jenes Prädikat erhält, dass mir bei den allerwenigsten seiner Werke in den Sinn kommt: Mittelmaß.

 

Früher konnte man zwar überall lesen, dass Bakers NIGHTBREED, seine zweite Regiearbeit nach dem überaus erfolg- und einflussreichen Debüt HELLRAISER, vom produzierenden Studio, das ihn nicht verstand, gnadenlos verstümmelt worden war, aber es gab keine Möglichkeit, das nachzuvollziehen. Ich, der ich den Film trotzdem toll fand, war einigermaßen verwundert über Barkers Frustration, die ihn immerhin dazu bewog, sich vorerst aus dem Filmbiz zurückzuziehen und erst fünf Jahre später für LORD OF ILLUSIONS auf den Regiestuhl zurückzukehren (der dann aber leider ebenso floppte). Ja, NIGHTBREED wirkte ein wenig zerfahren, seine Schlusseinstellung war ohne Zweifel auf Geheiß der Produzenten angeklebt worden, die darauf hofften, dass der von David Cronenberg verkörperte Psychokiller Decker zu einem populären Slasher vom Schlage Freddys, Jasons, Michael Myers‘ oder Pinheads heranreifen würde – was natürlich nicht eintrat – und man konnte erahnen, dass Material der Schere zum Opfer gefallen war, aber es überwog bei mir dann doch die Faszination für diesen ungewöhnlichen Hybrid aus Horror und Fantasy, der so ganz ohne die dämlichen Teenies und selbstreferenziellen Gags auskam, die damals zur Grundausstattung eines jeden Horrorfilms gehörten. Dass die ca. 100-minütige Kinofassung des Films aber gegenüber Barkers Version um 50 Minuten gekürzt worden war, ließ aber durchaus erahnen, dass es noch einigen Spielraum nach oben gab. Nur kam es nie zu einer Veröffentlichung dieser integralen Fassung und NIGHTBREED ging als „Film, der nicht sein durfte“ in die Geschichtsbücher ein.

Das hätte es ja eigentlich sein können, aber mit dem Internet entstand dann ein Raum, in dem Liebhaber des Films sich zusammenschlossen und ihren Wunsch nach einer integralen Fassung zum Ausdruck brachten, ein Wunsch, der auch an Barkers Ohr drang – und da der Regisseur seinen Frieden mit dem Flop immer noch nicht geschlossen hatte, beauftragte er Mark Miller von seiner Produktionsgesellschaft Seraphim Films im Jahr 2009, nach dem verschollenen Material zu suchen. Tatsächlich förderte der einige VHS-Tapes des Workprints zu Tage, Kopien von Kopien in entsprechend mieser Qualität, sowie später weiteres Material: Auf dieser Basis wurde der sogenannte „Cabal Cut“ mit einer Länge von ca. 155 Minuten rekonstruiert und 2012 auf DVD veröffentlicht. Diese Version war aber letztlich auch nur eine Zwischenetappe auf dem Ziel zum restaurierten Director’s Cut, der 2014 seine BluRay-Veröffentlichung erfuhr und den ich nun endlich gesehen habe. Die Fassung unterscheidet sich von der ursprünglichen Kinoversion durch etwa 40 Minuten neues Material, ist insgesamt aber „nur“ etwa 20 Minuten länger und fühlt sich so organisch und rund an, dass ich glaube, diese Version mit Fug und Recht als die maßgebliche bezeichnen zu können – ohne den „Cabal Cut“ jemals gesehen oder die „offizielle“ Version noch einmal nachgeholt zu haben.

NIGHTBREED handelt von der geheimnisvollen Stadt „Midian“, einen Zufluchtsort für Außenseiter aller Art, die in der „normalen“ Welt keinen Platz finden. Einer dieser Außenseiter ist Boone (Craig Sheffer): Ihm erscheint die Stadt in äußerst lebhaften Träumen, als würden seine Bewohner ihn rufen. Er befindet sich nicht zuletzt wegen dieser Träume in Behandlung bei dem Psychologen Decker (David Cronenberg), der in Wahrheit ein Serienmörder ist und in Boone den idealen Sündenbock vorfindet: Er redet ihm ein, die blutigen Morde begangen zu haben, für die Decker in Wahrheit selbst verantwortlich ist, und treibt ihn schließlich in einen missglückten Selbstmordversuch. In der Klinik trifft Boone auf einen Patienten, der den Weg nach Midian kennt, und er begreift, was Decker vorhat. In Midian erhält er Zuflucht, doch Decker verfolgt seine Spur und trommelt eine ganze Armee umd den Fascho-Cop Eigerman (Charles Haid) zusammen, mit der er das Refugium der Freaks zerstören will.

Barkers Film ist als Horrorfilm nur sehr unzureichend beschrieben: Sein Dark-Fantasy-Comic ist eine unverkennbar queere Lobpreisung, ja Heroisierung nonkonformen Außenseitertums und Brandmarkung vermeintlicher Heldentypen als Faschos, Meuchelmörder und Kriegstreiber, die 1990 ein gutes Jahrzehnt zu früh kam. Im Grunde stellt NIGHTBREED eine dunkelromantische Paraphrase der X-Men-Comics dar, die im Jahr 2000 ihre vielbeachtete Kinoadaption feierten und deren Titelhelden dann sogleich als Vorkämpfer der Gay-Rights-Bewegung vereinnahmt wurden. Die Monster, die Midian bevölkern, sind allerdings deutlich weniger cool als die Mutanten um Professor Xavier und fühlen sich auch nicht dazu verpflichtet, Welt und Menschheit im Kampf gegen intergalaktische Superschurken zu retten. Sie begnügen sich damit, zurückgezogen in ihrer unteriridischen Stadt zu leben, dabei ihre eigenen Rituale und Bräuche zu pflegen, und scheuen auch nicht davor zurück, Eindringlingen, die ihr Geheimnis zu enthüllen drohen, mitleidlos den Garaus zu machen. Sie sind nicht per se liebenswert und verlangen auch keine Integration: Alles, was sie wollen, ist das Recht, unter ihren Bedingungen, in ihrer Heimat leben zu können. Und das ist im Rahmen der filmischen Handlung für viele Betonköpfe bereits zu viel verlangt. Der Film kulminiert in einer großen Schlacht, bei der die Redneck-Armee um Decker und Eigerman in ihrem blinden Hass auf alles, was anders ist, auch vor Frauen und Kindern nicht halt macht und die lebendige Kultur Midian gnadenlos dem Erdboden gleich macht. Zwar werden sie am Ende besiegt und in Gestalt des messianischen Kriegers Boone gibt es einen Silberstreif am Horizont, aber der Preis ist hoch.

Im Director’s Cut werden die Motivationen der Hauptfiguren deutlich stärker herausgearbeitet und die Gemeinschaft der Monster in Midian mit mehr Leben und Details gefüllt, aber auch die Grausamkeit und Engstirnigkeit, mit der die Gegner angreifen, bekommt mdeutlich mehr Raum. Die Epik, die Barker angestrebt haben dürfte und die in der Fassung, die einst im Kino lief, buchstäblich unterschnitten wurde, wird jetzt endlich spürbar. Endlich ist auch dieses hirnrissige Ende weg, endet NIGHTBREED auf einer gleichermaßen tragischen wie hoffnunsgvollen Note, anstatt auf billigstmögliche Art und Weise ein Sequel anzuteasern, von dem keiner so recht wusste, wovon es eigentlich handeln könnte. Alle, die NIGHTBREED bisher schon geliebt haben, aber immer das Gefühl hatten, den Film durch einen Schleier zu sehen, werden mit dem Director’s Cut überaus glücklich sein. Der Film hat aber immer noch ein paar kleinere Probleme: Craig Sheffer ist als Lead einfach nicht einnehmend und sympathisch genug und die Liebe zwischen seinem Boone und der Sängerin Lori (Anne Bobby) bleibt bloße Behauptung. Die beiden passen optisch einfach nicht zusammen – er ein kerniger Klotz, sie ein verwundbares Heimchen – und entwickeln auch keine Chemie, die diese vordergründigen Hindernisse transzendieren würde. Dabei ist die grenzüberschreitende Liebe zwischen den beiden ein ganz wesentlicher Antrieb für den Film. Darüber hinaus wird auch in der intakten Version nicht ganz klar, was Boone eigentlich für ein Problem hat: Die Träume von Midian müssen ja einen Grund haben, der aber im Dunkeln bleibt. Und dann sind da noch die manchesmal arg plump wirkenden Dialoge, die in den vergangenen 30 Jahren nicht unbedingt gut gereift sind und Barkers ambitionierter Bilderstürmerei nicht wirklich einen Gefallen tun. Wirklich ins Gewicht fällt das aber nicht, dafür ist die Vision einfach zu reizvoll, zumal NIGHTBREED tatsächlich das vielfach bemühte „visuelle Fest“ darstellt. Vor allem Freunde des „Handgemachten“ kommen hier dank hunderter ausgefeilter, fantasievoller Monstermasken, traumhafter Matte Paintings und aufwändiger Bauten auf ihre Kosten. Ja, wahrscheinlich könnte man dieses Midian mit CGI und Greenscreen heute noch größer, imposanter, bevölkerter und fremdartiger darstellen, aber ich bezweifle, dass das das hier spürbare Leben ersetzen könnte. Insofern ist NIGHTBREED nicht nur ein Film, der mit seinen Ideen zu früh kam, sondern auch eine Art genrehistorischer Endpunkt: Ein solcher Aufwand wurde für Genreproduktionen mit mittelgroßem Budget (NIGHTBREED kostete ca. 11 Millionen Dollar) nicht mehr betrieben. Der Horrorfilm dieser Größenordnung verlagerte sich danach ins Videosegment, mit den logischen Konsequenzen. Vielleicht wurde hier, in NIGHTBREED anno 1990, zum letzten Mal groß geträumt.