Mit ‘Drama’ getaggte Beiträge

Freddie Mercury hatte eine einzigartige, voluminöse und vielseitige Stimme, mit der er sowohl geradlinige Pop- und Rocksongs, Pianoballaden und opernhafte, theatralische Stücke intonieren konnte. Zudem war er „Frontmann“ und Rampensau, dem das Publikum aus der Hand fraß und für den das klischeehafte Wort „charismatisch“ viel zu klein war. Er war Gesicht einer Band, deren Sound bis heute so einflussreich wie unverwechselbar ist, die ein breites stilistisches Spektrum abdeckte und den Spagat zwischen kompositorischem und musikalischem Anspruch und Pop-Appeal meisterhaft schaffte, mit ihrer visuellen Selbstinszenierung zudem ihrer Zeit weit voraus war. (For the record: Ich mag Queen nicht besonders.) Er war außerdem eine Ikone der Schwulenbewegung, versteckte seine sexuellen Vorlieben nicht, sondern rieb sie den Menschen mit seinem Schnurrbart geradezu lustvoll unter die Nase – und er war natürlich das vielleicht prominenteste AIDS-Opfer zu einer Zeit, als die Krankheit noch Angst und Schrecken verbreitet. BOHEMIAN RHAPSODY, inszeniert von Bryan Singer, macht daraus ein Biopic, das um die wirklich spannenden Aspekte seiner Biografie einen unwürdigen Eiertanz vollzieht, jederzeit durchschaubare Formeln aus dem Drehbuch-Lehrgang abspult und die Frage aufwirft, warum man eigentlich die Biografie eines Weltstars benötigt, wenn man am Ende durch Abhaken fauler Plot Points doch nur wieder dieselbe Geschichte erzählt, die auch schon hundert vergleichbare Filme davor erzählt haben.

Klar, das Leben mag die besten Geschichten bereithalten, aber sie sind halt nicht so schön dreiaktig aufbereitet, mit einem sich durchziehenden Leitmotiv, dem großen Konflikt und der Versöhnung rechtzeitig zum dramatischen Happy End. BOHEMIAN RHAPSODY ist nach Lehrbuch gescriptet, sauberes Handwerk, aber leider auch bar jeder Inspiration, die eigentlich das Kerngeschäft eines Films um einen außergewöhnlichen Künstler sein sollte. Freddie ist der Loser mit den Immigranten-Eltern und dem putzigen Überbiss, der jedoch ganz entgegen seinem Aussehen über ein riesiges Selbstbewusstsein und eine Jahrhundertstimme verfügt, mit der er seine Bandkollegen in spe auf dem Parkplatz des schäbigen Schuppens wegbläst, in dem sie eben noch aufgetreten sind. Er hat die Visionen von Rockopern, die Ideen für die spektakulären Outfits, er weiß, wie die Songs und Gitarrensoli klingen müssen, er treibt die Band, die weitestgehend aus langweiligen Spießern besteht, zu Höchstleistungen, und macht sie zu Superstars. Wenn da nur sein ausschweifender Lebensstil nicht wäre: Dann hätte er seine one true love Mary (Lucy Boynton) nicht verloren, die Bandkumpels nicht verprellt, sich nicht mit der Schurkenschwuchtel Paul (Allen Leech) eingelassen und sich auch kein Aids eingefangen. Zum Glück kommt er rechtzeitig zum großen Finale noch zur Besinnung, entschuldigt sich für seine Egotrips und Ausbrüche und entsagt dem wilden Lebenswandel, sonst wäre der Welt der Auftritt bei Band Aid durch die Lappen gegangen und Bob Geldof jede Menge Geld. Denn erst als Queen die Bühne des Wembley Stadiums entern, klingeln die Telefone und die Zuschauer spenden Geld für die dritte Welt. Ich fühlte mich gegen Ende des Films wie bei „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“. Es fehlte eigentlich nur der weggelaufene Hund, der dann an Heiligabend von einem freundlichen Unbekannten unerwartet wieder zurück gebracht wird.

Auch Oberhack Bryan Singer kann BOHEMIAN RHAPSODY nicht komplett vergeigen, auch wenn er sich alle Mühe gibt: Immer wenn die Songs erklingen, reißt das auch die triste Soap Opera raus, aber es ist schon beeindruckend, wie scheiße ein Film aussehen kann, der sich um eine der visuell aufregendsten Bands des letzten Jahrhunderts rankt. Selbst bei Szenen in Londoner Vororten hat man den Eindruck, da wäre der Greenscreen aufgebaut worden, und so gut die Bandmitglieder auch gecastet sind, der Film wirkt einfach wie lustiger Mummenschanz auf Omas Dachboden. Rami Malek, den ich mir in der Hauptrolle ehrlich zugegeben gar nicht vorstellen konnte, gibt eine überzeugende Vorstellung, aber sein Kampf mit der Zahnprothese erinnert trotzdem mehr als einmal an den seligen Dieter Krebs oder Loriot – und mal ganz davon abgesehen muss ich einfach noch einmal festhalten: Wenn sich Film darauf beschränkt, Wirklichkeit imitieren zu wollen, ist irgendwas schiefgegangen. Den Film in einer rund 15-minütigen Simulation des Live-Aid-Gigs enden zu lassen, ist eine kreative Bankrotterklärung, ganz egal, wie authentisch das Original da nachgestellt wurde.

Das größte Ärgernis sind aber die schon angesprochenen Verrenkungen, die BOHEMIAN RHAPSODY vollführt, um sich bloß nicht zu sehr mit Mercurys Sexualität beschäftigen zu müssen. Die eine jugendfreie Sexszene des Films hat Mercury mit seiner Gattin, und auch sonst wird seine Homosexualität behandelt wie eine ärgerliche Laune des Schicksals, ein Laster, dem der Mann einfach nicht entsagen kann. Sein Freund Paul übernimmt die Rolle eines manipulierenden, die Band entzweienden und Mercury weiter in die gayness treibenden Schurken und wird bar jeder positiven Eigenschaften gezeichnet. Jim Hutton (Aaron McCusker), Mercurys langjähriger Lebensgefährte, ist dagegen ein braver, etwas biederer Gentleman, der mit dem Star wahrscheinlich eine rein platonische Beziehung eingeht. Das Drehbuch arrangiert sich mit Mercurys Sexulität ungefähr so wie dessen Filmeltern. Sie nehmen es hin. Es ist halt ihr Sohn und Hauptsache, er ist glücklich. Es ist traurig, das mitansehen zu müssen.

 


 

Schon nach wenigen  Minuten wusste ich, dass es undankbar und schwierig werden würde, über HUSTLERS zu schreiben. Der Film, der auf einem prämierten Zeitschriftenartikel basiert, wurde von der Kritik weitestgehend positiv aufgenommen und als positives Beispiel für female empowerment herangezogen. Jennifer Lopez, um die es in den letzten Jahren still geworden war, übernahm den saftigen Part der erfahrenen Profistripperin, die ein paar jüngere Mädchen unter ihre Fittiche nimmt, um mit ihnen reiche Männer auszunehmen. Es ist genau die Art von Rolle, bei der die Oscar-Nominierung quasi integriert ist. Es geht natürlich um die Macht der Männer und des Geldes, was über weite Strecken dasselbe ist, und die Wirtschaftskrise spielt auch eine wichtige Rolle. Produziert wurde der Film von Adam McKay und Will Ferrell, die sich ja so einen Ruf als „Linke“ in Hollywood aufgebaut haben. Wenn man in den Chor der lobenden Stimmen nicht uneingeschränkt einstimmen möchte, ist die Gegenrede bereits vorprogrammiert: Kann man HUSTLERS als Mann überhaupt ehrlich kritisieren? Ja, ich denke schon. Denn so sehr ich die Agenda des Films respektiere: HUSTLERS ist einfach flach. Seine Macher begreifen nicht, dass sie Teil des abgekarteten Spiels sind.

Destiny (Constance Wu) ist eine junge Stripperin, die in ihrem Club Tag für Tag abgezockt wird. Das ändert sich, als sie sich mit der erfahrenen Ramona (Jennifer Lopez) anfreundet, die sie unter ihre Fittiche nimmt und ihr nicht nur die spektakulären Moves beibringt, sondern ihr auch zeigt, wie sie den geilen Wall-Street-Typen das Geld aus der Tasche zieht. Unter Leitung der Veteranin findet Destiny, Freunde und Anerkennung – und verdient außerdem richtig viel Geld. Bis die Wirtschaftskrise zuschlägt und neue Maßnahmen erforderlich macht. Gemeinsam entwickeln die Mädels eine todsichere und nicht ganz legale Masche, ihren Kunden das Geld aus der Tasche zu ziehen. Es könnte ewig so weitergehen, doch dann wird Ramona gierig …

HUSTLERS erzählt die Geschichte von objektifizierten Frauen, deren Lebensgrundlage die Kohle ist, die männliche Karrieristen ihnen nach Feierabend in großzügiger Geste hinwerfen. Profis wie Ramona sind in der Lage, das Spiel zu ihren Gunsten zu beeinflussen, aber die Machtverhältnisse sind dennoch klar verteilt. Das wissen auch die Stripperinnen: Doch wenn das Spiel eh manipuliert ist, warum nicht selbst falsch spielen? Regisseurin Scafaria macht den Triumph der Frauen fühlbar, der Zuschauer freut sich mit ihnen, wenn sie auf der New Yorker Fifth Avenue in einen Shopping Spree geraten (wo sie sich ausschließlich potthässlich-dekadentes Zeug kaufen), auch wenn sie damit Existenzen zerstören. Und ich glaube durchaus, dass es den Produzenten nicht darum ging, die Freuden der Affluenz zu feiern, sondern gerade diese Jagd nach dem Mammon zu kritisieren, bei der alle, ausnahmslos alle Charaktere mitmachen. Aber HUSTLERS trägt diese Kritik nur zum Teil, denn visuell ist der Film geradezu besessen von schimmernden, glänzenden Oberflächen, von Designerklamotten, teuren Autos, Juwelen und anderen Statussymbolen – er findet das hustling seiner Protagonistinnen ohne Frage ziemlich sexy. Klar, dass da mal ein eigentlich netter Mann unter die Räder kommt, ist bedauerlich, aber die meisten haben es doch verdient. Wie praktisch, dass wir nie etwas über sie erfahren.

Dramaturgisch erinnert HUSTLERS an Scorseses Mafiaepos GOOD FELLAS, der ebenso auf dem schmalen Grat zwischen Anklage und Verehrung wandelte: Gerahmt wird HUSTLERS von einer wie nachträglich aufgepfropften Rahmenhandlung, in der Destiny ihre Geschichte einer Zeitungsjournalistin (Julia Stiles) erzählt. HUSTLERS bedient sich also einer Rückblendenstruktur, die der Hauptfigur die Möglichkeit gibt, reife Reue zu zeigen, und den Autoren die Gelegenheit, sich auf Handlungsebene gegen etwaige Vorbehalte zu wehren. So wirft Destiny der Journalistin immer wieder vor, Vorurteile gegen Stripperinnen zu haben oder ihre Geschichte für den reinen Sensationswert auszuschlachten. Ich will Scafaria und den Produzenten nicht absprechen, gute Vorsätze gehabt zu haben: Er handelt ohne Frage davon, wie unsere Welt alle zu Jägern degradiert, sie auf Materialismus konditioniert und so ihr Unglück befördert. Aber HUSTLERS funktioniert halt aber auch dann ganz gut, wenn man einfach nur geile Weiber tanzen sehen oder ein überlanges Hip-Hop-Video mit Bitches, Pelzmänteln, Klunkern, teuren Autos, absurden High Heels und jede Menger Drogen sehen will. Das könnte man subversiv finden, aber für mich wäre das deutlich zu viel der Ehre.

Das wäre mal ein interessantes Thema für ein Buch: „Filme, die grotesk irreführend vermarktet wurden“. THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA dürfte darin einen prominenten Platz einnehmen, zumal diese Vermarktung auch noch funktioniert hat, wenn auch anders, als von den Machern wahrscheinlich intendiert: In Großbritannien landete der Titel auf der Liste der berüchtigten „Video Nasties“ – und das, obwohl er sich zwischen prominenten Kollegen wie Fulcis ZOMBI 2, ANTHROPOPHAGUS, CANNIBAL HOLOCAUST, I SPIT ON YOUR GRAVE oder Sadiconazista wie LA BESTIA IN CALORE ausnehmen musste wie ein empfindliches, fragiles Pflänzchen. Was dachte der eingefleischte Gorebauer wohl, als er THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA zu Dosenbier und den Kartoffelchips verköstigte, eine sensenschwingende Amazone erwartete, die Männern die Köpfe vom Leib schnitt, stattdessen aber mit einem ruhigen, zärtlichen Psychogramm über sexuellen Missbrauch und schwerste Traumatisierung konfrontiert wurde?

Fulci-Experte Stephen Thrower stellt den Irrtum richtig und beschreibt den Film in seiner kleinen Einführung auf der Arrow-Bluray als „nicht plot-getriebenes“, „enigmatisches“, „elliptisches“ und „traumgleiches“ Charakterdrama. Was meines Erachtens aber auch nicht ganz präzise ist, denn THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA ist in seiner Bildwelt eigentlich erdrückend profan. Gedreht wurde am Strand von Malibu, in Santa Monica und am Venice Beach, aber statt von kalifornischer Sonne beschienen zu werden, durchzieht den Film ein diesiger, herbstlich-grauer Dunst. Die Settings sind eng, dunkel, staubig und unaufgeräumt. Die Mordszenen sind beinahe antiklimaktisch inszeniert. Die Charakteristika, welche man für gewöhnlich mit Filmen assoziiert, die auf dem schmalen Grat zwischen Realität und Wahnsinn wandeln – Surrealismus, grelle Effekte, filmische Verfremdungstechniken – sind hier nahezu vollständig abwesend. Trotzdem trifft Thrower den Nagel mit seiner Diagnose auf den Kopf, was beweist, wie geschickt Cimbers Inszenierung ist, wie sensibel Robert Thoms Script und wie subtil Dean Cundeys Fotografie. Auch wenn THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA nie ganz abtaucht in die Seelen- und Gedankenwelten seiner Protagonistin, ist er dennoch voll und ganz von ihrer Disposition ergriffen. Er hat einen eigenen Rhythmus, eine eigene Sensibilität, eine eigene Sprache. Es ist schwer, zu erklären, was es ist, was den Film so einzigartig macht. Aber das Gefühl ist da.

Molly (Millie Perkins) ist eine mittelalte, attraktive und sympathische Frau, die sich als Kellnerin über Wasser hält, diverse flüchtige Liebschaften hat, unter anderem mit Long John (Lonny Chapman), dem Wirt der Kneipe, in der sie arbeitet, den beiden jungen Söhnen ihrer Schwester Cathy (Vanessa Brown) verklärende Geschichten iüber den angeblich auf See verschollenen Vater erzählt – und nebenbei ein Alkoholproblem kultiviert. Schon früh zeichnet sich ab, dass mit ihr etwas nicht stimmt: Cathy teilt die liebevolle Erinnerung Mollys an den gemeinsamen Vater überhaupt nicht, bezeichnet ihn als Schwein und scheint etwas über ihre Schwester zu wissen, was diese selbst verdrängt hat. Die Flucht in die Scheinwelt des Fernsehprogramms gründet für Molly auf weit mehr als auf dem Wunsch nach Ablenkung von einem tristen Alltag – und es dauert nicht lange, da offenbart sich ihre tiefe seelische Zerrüttung und das schreckliche Geheimnis ihrer Vergangenheit.

Inhaltlich fügt sich THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA nahtlos in das Genre des Serienmörderfilms als Psychogramm, aber seine Herangehensweise ist doch eine ganz eigene. Weder betrachtet Cimber seine Protagonistin mit der nüchternen Distanz eines Wissenschaftlers, noch macht er sich ihre Sicht auf die Welt ganz zu eigen. Seine Perspektive ist vielmehr von Empathie, Menschlichkeit und dem Wunsch, zu verstehen, geprägt. Seine Mörderin – Opfer väterlichen sexuellen Missbrauchs – ist kein blutgieriges Monster, aber durchaus ein Rätsel, nicht zuletzt für sich selbst. Wenn Molly zur Mörderin wird, sie sich für die erlittenen Verletzungen an den Männern rächt, ist sie ein anderer Mensch: An ihre Taten hat sie danach keine Erinnerung mehr, es ist, als erwache sie aus traumlosem Schlaf. In ihrem „normalen“ Leben ist sie hingegen zärtlich, mitfühlend, liebevoll – vielleicht ein bisschen zu in sich gekehrt, zu sorglos, zu zufrieden mit einem Leben, in dem eigentlich fast nichts stimmt. Diese Kluft durchmisst der Film auch stilistisch: Cimber lässt seine Charaktere keinen „authentischen“, aus dem Leben gegriffenen Smalltalk führen: Die Dialoge sind sehr geschrieben, poetisch mitunter und sie sorgen im Verbund mit Cundeys Bildern dafür, dass THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA wie durch einen Nebel zu einem spricht. Der Film ist enigmatisch, wie Thrower sagt, aber vor allem deshalb, weil er trotz aller bildlichen Klarheit seltsam entrückt scheint. Wie eine Erinnerung, von der man nicht genau weiß, ob sie nicht doch nur ein Traumfragment ist.

Das Script schrieb Robert Thom, der damalige Ehemann von Hauptdarstellerin Millie Perkins aus akuter Geldnot und griff dafür auf (auto)biografische Details aus seiner und Perkins‘ Familie zurück. Aus seiner feder stammen auch die Drehbücher zu Paul Bartels DEATH RACE 2000, Roger Cormans BLOODY MAMA und Robert Aldrichs superbizarrem THE LEGEND OF LYLAH CLARE, was in der Schnittmenge tatsächlich einen guten Eindruck von THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA vermittelt. Millie Perkins‘ Filmkarriere wiederum begann 1959 im Alter von 21 Jahren mit der Hauptrolle in George Stevens‘ THE DIARY OF ANNE FRANK, die sie ohne jede Schauspielausbildung ergatterte. Man prophezeite ihr eine große Karriere, doch das Studiosystem war nicht das rechte Umfeld für sie: Sie fiel in Ungnade und landete schnell bei B-Film und Fernsehen. Sie lebt immer noch und ist mittlerweile 82 Jahre alt. Matt Cimbers claim to fame ist zum einen die Tatsache, dass er der letzte Ehemann von Jayne Mansfield war, zum anderen der Skandalfilm BUTTERFLY, eine Verfilmung von James M. Cains gleichnamigem Hardboiled-Roman, in dem die damals bereits fast 30-jährige Sängerin Pia Zadora ein minderjähriges Mädchen spielt, das ein Verhältnis mit seinem Vater (Stacy Keach) beginnt. Der Film wurde von der Kritik einhellig verrissen und großzügig mit Raspberry Awards und Nominierungen in allen wichtigen Kategorien bedacht. Seine Filmografie, die auch die Blaxploiter THE BLACK SIX, LADY COCOA und THE CANDY TANGERINE MAN, den Barbarinnen-Film HUNDRA umfasst, klingt demnach ziemlich spannend. THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA ist in jedem Fall ein Ausnahmewerk, das in einer gerechten Welt als Klassiker in einem Atemzug mit Titel wie REPULSION, PSYCHO oder THE COLLECTOR genannt werden würde, um jetzt nur mal drei naheliegende Referenztitel zu nennen.

 

 

 

Es war ruhig hier in den vergangenen zwei Monaten und das wird vermutlich auch noch eine Weile so bleiben. Die Corona-Pandemie und ihre Begleiterscheinungen koinzidierten bei mir mit dem beruflichen Neustart in einem neugegründeten Unternehmen, für Filme blieb kaum Energie und auch keine rechte Lust. Ich habe diverse Serien geschaut oder einige wenige Filme, die ich schon kannte. Über ein paar davon hätte ich unter anderen Umständen auch Texte geschrieben, aber so habe ich mir den Luxus gegönnt, es bleiben zu lassen. Nach über 15 Jahren Schreiben über Filme ist die Luft im Moment raus. Mal sehen, wie sich das entwickelt. Ich schließe im Moment nichts aus, auch nicht das Ende dieses Blogs.

Über PARASITE, den ich im Krefelder Autokino gesehen habe, muss ich aber natürlich schreiben. Als Doppelgewinner der Goldenen Palme und des Oscars für den Besten Film – nicht des Besten ausländischen Films wohlgemerkt, was heftig diskutiert wurde – ist er jetzt schon gewissermaßen „historisch“. Aber nicht nur der kritische Konsens spricht für den Film, auch die Zuschauer scheinen ihn zu lieben, wenn man nur mal das Imdb-Rating betrachtet. Ich war von Anfang an eher skeptisch, zumal ich den ebenfalls weithin gefeierten SNOWPIERCER ziemlich fürchterlich finde. PARASITE, so viel kann ich vorwegnehmen, hat mir zwar besser gefallen, aber das Gefühl der Enttäuschung und Ernüchterung konnte ich dennoch nicht ganz abschütteln. Und eine knappe Woche nach der Sichtung finde ich den Film sogar irgendwie ärgerlich. Er ist gediegener, weniger nerdig und insgesamt ambivalenter als Bong Joon-hos genannter Versuch eines allegorischen Science-Fiction-Actioners, aber am Ende hat er genau dasselbe Kernproblem: Die Gesellschaftskritik des Regisseurs ist reaktionär, unreflektiert, populistisch und, ja, auch unmenschlich.

PARASITE stellt zwei Familien gegenüber und spielt sie gegeneinander aus: auf der einen Seite die armen Kims um Vater Ki Taek (Kang-ho Song), die in einer gammeligen Souterrain-Wohnung leben, in der sie keinen Handyempfang haben, ihr Geld mit dem Falten von Pizza-Kartons verdienen und durch das Wohnzimmerfenster andauernd betrachten müssen, wie Betrunkene gegen ihre Hauswand pissen, auf der anderen die wohlhabenden Parks, deren Vater Geun-se (Myeong-hoon Park) sich von einem Chauffeur zur Arbeit bringen lässt, während die neurotische Mama Yeon Keo (Yeo-jeong Jo) sich zu Hause um das Wohl ihres hochbegabten Söhnchens und der pubertierenden Tochter sorgt. Die beiden Familien kommen zusammen, als Kim-Sprössling Ki Woon (Woo-sik Choi) einen Job als Hauslehrer der Park-Tochter ergattert. Cleveres Kerlchen, das er ist, sieht er bald eine Chance, seine nicht minder gerissene Schwester Ki-jung (So-dam Park) als Kunsttherapeutin für den Sohn zu vermitteln. Mit dem Vater und Mutter Chung Sook (Hye-jin Jang) wird es schwieriger, denn deren potenziellen Stellen als Fahrer und Haushälterin sind bereits besetzt, doch mit List, Tücke und einer guten Portion Rücksichtslosigkeit gelingt es ihnen, die Jobinhaber zu vertreiben. Alles könnte perfekt sein, doch dann klingelt eines Tages die ehemalige Haushälterin Moon Gwang (Jeong-eun Lee) an der Tür: Auch sie hat den Reichtum der Parks missbraucht, indem sie ihren Ehemann in einem den Hausbesitzern unbekannten Luftschutzbunker im Keller einquartiert hat …

Der relativ zurückhaltende schwarze Humor, die Bösartigkeit, mit der die Protagonisten sich nach oben kämpfen, und die Leistungen der Kim-Darsteller verschleiern relativ lang, was dann in seinem einfallslos-blutrünstigen Finale gnadenlos durchbricht: Bong Joon-hos Gesellschafts- oder besser Kapitalismuskritik fußt auf Kurzsichtigkeit und billiger Schwarzweiß-Malerei. Das Handeln der Armen ist per se durch ihre Not legitimiert, egal wie rücksichtslos und selbstsüchtig sie auch sind, Wohlhabende sind per se amoralisch, dekadent und blind für die Nöte der weniger Begüterten. Während die Kims miterleben müssen, wie ihr ganzes Hab und Gut von einem Unwetter weggespült wird und kurzzeitig Quartier in einer Turnhalle beziehen, planen die Parks eine spontane Geburtstagsfeier für das verzogene Söhnchen, für die sie mal eben so ein kleines Vermögen auf den Kopf hauen (Mama Yeon Keo schnattert während des Einkaufs vergnügt am Handy mit einer Freundin). Und freuen sich die Parks anfangs noch über die außergewöhnlich qualifizierten Hausdiener, stören sie sich plötzlich an deren unangenehm muffigem Geruch. Der schwelende Konflikt, in den sich dann noch eine dritte Partei einschaltet, mündet während der erwähnten Feier in eine Gewalteruption, die doppelt einfalls- und hilflos anmutet. Nicht nur, dass es anscheinend nicht mehr möglich ist, einen Film nicht in der totalen Eskalation enden zu lassen, Bong Joon-ho zerstört in dieser Szene auch noch das letzte Fünkchen von Ambivalenz. Konfrontiert mit dem brutalen Mord an der Lehrerin seines Sohnes reagiert Vater Geun-se nicht etwa empathisch, er hat nur das Wohl der eigenen Sippe im Sinn. PARASITE hat keinerlei Vision, er versteht sich nur als Verkünder der bevorstehenden gesellschaftlichen Katastrophe.

Ich finde das schade. Gewiss ist es nicht die Aufgabe eines Filmemachers, die gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit zu lösen. Aber etwas mehr als billige, populistische Arm-gegen-Reich-Polemik dürfte es schon sein, finde ich. Warum sind die Kims, die doch über einige beachtliche Talente verfügen, nicht in der Lage, ihr Können zu monetarisieren? Wer sind die Parks neben ihrer Eigenschaft als „Reiche“? Diese Fragen interessieren Bong Joon-ho überhaupt nicht, weil die Antworten ihm bei seiner Dichotomie in die Quere kämen. PARASITE ist eine agitatorische Blendgranate.

 

Ein Teil des anhaltenden Ruhms von Abel Ferraras Regiedebüt geht auf die Tatsache zurück, dass er in Großbritannien als besonders prominenter „Video Nasty“ beschlagnahmt wurde und den sogenannten „Video Recordings Act 1984“ nach sich zog, eine Regelung, die besagt, dass alle für den Handel gedachten Videotapes mit einer Altersfreigabe versehen werden müssen. Wie so oft, hatten die selbsternannten Moralapostel den Film gar nicht gesehen: Es war der Legende nach eine reißerische ganzseitige Werbeanzeige, die Ferraras Debüt die leider ungewollte Aufmerksamkeit einbrachte. Ganz sicher traf Ferrara mit THE DRILLER KILLER einen Nerv. Und noch sicherer hätten sich die aufgebrachten Jugendschützer auch vom Verbot auch nicht abhalten lassen, wenn sie ihn sich angeschaut hätten, denn eins ist mal sicher: Auch wenn die Bohrmaschinen-Morde mit den Effekten eines Savini oder De Rossi nicht mithalten können, THE DRILLER KILLER den durchschnittlichen Gorebauern und Gewaltfanatiker mit seinen Redundanzen eher anöden dürfte, verfügt der Film doch über eine reichlich deprimierende, schmutzige und desillusionierende Atmosphäre, die ausreichend ist, um schlichtere oder zartbesaitete Gemüter in Unruhe zu versetzen.

Die Handlung ist schnell zusammengefasst: Reno (Abel Ferrara) ist ein heruntergekommener, mittelloser Maler, der verzweifelt versucht, ein Bild fertigzustellen, um an Bargeld zu kommen, mit dem er seine sich türmenden Schulden bezahlen kann. Während er arbeitet, stört ihn eine Band, die im Nebenhaus probt. Alle Versuche, sich gegen den Lärm zur Wehr zu setzen, scheitern. Dies und die ihn umgebende New Yorker Trostlosigkeit bringt ihn schließlich dazu, nachts mit einer Bohrmaschine loszuziehen und Obdachlose umzubringen.

Ferrara drehte mit THE DRILLER KILLER so etwas wie die Punkversion von Joel Schumachers Amoklauf-Film FALLING DOWN. Statt eines fleißigen amerikanischen Büroarbeiters mit Kuli in der Hemdtasche gibt es hier einen abgerissenen Maler, anstelle einer aufgesetzten, dabei ins Reaktionäre abgleitenden Gesellschaftskritik den Blick auf eine Stadt kurz vor der Implosion, statt „gerechter“ Angriffe auf unhöfliche Immigranten, brutale Gangmitglieder, Skinheads oder unflexible Serviceangestelle richtet sich Renos Verzweiflung gegen die größten Verlierer überhaupt. Ferrara macht keine „Aussage“ und er folgt auch keiner Agenda; ganz sicher hat er eine Meinung und wenn man sich THE DRILLER KILLER anschaut, kommt man auch relativ schnell dahinter, wie die aussieht, aber sein Film liefert zunächst mal ein Stimmungsbild. Und was man da zu sehen bekommt, ist nicht gerade anheimelnd. THE DRILLER KILLER erstickt nicht nur im Dreck, seine Charaktere stehen dem allgemeinen Verfall der Welt um sie herum auch absolut gleichgültig gegenüber, ja befördern ihn mit dieser Haltung noch. Es gibt keinerlei Vorwärtsbewegung in Ferraras Films. Dramaturgisch tritt er bewusst auf der Stelle, die langen Szenen, aus denen er besteht, erzählen nichts, es ist die Anhäufung der immergleichen sinnlosen Dialoge und idiotischen Tätigkeiten, in denen sich Ferraras Haltung widerspiegelt. Renos Bilder sind durchaus kunstvoll, er scheint nicht gänzlich unbegabt, aber er selbst ist kaum mehr als ein dumpfer Hänger, ohne jedes Ziel oder echten Antrieb. Mit den „Roosters“, der Band, die ihn in den Wahnsinn treibt, verhält es sich eher anders herum: Ihre Musik ist ein Rockmusik-Albtraum, der akustisch eindrucksvoll darlegt, warum Drogen, Egozentrik und mittelprächtiges Talent eine gefährliche Mischung darstellen, aber sie sind wenigstens überzeugt von dem, was sie da tun (kann sein, das Fans von Bands wie Velvet Underground eine andere Meinung zum Sound der Roosters haben, aber ich finde ja auch, dass die Velvets nahezu unanhörbar sind).

Mitunter ist THE DRILLER KILLER aber durchaus komisch. Da gibt es diese (vermutlich improvisierte) Szene, in der zwei Typen an der Bushaltestellen von einem Penner belästigt werden, der sich offensichtlich für einen Komiker hält. Auch wie Renos Kunstagent sein großes Werk am Ende verreißt, davon redet, dass da „keine Energie“ zu sehen sei, einfach nur Scheiße, und wie Reno dazu dreinschaut, entbehrt nicht einer gewissen Komik, auch wenn dem Protagonisten eher nicht zum Lachen zumute ist. Und dann natürlich das romantische Dinner auf dem verwanzten Teppich in Renos Behausung, mit einer fetttriefenden Pizza aus der Hölle, deren Einnahme mit Schmatz- und Kaugeräuschen unterlegt ist, die auch gut in Fulcis Zombiefilme gepasst hätten. THE DRILLER KILLER ist nicht unbedingt aufregend, aber als Mood Piece für Leute mit New-York- und Underground-Fetisch funktioniert er auch heute noch ausgezeichnet.

Das Postermotiv illustriert das ungewöhnliche ästhetische wie inhaltliche Konzept annähernd perfekt: Mit einem frühlingshaften Blumenkranz gekrönt, der doch Ausdruck von Lebensfreude und Energie sein sollte, zeigt Protagonistin Dani (Florence Pugh) eine verzerrte Grimasse der Angst, Blut rinnt von ihrer Schläfe hinab. MIDSOMMAR konfrontiert seine US-amerikanische Hauptfiguren mit einer schwedischen Paganisten-Sekte, die in Eintracht und Harmonie leben, die Touristen aber trotzdem bis ins Mark erschrecken.

Der Prolog des Films bildet auch farblich den Kontrapunkt zu der sonnigen Utopie, die möglicherweise ein Albtraum ist: In einer winterlichen nordamerikanischen Stadt bewahrheiten sich Danis allerschlimmste Befürchtungen, als die bipolare Schwester nicht nur sich umbringt, sondern die Eltern gleich mit in den Tod reißt. Danis Freund, der wankelmütige Christian (Jack Reynor), der eigentlich schon mit der Trennung liebäugelt, wird angesichts der Tragödie weich, schließlich kann er seine Freundin in dieser emotional fordernden Situation nicht hängen lassen. Doch die Beziehung existiert zumindest für ihn nur noch auf dem Papier, was sich auch zeigt, als Dani durch Zufall erfährt, dass er mit seinen Studienkumpels für mehrere Wochen zu den Feierlichkeiten der Sommersonnenwende nach Schweden fahren will, in die Heimat des Kommilitonen Pelle (Vilhelm Blomgren), der zu Hause in einer Art Kommune aufwuchs. Sehr zur Begeisterung der Kumpels lässt sich Christian breitschlagen, Dani mitzunehmen. In Schweden offenbart sich dann nicht nur, dass es für das Paar keine gemeinsame Zukunft gibt, sondern auch, dass sich hinter Pelles Kommune eine heidnische Sekte verbirgt, die ihre Ältesten in den Freitod treibt, damit sie als Junge wiedergeboren werden, ihre Propheten aus erzwungener Inzest gewinnt und jeden, der ihr Geheimnis verraten will, umbringt.

MIDSOMMAR orientiert sich thematisch, aber auch dramaturgisch natürlich an Robin Hardys meisterlichem THE WICKER MAN, den er aber noch vertieft. Er teilt mit dem britischen Klassiker die Konfrontation eines Außenseiters mit einem paganistischen Kult sowie den langsamen Wandel von neugierigem Interesse seiner Hauptfiguren über ihre zunehmenende Irritation bis hin zum totalen Entsetzen. Was ihn von Hardys Film unterscheidet, ist zunächst die Charakterisierung seiner Protagonisten: War Edward Woodwards Polizeibeamter Neil Howle im Klassiker noch ein ziemlich unsympathischer, von seiner Autorität und der Unumstößlichkeit seiner puritanischen Ansichten absolut überzeugter Spießer, begegnen die Studenten den schwedischen Paganisten zuerst mit Offenheit und ehrlichem (mitunter wissenschaftlich begründetem) Interesse. Doch dieses Interesse bröckelt, als die Studenten mit den blutigen Seiten des Naturglaubens konfrontiert werden: Dass Menschen ihrem Leben freiwillig ein Ende machen, um als kosmische Energie in der Gemeinschaft aufzugehen, ist für sie einfach nicht nachvollziehbar. Mit der Aufgeschlossenheit ist es danach vorbei und auch die Gastgeber bemerken, dass die Besucher möglicherweise zum Problem werden könnten, woraufhin sie sehr unfreundlich entsorgt werden; bis auf die zunehmend isolierte Dani, die zur Maikönigin avanciert und damit ins Zentrum der Festivitäten der Sommersonnenwende rückt. Zum Finale vollzieht sie die Trennung vom egoistischen Christian: Er wird in ein Bärenfell genäht und mit anderen Opfern rituell verbrannt.

Der Schrecken von MIDSOMMAR liegt keinesfalls in der sozialistischen Ideologie der Paganisten, von denen jeder einzelne sich damit zufrieden gibt, ein vergängliches und ersetzbares Mitglied der Gemeinschaft zu sein, die über jedem singulären Interesse steht. Er entsteht erst in der Konfrontation der Sekte mit den „fremden“ Protagonisten, für die sich das zunächst charmant-volksfesthafte Leben in der Kommune mit dem Freitod der Alten als barbarisch und vorzivilisatorisch entpuppt. Die Frage, die sich stellt: Ist es das wirklich oder ist es nicht einfach nur anders? Die schwedischen Paganisten scheinen glücklich, zufrieden. Es gibt keine Streitigkeiten, keine Missgunst unter ihnen. Die mütterliche Siv (Gunnel Fred) versucht verzweifelt, die Amerikaner zu beschwichtigen, die außer sich sind, nachdem sie dem rituellen Selbstmord der beiden Alten beiwohnen mussten: Es sei ein Freudentag, denn jeder sehne den Tag herbei, an dem er sich für die Gemeinschaft opfern dürfe. Man ist geneigt, ihr zu glauben. Auf der Gegenseite die Protagonistin: Dani, die von einer familiären Tragödie und einem Selbstmord, der eben nichts Befreiendes hatte, zerrissen wird. Christian, ihr Partner, der sich nicht für, aber auch nicht konsequent gegen sie entscheiden mag. Mark (Will Poulter), der typische Stoner, der immer nur Sex im Kopf hat, aber völlig verklemmt agiert. Der akademische Konkurrenzkampf zwischen Josh (William Jackson Harper) und Christian, die nicht miteinander, sondern ausschließlich gegeneinander kämpfen können, weil es ihnen um die Selbstbehauptung geht. MIDSOMMAR lässt nur wenig Zweifel, wer das „bessere“ Leben führt – auch wenn sich das mitunter auf bizarre Überzeugungen gründet, die sich mit unseren christlich geprägten westlichen Werten nur schwer vereinbaren lassen.

Dass Aster keinen klassischen Horrorfilm gedreht hat – der der ebenfalls tolle HEREDITARY zweifellos noch war -, zeigt sich aber nicht nur daran, dass es hier eigentlich keinen Bösewicht gibt: Der Film verzichtet bis auf den bereits erwähnten Prolog auch auf die dunkle Bildsprache sowie weitestgehend auf die grotesken Schocks und Schreckensbilder, die charakteristisch sind für das Genre, stattdessen tauchen Aster und Kameramann Pawel Pogorzelski MIDSOMMAR in sonnendurchflutete, helle Bilder voller Klarheit, die unterstützt werden von wunderbar subtilen CGI, wie etwa dem stetigen Wogen der Wälder, die die Kommune der Paganisten umgeben. MIDSOMMAR bezieht seinen Schrecken nicht aus der Konfrontation mit einem Anderen, das „uns“ an den Kragen will. Wer der „Andere“ ist liegt immer im Auge des Betrachters – und manchmal sind es unsere eigenen vermeintlich zivilisierten Werte und Überzeugungen, die uns eigentlich krank machen.

 

EDIT: Da ich den Text ca. eine Woche nach der Filmsichtung gesehen habe, sind mir ein paar wichtiges Aspekte der Handlung entfallen, die einigen der oben gemachten Punkte widersprechen: Der Konflikt entsteht nicht erst daraus, dass die Amerikaner vom Selbstmordritual schockiert sind. Vielmehr sind sie mit dem Hintergedanken eingeladen worden, einen bedeutenden Platz als Menschenopfer bei den finalen Festivitäten einzunehmen. Die schwedischen Paganisten sind demnach nicht irgendwelche Unbescholtenen, die nur ihre Kommune verteidigen. Trotzdem glaube ich, dass mein Text da oben im Wesentlichen gerecht wird.

Zwei Elternpaare glühen für eine Feier vor, die sie gemeinsam besuchen wollen. Die beiden Mütter (Edith Volkmann und Elisabeth Ackermann) kümmern sich um das kleine Katrinchen, der eine Vater (Sieghardt Rupp) bläst ein Ständchen auf der Trompete, der andere (Hubert Suschka) ist jetzt schon in ausgelassener Stimmung. Dazwischen die ältesten Kinder beider Paare: Achim (Sascha Urchs), ein in sich gekehrter, mürrischer Knabe, den keiner so recht beachtet, und Monika (Renate Roland), die als Älteste als Aufpasserin abgestellt ist, aber andere Pläne hat. Keiner denkt daran, sie oder Achim an ihre besondere Verantwortung gegenüber dem Kleinkind zu erinnern. Mit an Verleugnung grenzendem Gottvertrauen überlassen sie die Kinder, zu denen sie überhaupt keine Beziehung zu haben scheinen, ihrem Schicksal, um sich in aller Ruhe volllaufen zu lassen. Wenig später ist Katrinchen tot, mit einer Plastiktüte durch den Bruder erstickt, der gar nicht so recht weiß, was er da getan hat, in der Folge wie ein Gespenst durch die umliegende Brachlandschaft stapft und den Verdacht dann in Richtung Ottos (Jürgen Jung) lenkt, dem Liebhaber Monikas, die sich mit ihm auf dem Rücksitz seines Autos vergnügte, als sie eigentlich ihrer Aufsichtspflicht nachkommen sollte.

Das Schockierende an BÜBCHEN, dem Debüt-Spielfilm von Roland Klick, ist die Beiläufigkeit, mit der sich das Unsagbare ereignet, die Teilnahmslosigkeit, mit er es hingenommen wird, die Hilflosigkeit, die sich darin zeigt, wie schnell man danach zur Tagesordnung übergeht. Warum Achim seine Schwester umbringt, interessiert Klick nicht: Es ist eine Mischung aus Neugier, Frustration, Langeweile und Unwissen, die den ca. zehn- bis zwölfjährigen Jungen dazu bringt, seiner wehrlosen Schwester eine Plastiktüte über den Kopf zu stülpen und dann wegzugehen. Man sieht, wie das Grauen in ihm hochsteigt, als er wenig später ihre Leiche auffindet. Er hat ein Experiment durchgeführt, bei dem sich sein Verdacht am Ende als eine Tatsache bestätigt, die nun leider nicht mehr umkehrbar ist. Wie betäubt läuft der Junge danach herum, über schlammige Bolzplätze, auf denen verdreckte Kinder einem lehmverkrusteten Ball nachjagen, durch leerstehende, mit Müll übersäte Baracken, schließlich über einen Schrottplatz – in dem Bollerwagen, den er hinter sich herzieht, liegt mutmaßlich die Leiche seiner Schwester (man sieht sie nicht) und vieles deutet darauf hin, dass er hofft, sie werde von jemandem entdeckt, um ihm die Entscheidung über die kommenden Schritte abzunehmen. Als die Eltern angeheitert nach Hause zurückkommen, fällt zunächst niemandem auf, dass das Kleinkind verschwunden ist. Erste Fragen – „Wo ist denn Katrinchen?“ – werden in der Gewissheit gestellt, sie tauche gleich schon irgendwo auf. Es dauert eine Ewigkeit, bis man beginnt, nach ihr zu suchen. Und als diese Suche keine Ergebnisse bringt und die Polizei eingeschaltet wird, greift eine emotionale Lähmung um sich. Wo man Tränen, Verzweiflung, Geschrei, Schuldgefühle vermuten würde, sieht man in die langen, ratlosen Gesichter von Erwachsenen, denen jede Idee fehlt, wie sie mit der Situation angemessen umgehen sollen – oder was da überhaupt passiert ist.

Die Szene um die Tötung Katrinchens ist schrecklich, so kurz sie von Klick auch gehalten wird, aber das wirklich Schockierende ist eben diese allumfassende Taubheit. Es wird kaum miteinander gesprochen, alle leben so nebeneinander her, es findet keine Kommunikation statt, die über den Austausch von Allgemeinplätzen hinausginge. Keiner beachtet Achim, noch drückt man ihm gegenüber so etwas wie Zuneigung oder Liebe aus. Er ist einfach da und man erwartet, dass alles seinen Weg geht. Alles ist so grotesk oberflächlich. Die Menschen in BÜBCHEN scheinen in einem Zustand totaler emotionaler Unreife zu existieren, als hätten sie gar keine Vorstellung davon, dass sie nicht unsterblich sind, dass das Leben keine Selbstverständlichkeit ist, dass Unterlassungen manchmal ebenso unangenehme Konsequenzen haben wie Taten.

Ich weiß nicht, ob Klick eine Aussage über die bundesdeutsche Gesellschaft machen wollte, ob es ihm nicht wirklich nur um einen Einzelfall ging, darum, diesen Fall nachzuzeichnen und zu schauen, wie sich so etwas zutragen könnte. Aber ich meine schon, dass man in BÜBCHEN eine Nation zu Gesicht bekommt, die knapp 20 Jahre, nachdem sich die Elterngeneration als Massenmörder, Mitwisser und Weggucker entpuppt hatte, immer noch in einem Schockzustand befand. Deren Bedürfnis, zu einer wie auch immer gearteten Form der Normalität zurückzukehren, so stark war, dass sie einen Zustand erschuf, in dem sie wie in einer Luftblase von allem Bösen geschützt war. In dem das Schreckliche, so es denn dann doch geschah, gar keinen echten Ausschlag mehr hinterließ. Und in dem sie sich nicht anders zu helfen wusste, als am Ende doch wieder nur die alten Verhaltensmuster des Mitmachens, Wegschauens, Verleugnens zu reproduzieren.

 

 

Der junge Thomas Feigl (Nikolas Vogel) wächst mit seinem musizierenden Bruder in einem lieblosen Elternhaus auf. Der Mangel an Kommunikation und Verständnis treibt ihn zusammen mit seinem halbstarken Kumpel Charly (Roger Schauer), dessen Familie zu Hause vom saufenden Vater terrorisiert wird, in die Arme der Jugendbewegung einer rechtsradikalen Partei, die sich anschickt, da weiterzumachen, wo die NSDAP einst aufgehört hatte. Von der Kameradschaft begeistert und einer Ideologie eingefangen, die Stärke, Reinheit und Stolz propagiert und Schwäche verachtet, landet Thomas schließlich sogar in einer paramilitärischen Absplitterung der Jugendgruppe. Hier wird ihm auch noch die letzte Hemmung ausgetrieben, auf Menschen zu schießen und sie umzubringen.

Die Idee zu DIE ERBEN hatte Bannert, der zuvor mit dem Jugendsportfilm WAS KOSTET DER SIEG? debütiert hatte, als er in einem Lokal Opfer eines gewaltsamen Angriffs rechter Schläger wurde. Sein Wunsch war es danach, die Öffentlichkeit vor der sehr realen Bedrohung durch Neonazis zu warnen, die zu Beginn der Achtzigerjahre großen Zulauf von Jugendlichen fanden – und immer noch finden. Zur Vorbereitung für DIE ERBEN drang Bannert tief in die rechte Szene ein: so tief, dass er als Mitglied eines rechten Schlägertrupps, der im Münchener Hofbräuhaus randalierte, sogar auf einem Foto abgelichtet in einer Tageszeitung landete. Als sein „Verrat“ an den braunen Kameraden bei Veröffentlichung des Films publik wurde, sah er sich heftigen Repressalien und Morddrohungen ausgesetzt, Vorführungen von DIE ERBEN wurden immer wieder zur Zielscheibe rechter Anschläge, sodass viele Kinos sich gezwungen sahen, den Film aus dem Programm zu nehmen. Wen bei Betrachtung von DIE ERBEN also der Eindruck ereilt, das dort dargestellte Auftreten und Treiben der Neonazis sei hoffnungslos überzogen, der sollte in Erwägung ziehen, dass es vielleicht tatsächlich so schlimm sein könnte wie gezeigt. Viele Szenen speisen sich aus den Erfahrungen, die Bannert während seiner Zeit als Undercover-Agent in der rechten Szene sammelte.

Gedreht wurde DIE ERBEN in Österreich mit österreichischen Darstellern, wie man am Akzent unschwer erkennen kann, aber der Schauplatz wird nie konkret benannt und wenn von Nationalitäten die Rede ist, dann ausschließlich von der deutschen. Das macht die Schamlosigkeit, mit der die Neonazi-Partei ganz öffentlich auftritt, ausgestattet mit stilisierten Hakenkreuzbinden und -flaggen und der alltagstauglichen Variation der schnittigen SS-Uniformen, nur noch frappierender. Der Gipfel ist sicherlich der Besuch der Jungs bei einem Altnazi, der stolz die Schreibtischlampe mit dem Schirm aus echter Judenhaut aus Auschwitz vorzeigt (leider, so bedauert er, habe er den einstigen Besitzer der Haut nicht identifizieren können, denn die letzte Ziffern der sichtbaren Häftlingsnummer seien unkenntlich). Die kurze Verwunderung Thomas‘ über die geradezu mit Ehrfurcht ausgesprochene Aussage, pro Tag seien bis zu tausend Juden in Auschwitz vergast worden, die doch im Widerspruch zu der sonst propagierten Haltung steht, der Holocaust sei eine infame Erfindung der Linken, weicht schnell wieder der Faszination. Den ersten Blowjob holt er sich von einer Prostituierten und er trägt dabei die SS-Mütze und ein schickes Lederholster über dem sonst nackten Körper. Als er mit seiner Wehrsportgruppe trainieren geht, üben sie die fachgerechte Exekution durch Genick- oder Hinterkopfschuss an einem der ihren, den sie zuvor nackt ausgezogen und dann mit dem Davidsstern gekennzeichnet haben.

Die amerikanische Kritik, die im Booklet der Mondo-Macabro-Veröffentlichung zitiert wird, bemängelte den angeblich pulpigen Charakter des Films, seine Grobschlächtigkeit, den Mangel an Subtilität und die Klischeehaftigkeit in der Darstellung der Nazis. Bannert entgegnete ihr, dass es ihm nicht um Subtilität gegangen sein, dass er stattdessen habe aufrütteln und schockieren wollen, was ohne Zweifel nachvollziehbar ist und ihm auch gelang. Aber ich habe den Film gar nicht als so grobschlächtig empfunden: Inszenatorisch ist er sehr ungeschliffen, das ist richtig, er dokumentiert eher als dass er bewusst inszeniert. Visuell ist DIE ERBEN roh und direkt, dadurch eben sehr realistisch und authentisch, „dokumentarisch“, wie man gemeinhin sagt. Der Erzählfluss ist nicht ruhig, sondern sprunghaft und ruckartig, es wird eben nicht alles auserzählt und „rund“ gemacht, es gibt auch kein befriedigendes Ende. Auf den ersten Blick lädt DIE ERBEN dazu ein, Thomas‘ Abstieg in die rechte Szene kausal auf das lieblose Elternhaus zurückzuführen, auch weil dies der einzige Aspekt seines Lebens ist, der sich als Erklärung anbietet. Die Nazis schließlich – sowohl die brutalen Schläger als auch die Anzugträger von der Parteifront – sind ausnahmslos schurkische Gesellen ohne jede positive Eigenschaft, Schamgefühl oder auch nur die geringste politische Bescheidenheit. Auch hier gestand Bannert, bewusst auf eine Differenzierung verzichtet zu haben, weil er der Überzeugung war, dass die humanistische Gesinnung seines Publikums gewissermaßen von außen für die nötige Balance sorgen würde. Ich finde diese Strategie sehr einleuchtend – und glaube, dass die oben skizzierte Kritik den Film unterschätzt hat. Zunächst mal geht es Bannert nicht um die Frage nach dem „Warum“: Er zeigt einfach, was er damals sah und treibt dies sehr konsequent auf die Spitze. Statt einer einfachen Lebensweisheit – „sei lieb zu deinen Kindern, wenn du nicht willst, dass sie Nazis werden“ – liefert er in erster Linie Unbehagen: Thomas‘ Eltern mögen egoistische, lieblose Tröpfe sein, aber sie sind gewiss keine Barbaren, entstammen ganz im Gegenteil dem gehobenen Bürgertum. Trotzdem schützt ihren Sohn das nicht vor dem Übergriff durch die Nazis, viel eher hat man sogar den Eindruck, es bereite ihm eine gewisse Genugtuung, die humanistischen Werte seiner Erzeuger und der Autoritätsfiguren, die sich nie für ihn interessiert haben, mit Füßen zu treten. Und – das ist vielleicht das deutlichste Zeichen dafür, dass Bannerts Antrieb nicht der Hass auf Nazis, sondern die Liebe zum Menschen war – wenn Thomas am Ende seiner Desensibilisierung zum Mörder am brutalen Vater Charlys wird, dann ist das ja ein Akt der Freundschaft. Es trifft eben nicht „den Juden“, „den Linken“, „den Kommunisten“, sondern einen Mann, der die ganz banale Rücksichtslosigkeit gegenüber dem anderen repräsentiert, ohne jeden politischen Überbau.

Bannerts Laufbahn setzte sich fort mit dem Jugendfilm HERZLOPFEN, dann fing der Mainstream ihn für AHAVA TZEIRA, den siebten Teil der EIS AM STIEL-Reihe, und GUMMIBÄRCHEN KÜSST MAN NICHT EIN. Bannert ging danach zum Fernsehen, wo er sein Talent in den Dienst von Serien wie AUF ACHSE, EIN BAYER AUF RÜGEN, DIE ROSENHEIM-COPS, DER BULLE VON TÖLZ, JULIA – EINE UNGEWÖHNLICHE FRAU, DIE GARMISCH-COPS oder TATORT stellte. Der starke Hauptdarsteller Vogel spielte sowohl in WAS KOSTET DER SIEG? als auch in HERZKLOPFEN mit, hängte seine Karriere dann aber an den Nagel, um Fotograf zu werden. Als er in dieser Tätigkeit 1991 nach Slowenien reiste, um dort den Zehn-Tage-Krieg zu dokumentieren, kam er bei einem Bombenabwurf ums Leben. Er war gerade 24 Jahre alt.

Ich habe mich entschieden: Das Genörgel über Remakes, Sequels oder Reboots, nervt mich mittlerweile mehr als alle Remakes, Reboots und Sequels zusammen. Sicher kann man fragen, ob wirklich jeder gerade mal fünf Jahre alte Film eine Neuauflage braucht, jedem dritten zwangsläufig auch ein vierter Teil folgen muss, vor allem, wenn diese sich durch eine unübersehbare Lust- und Planlosigkeit auszeichnen, aber letztlich gelten für die Bewertung von Remakes und Fortsetzungen exakt dieselben Regeln wie für jeden anderen Film: Es gibt gute und schlechte. Völlig absurd wird das kulturpessimistische Klagen meiner Meinung nach, wenn man sich einen Film wie Guadagninos SUSPIRIA anschaut. Natürlich war der Aufschrei hier besonders laut zu vernehmen, schon als der Neuverfilmungsplan angekündigt wurde, gingen die Horden auf die virtuellen Barrikaden, schließlich steht Argentos Klassiker aus dem Jahr 1977 bei unzähligen Freunden des abseitigen Kinos immens hoch im Kurs, lässt selbst solche Leute erregt von „Kunst“ stammeln, die die Qualität eines Films sonst an der Anzahl abgetrennter Gliedmaßen festmachen. Einen solchen Geniestreich hat man gefälligst nicht zu remaken, warum denn auch, man könne es ja eh nicht besser machen. Diese allem Gemaule implizite Forderung ist das eigentlich merkwürdige an der ganzen Remake-Debatte: Denn es geht ja (meistens) gar nicht darum, es „besser“, sondern vor allem darum, es anders zu machen. Man könnte gut 99,9 Prozent der Kulturerzeugnisse – seien es Filme, Bücher, Kompositionen oder Gemälde – eigentlich wegschmeißen, wenn man nur jene gelten ließe, die etwas Neues in die Welt gebracht haben. Und wenn wir uns in einem so eng abgezirkelten Bereich wie dem Genrekino bewegen, gilt das umso mehr. Der hinter der Kritik stehende Glaube an das „Original“ scheint mir hoffnungslos naiv, vor allem wenn er sich, wie im vorliegenden Fall, einzig an einen Titel klammert. Luca Guadagninos SUSPIRIA hat abseits des Plots – oder sagen wir besser: der Prämisse, oder noch besser: des Settings, denn schließlich wissen wir mittlerweile dank hunderter uninformierter Blogposts, dass SUSPIRIA gar keine Handlung hat, aber dafür tolle Farben und Atmosphäre – weniger mit seinem berühmten Vorgänger zu tun als zwei beliebige andere Genrevertreter miteinander. Dass er existiert, ist keine Blasphemie, kein Affront gegen Argento, sondern die Bestätigung, dass der etwas erschaffen hat, was sich in den Köpfen seiner Betrachter fortpflanzt. Und den Vorwurf der Ideenlosigkeit kann man ihm auch nicht machen, denn dieser SUSPIRIA quillt nun wahrlich über vor Einfällen. Fast so, als meinte sein Schöpfer, etwas kompensieren zu müssen.

Guadagnino unternimmt gar nicht erst den Versuch, Argentos elaboriertes Spiel mit Primärfarben, Architektur und Sound zu kopieren. Er verpflanzt das Märchen um die kulleräugige Suzy, die sich in einer Tanzschule einschreibt, stattdessen aber in einen Hexenzirkel verirrt, in die tristgraue Realität des deutschen Herbstes 1977 an der Berliner Mauer und macht aus der scheuen damsel in distress des Originals eine selbstbewusst-autonome Vorkämpferin des Feminismus. Die Welt, auf die diese Suzy (Dakota Johnson) trifft, ist nicht minder rätselhaft und labyrinthisch als die des Originals, aber man hat das Gefühl, dass sie sich deutlich besser in ihr zurechtfindet als ihre Vorgängerin – vielleicht auch, weil seelische Aufruhr und emotionaler Tumult ihr nicht fremd sind und sich dieses zerrissene Berlin wie das Zuhause anfühlt, das sie nie hatte. Für die Ideologie der Hexen, die deutlich als Widerhall der Nazivergangenheit Deutschlands zu erkennen ist, ist sie entgegen ihren Kommilitoninnen überaus empfänglich. Ihre Mentorin Madame Blanc (Tilda Swinton), zu der sie ehrfurchtsvoll hinaufschaut, propagiert mit ihrer Tanzphilosophie und ihren Aufführungen eine Art Auflösung des individuellen Körpers: Es ist kein Wunder, dass das Stück, das sie mit ihren Schülerinnen zur Aufführung bringt, auf den Titel „Volk“ hört. Es geht um nichts weniger als das faschistische Projekt der Geburt eines Kollektivwesens, in dem der Einzelne sich nur noch über seine Funktion als Rädchen im Getriebe des Ganzen definiert. Im Kampf diverser Schülerinnen gegen die Vereinnahmung durch die Idelogogie spiegelt sich dann die Rebellion von RAF-Terror und Protestbewegungen, die immer auch an den Fensters der Tanzakademie vorüberzieht. Auch das Schicksal von Dr. Klemperer, einem Psychologen, der durch die abtrünnige Patricia (Chloë Grace Moretz) vom geheimnisvollen Treiben an der Akademie erfährt, eigene Nachforschungen anstellt und dabei mit seinen Erinnerungen an den überlebten Holocaust konfrontiert wird, korrespondiert damit. Anscheinend unvereinbare Aspekte und Phänomene, Politik und Magie, Okkultismus und gesellschaftlicher Protest, Kunst und Geschichte, stehen direkt nebeneinander, haben anscheinend nichts miteinander zu tun und sind dennoch untrennbar miteinander verwoben. Tatsächlich führt dieses rhizomatische Geflecht irgendwann in ein tempelhaftes Gewölbe, in dem die Wiedergeburt der Mater Suspiriorum erwartet wird, sowie zur Erlösung des Holocaust-Überlebenden, der endlich erfährt, was einst mit seiner Ehefrau geschehen war.

Ja, manchmal macht dieser SUSPIRIA den Eindruck einer ungeordneten Zettelsammlung. Zeichnete sich das Original neben seinem Expressionismus vor allem durch seine Homogenität aus, dadurch, dass Argento seine Linie mit ungeheurer Zielstrebigkeit und Sicherheit verfolgte, ist Guadagninos Remake ungeordneter, assoziativer, offener. Viel mehr als Argento möchte Guadagnino, dass man seinen Film aufschließt, interpretiert; zumindest deuten die vielen Hinweise und Anspielungen auf zeitgeschichtliche Ereignisse darauf hin. Das kann man durchaus als Makel betrachten: Argento schuf mit SUSPIRIA einen Film, der sein eigenes Universum barg, der ganz für sich allein, völlig autark existierte ohne Bezug zu anderen Werken. Guadagninos Remake ist demgegenüber sehr viel weltlicher und nachrangiger, gewissermaßen die mit Fußnoten versehene Sekundärliteratur zum ursprünglichen Text oder dessen kommentierter Ausgabe. Und manchmal wirkt er etwas angestrengt in dem Bemühen, so ganz anders zu sein als der Film, an den er sich anlehnt. Nun ist Argento beileibe kein Bauch- und Instinktfilmer gewesen, auch seine Filme waren stets sehr akademisch in ihrer Auseinandersetzung mit Architektur, Strukturalismus und Gender, nur verbarg sich das hinter dem rauschhaften Tosen der Form, das der Regisseur entfachte. Guadagninos SUSPIRIA ist viel mehr Kopf- und Ideenfilm: Selbst wenn Guadagnino sich der spektakulären Tanzaufführung und dem buchstäblich dionysischen Rausch zuwendet, bleibt sein inszenatorischer Zugriff immer spürbar. Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass es hier nicht auch diese Momente gibt, die einem wie Blitze in die Glieder fahren, in denen er einen mitreißenden Sog entwickelt und dieses Prickeln auf der Haut verursacht, das nur Kunstwerke auslösen, die einen zu bislang unbekannten Orte mitnehmen. Denn einzig- und fremdartig ist auch dieser Film. Man muss nur die Bereitschaft mitbringen, sich durch diese ausufernde Zettelsammlung zu wühlen, ein paar hingeworfene Notizen beiseite zu schieben und sich stattdessen auf andere zu konzentrieren. Guadagnino ist ein würdiges Remake gelungen, das sowohl als demütige, aber durchaus selbstbewusste Verbeugung vor dem Original bestehen kann, wie auch als völlig eigenständiger Film. Und das sei allen Meckerfritzen zum Abschluss mit auf den Weg gegeben: Er ist um ein Vielfaches origineller als das Gros dessen, was sich als „Original“ ausgibt.

 

Sturmbannführer Walter Kraft (Manfred Krug), der ein Konzentrationslager unter seiner Aufsicht hat und begeisterter Boxer ist, wurde vom Häftling Kominek (Stefan Kvietik), den er mit besonderer Zuwendung über Wochen zu einem gleichwertigen Gegner aufgepäppelt hat, in einem Trainingskampf niedergestreckt. Die Schmach sitzt tief in dem stolzen, eingebildeten Nazi: So weit ging sein Sportsgeist dann doch nicht, und er überlegt nun, ob er den aufmüpfigen Tschechen für den Affront durch den „Schornstein schicken“ soll. Seine treue Gattin Helga (Valentina Thielová) rät ihm ab: Er solle an die Zeit nach dem Krieg denken, wenn alle, die ihn im Ring sehen, sagen werden, dass er seinen Gegner nach einer Niederlage habe hinrichten lassen und ihm so die aussichtsreiche Boxerkarriere ruinieren. „Glaubst du, die Menschen sind dazu wirklich fähig?“, fragt er sie enttäuscht. „Ich glaube, sie sind zu noch viel Schlimmerem in der Lage“, antwortet sie. Im Hintergrund steigt schwarzer Rauch aus einem Schornstein.

Wenn der Sportfilm (und natürlich Sport selbst) eine gleichnishafte Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Lebens auf spielerischer Basis und in einem eng abgezirkelten Bereich – Sportplatz und Regelwerk – darstellt, dann ist der Boxfilm (und analog der Boxsport) sowohl die reinste als auch die direkteste Umsetzung dieser Idee: Es muss nicht ein Ball ins, übers oder durchs Netz geschossen, geworfen, geschlagen oder sonstwie bugsiert werden, vielmehr geht es darum, den Gegner mit einem Schlag niederzustrecken – und selbst stehenzubleiben. Der Boxer ist der Inbegriff des leidenden Helden: Er stählt seinen Körper, lässt sich verprügeln, um am Ende blutend zu triumphieren. Leiden tut er trotzdem, auch der Sieg ist mit Schmerzen verbunden. „Es geht nicht darum, wie oft du niedergeschlagen wirst, sondern darum, wie oft du wieder aufstehst“: Der Satz, den Rocky Balboa – der neben Muhammad Ali wahrscheinlich berühmteste Boxer aller Zeiten – in ROCKY BALBOA ausspricht, beschreibt offenkundig nicht nur seine Kampf-, sondern auch seine ganze Lebensphilosophie. Im Boxen wie im Leben geht es für ihn darum, sich unter extremen Bedingungen zu behaupten und einfach immer einmal mehr und härter auszuteilen als er selbst einstecken muss. So lehrt der Boxsport auch eine gewisse Duldsamkeit: Selbst den Sieg gibt es nicht kostenfrei, er steht am Ende eines Leidenswegs – ja, vielleicht machen die Schmerzen und Entbehrungen, die man überstehen muss, den Triumph überhaupt erst so wertvoll.

Vor diesem Hintergrund erscheint es als logisch, warum der Gefängnis- und der Sportfilm in der Filmgeschichte so eine überaus produktive Liaison gepflegt haben (bzw. warum Sport und Haft eng miteinander verwoben sind). Im sportlichen Wettkampf überwindet der Häftling die physischen Mauern sowohl des eigenen Körpers als – damit verknüpft – auch der ihn umgebenden Haftanstalt. Es ist ein Prozess der Transzendenz durch eine Art sublimierte Selbstauflösung: Besonders leistungsfähig ist der Sportler immer dann, wenn er zu denken aufhört, wenn er nur noch eine mechanische Abfolge präzise einstudierter und instinktiv ablaufender Bewegungen ist. Wenn das Denken im Knast wahnsinnig macht, ist eine Tätigkeit, bei der das Denken zumindest vorübergehend ausgeschaltet wird, die Erlösung. Und der Sport ermöglicht unter Bedingungen, innerhalb derer kein Erfolg und schon gar keine Überwindung der Mauern vorgesehen ist, einen Sieg, auch wenn der keine zählbaren Folgen hat. Knastsportfilme sind fast ein eigenes Filmgenre (man denke an THE LONGEST YARD, VICTORY, GRIDIRON GANG oder MEAN MACHINE), Knast-Kampfsportfilme noch einmal ein eigenes innerhalb des Actionfilms (siehe z. B UNDISPUTED, UNDISPUTED II und UNDISPUTED 3: REDEMPTION) und sonst kommt es auch in zahlreichen „normalen“ Knastfilmen zum sportlichen Zeitvertreib (siehe LOCK UP). BOXER A SMRT, in dem ein tschechischer KZ-Insasse die Chance erhält, einen seiner Peiniger zu besiegen und damit vielleicht auch zu einem groß angelegten Ausbruchsversuch beizutragen, wendet dieses Motiv- und Themenfeld überaus konsequent und auf erschütternde, aber niemals melodramatische, sondern im Gegenteil hochgradig zurückhaltende, ja beinahe nüchterne Art und Weise auf die Vernichtungspolitik des Dritten Reiches an. Vielleicht stellt der Film sogar so etwas wie die Apotheose des oben zusammengefassten Komplexes dar.

Erwähnter Kraft vertreibt sich die Freizeit in seiner insgesamt eher langweiligen Tätigkeit als KZ-Verantwortlicher mit regelmäßigen Boxtrainings, bei denen ihm seine Frau und diverse Lakaien immer wieder bestätigen, wie gut in Form er sei. Leider fehlt es ihm jedoch an einem wenigstens halbwegs gleichwertigen Sparringspartner, der eine Herausforderung darstellte und dazu beitrüge, dass Kraft sich verbessert. Er wird schließlich fündig in Kominek: Der Mann soll wegen eigentlich wegen eines Fluchtversuchs hingerichtet werden, doch er weicht einem Schlag Krafts so geschickt aus, dass dieser sofort den herbeigesehnten, erfahrenen Boxer in ihm erkennt. Der benötigt natürlich etwas Zuwendung, da er durch die Strapazen des Lageralltags schwer abgemagert und außer Form ist: Die Sonderrationen, mit denen er aufgepäppelt wird, tragen ihm natürlich die Eifersucht seiner weniger begünstigten Kameraden ein, doch mit seiner Sonderrolle ergeben sich auch für sie neue Perspektiven: Kraft nimmt Kominek zum Training mit nach draußen, sodass sich der Kontakt zu einer im Widerstand tätigen Tschechin ergibt, die den Häftlingen bei einem Fluchtversuch helfen soll. Doch zuerst will Kominek seinen Peiniger endlich einmal besiegen.

BOXER A SMRT zeigt die absurde, grausame Willkür eines totalitären Regimes in klaren Bildern und ungeschönter, aber keinesfalls sadistischer Direktheit. Die Häftlinge werden zu sinnlosen Tätigkeiten verdonnert – einmal sieht man, wie sie im Kreis Dreck von einem Haufen zum nächsten schaufeln, einmal müssen sie sich auf Kommando hinlegen und wieder aufstehen, bis sie nicht mehr können -, immer wieder werden einzelne aus purer Langeweile der Wärter erschossen. Kraft ballert einmal einfach so aus dem Fenster seines Büros in die entfernt stehende Menge: Dass man wieder sieht wer, noch ob überhaupt jemand fällt, spiegelt die ganze banale Alltäglichkeit sinnlosen Mordens und Sterbens wider: Es ist einfach bedeutungslos geworden. Dann wieder wird einer von ihnen – der Protagonist Kominek – auserwählt und entgegen des vorherrschenden Dogmas bevorzugt behandelt: Sein Wohlergehen ist auf einmal von allergrößter Bedeutung, bloß weil es Kraft so gefällt. Er baut eine Beziehung auf zu dem Mann, den er eigentlich hinrichten wollte, doch auch diese Beziehung ist ein trügerisches Konstrukt: Kominek ist für Kraft nicht mehr als ein menschliches Werkzeug.

Auch der Ort, an dem sich das alles abspielt, ist bizarr: Ein in der Einöde errichtetes Barackendorf, das keine andere Funktion hat, als Menschen zu knechten und sie dann doch nach dem Zufallsprinzip durch den Schornstein zu jagen. In einer in ihrer Einfachheit sprachlos chenden Szene taumelt der vom Training kommende Kominek geradewegs durch eine aus dem Krematorium kommende Rußwolke, atmet den Rauch ein, von dem wir und er wissen, dass es sich um die Überreste seiner Kameraden handelt. Wie kann man damit leben? Wie lebt man damit? Kominek lehnt sich gegen den Wahnsinn auf, der Sport gibt ihm ein Ziel, auf das er fieberhaft hinarbeitet. Er will nichts mehr als seinen Gegner nur einmal auf die Bretter zu schicken. Als es ihm gelingt, ist er stolz, auch wenn der Sieg ihm keinen Preis einbringt. Im Gegenteil: Sein Triumph ist ein Affront, für den er eigentlich den Tod verdient. Darin ist die ganze groteske Absurdität der Situation enthalten: Er wird trainiert, ein ebenbürtiger Gegner zu sein, aber zu ebenbürtig darf er dann doch nicht sein. Das Ende von BOXER A SMRT ist wie der ganze Film: Ohne große Emphase oder raumgreifendes Pathos, sondern leise, hintersinnig, raffiniert. Wenn man nicht aufpasst, fliegt es an einem vorbei wie Asche. Peter Solan braucht keine Kabinettstückchen, keinen brausenden Score, keine Schnittgewitter, einfach nur die Stille und das Gesicht seines Protagonisten, das nichts mehr zeigt außer Leere.