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empfehlung vom drecksperten

Veröffentlicht: Juni 14, 2019 in Film
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Fernando di Leo hat viele hochklassige Filme gedreht: VACANZE PER UN MASSACRO gehört eher nicht dazu. Was natürlich nicht bedeutet, dass der hierzulande unter dem Titel  TOY erschienen Sleazehobel nicht Freude bereiten würde. Wer es derb und dreckig mag, wird hier amtlich bedient – und darf sich zudem darüber freuen, dass Joe Dallessandro den ganzen Film über mit demselben Unterhemd rumläuft. Andreas Bethmann hat dem Kammerspiel nun das HD-Treatment und den Titel MADNESS – ZUM TÖTEN GEZWUNGEN spendiert. Mit auf der Scheibe ist ein Audiokommentar, den ich mit Oberschmierlappen Pelle Felsch angesprochen habe. In einschlägigen Foren wurden wir bereits dafür kritisiert, uns in besagtem AK deutlich zur AfD geäußert zu haben. Diese Kritik ist berechtigt, denn eigentlich sollte man diese Fascho-Arschgeigen am besten ignorieren. Allen Gehirnamputierten da draußen rufen wir deshalb zu: Wir geloben Besserung! So und jetzt brav zur OFDb surfen und die Scheibe bestellen.

I RAGAZZI DEL MASSACRO beginnt mit den Credits und einem Albtraum. Verzerrte Großaufnahmen von fischäugigen männlichen Jugendlichen, die abwechselnd gelangweilt, lüstern, grinsend oder gespannt dem Vortrag ihrer Lehrerin lauschen, werden von Silvano Spadaccinos scharfem, die Dramatik mit einem Anflug von dunkler Vorausahnung und vorausgeschickter Trauer aufladendem Orchester-Score untermalt. Eine Schnapsflasche macht bald die Runde unter den Jungs, die dann gemeinsam über die Lehrerin herfallen, sie vergewaltigen und schließlich eine zerschundene Leiche auf dem Pult zurücklassen, die von den später herbeigerufenen Polizeibeamten in einer stummen Totalen nur noch mit einem weißen Laken bedeckt werden kann.

Die Jungs, so findet der ermittelnde Polizist Duca (Pier Paolo Capponi) später heraus, sind allesamt schwer Erziehbare, teilweise bereits wegen kleinerer Delikte bestraft worden und von der Sozialarbeiterin Livia (Susan Scott aka Nieves Navarro) zur Resozialisierung auf die Schule geschickt worden. Die Verhöre, die Duca vornimmt, bringen demzufolge auch nur eine Erkenntnis: Die Jungen stecken alle unter einer Decke, schützen sich mit ihren Aussagen gegenseitig und inkriminieren als Urheber der ganzen Aktion ihren Mitschüler Grassi (Giuliani Manetti). Anders als erwartet handelt es sich bei diesem jedoch um einen verschüchterten, ängstlichen Jungen, der unter seine Homosexualität zu leiden hat und vor lauter Angst kaum ein Wort herausbringt. Duca ist bald sehr zum Missvergnügen seines Vorgesetzten (Enzo Liberti) davon überzeugt, dass die Jungs keineswegs als berauschter Mob, sondern in bewusstem Auftrag gehandelt haben: Zu organisiert scheint ihr Vorgehen, zu identisch sind ihre Aussagen. Grassi scheint der Schlüssel, zur Aufdeckung des Komplotts, doch nachdem die Jungen in Untersuchungshaft gesteckt worden sind, verliert er bei einem Unfall sein Leben, nicht ohne Duca zuvor aber von einer mysteriösen Frau berichtet zu haben, die der Anstifter zur Tat sein soll. Verhöre im Umfeld der Jungs offenbaren ein desolates Bild ihrer Erziehung durch desinteressierte, resignierte Eltern und weisen den Weg zu einem Unbekannten, der die Jugendlichen als Laufburschen für kleine Schmuggeleien und andere illegale Handlungen benutzte. Nur die alles entscheidende, eine wesentliche Offenbarung bekommt Duca nicht aus den sich in Sicheheit wiegenden Jungen heraus. Seine letzte Hoffnung ist der ebenfalls etwas weichlich wirkende Carolino Marassi (Marzio Margine), den er in einem letzten Versuch, die Wendung herbeizuführen, aus dem Gefängnis holt und ihm für ein paar Tage ein Zuhause gibt, in der Hoffnung, ihm eine Zukunftsperspektive zu vermitteln, die ihn seine Entscheidung überdenken lässt. Doch Carolino durchschaut den Plan und flieht zu seinem Mentor, nicht ahnend, dass Duca genau darauf spekuliert hat.

I RAGAZZI DEL MASSACRO, Fernando Di Leos fünfter Spielfilm, ist ein Genrebastard zwischen unterkühltem Police Procedural und schrillem Giallo und als solcher ebenso interessant wie logischerweise auch etwas unrund. Die erste Hälfte, die Di Leo mit distanziertem, aber scharfem Blick begleitet, widmet sich ganz den Ermittlungen Ducas. Nach den Credits werden die einzelnen Schüler befragt, lassen Ducas unverhohlene Rage an ihrer arroganten, selbstsicheren Fassade abprallen, sich auch durch die nach einigen erfolglosen Bemühungen verteilten Demütigungen und Drohungen nicht aus der aufreizend zur Schau gestellten Ruhe bringen. Die Streichereinsätze, mit denen Spadaccino immer wieder Szenen peitschenhiebartig abschließt und Schnitte akzentuiert, verleihen dem Ganzen die Anmutung von Dringlichkeit, rücken die Ereignisse gleichzeitig aber aus der Sphäre der Gegenwart, in der sie noch beeinflussbar wären, in einen Raum, in dem man sie nur noch zur ernüchtert Kenntnis nehmen kann. Das passt natürlich zu Di Leos Sozialkritik, die wachrütteln will, indem sie aufzeigt, dass es für die Jugend des Jahre 1969 bereits fünf Minuten vor Zwölf ist. Gesellschaftliche Kälte, grassierender Materialismus bei gleichzeitig miserabler Wirtschaftslage, dazu die sexuelle Verwirrung, der sich die Jugend ja ohnehin schon ausgesetzt sieht, die aber im Jahr eins nach dem „Sommer der Liebe“ noch besondere Blüten treibt: Das ist das hochexplosive Gemisch, das die grausame Tat im Mittelpunkt von I RAGAZZI DEL MASSACRO begünstigt.

Aber Fernando Di Leo ist kein Elio Petri oder Damiano Damiani, weshalb sein Film in der zweiten Hälfte eine unerwartete Wendung nimmt, die mit der Identität des Täters in Verbindung steht. Die Sequenz, in der Duca und Livia Eltern für den heimatlosen Carolino spielen, ist das humanistische Herz von I RAGAZZI DEL MASSACRO, weil sich plötzlich eine zuvor vergeblich gesuchte menschliche Wärme über den Film legt. Der Polizist wird vom pflichtbesessenen, maschinenhaften Vertreter des Gesetzes zu einem Wesen aus Fleisch und Blut, die Zweckgemeinschaft mit der Sozialarbeiterin zu einer humanitären Mission, der Film zu einer bizarren Utopie. Nachdem die beiden Protagonisten ihrem „Sohn“ eine reichhaltige Mahlzeit beschert haben, wankt dieser völlig übermüdet zu Bett und wird in einer krass aus dem Film herausfallenden Nahaufnahme während seines Schlafes gezeigt. Die Maske des Fehlgeleiteten weicht dem Antlitz eines friedlich schlummernden Engels. Es ist nicht ganz klar, ob hier nicht auch eine Portion Sarkasmus am Werk ist, ob sich Di Leo nicht insgeheim über die liberale Vorstellung lustig macht, dass man auf die schiefe Bahn geratene Kleinkriminelle durch „Liebe“ auf den rechten Weg zurückbringen könne. Zu naiv wirkt das ganze Szenario, wenn auch irgendwie kuschelig und anheimelnd. Der weitere Verlauf legt Ironie durchaus nahe, denn letztlich sind Ducas und Livias Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt. Dass I RAGAZZI DEL MASSACRO mit dieser Erkenntnis zum Giallo wird, komplett mit einem „weiblichen“ Täter, der die Tatsache, dass es sich bei „ihr“ um einen Mann in Frauenkleidern handelt, zu keiner Sekunde verbergen kann. Diese Kehrtwende, die ja auch einen konservativen Backlash bedeutet, kommt völlig unverhofft und steht im krassen Widerspruch zu allem, was zuvor passiert ist. Das Übel geht plötzlich nicht mehr von einer insgesamt aus den Fugen geratenen Gesellschaft aus, die ihre Probleme auf dem Rücken der Jugend austrägt, sondern doch von einem Perversen, der die „Unschuldigen“ mit seiner Lust vergiftet. Richtig schaden tut es I RAGAZZI DEL MASSACRO nicht, weil dieser Schlenker auch die bizarre Krönung eines thematisch sonst eher unauffälligen Films darstellt – und natürlich die filmhistorische Vermählung zweier Genres, die sonst meist unvereint blieben.

 

Der Mailänder Kommissar Domenico Malacarne (Luc Merenda) ist auf den ersten Blick ein geradezu vorbildhafter Vertreter der Polizei: attraktiv, immer gut gekleidet, gewissenhaft, sachlich und erfolgreich. Aber er hat ein Geheimnis: Er steckt mit dem organisierten Verbrechen unter einer Decke, genauer mit dem Boss Mazzanti (Richard Conte), für dessen Organisation er gegen Bezahlung schmutzige Geschäfte erledigt oder aber beide Augen zudrückt. Als der Gangster ihn dazu auffordert, ein inkriminierendes Zeugenprotokoll aus dem Polizeiarchiv zu entwenden, beginnen die Probleme für Domenico: Das Protokoll wurde von keinem anderen als seinem eigenen Vater (Salvo Randone) aufgesetzt, der ebenfalls Polizist ist. Als der von dem Geheimnis seines Sohnes erfährt, ist er am Boden zerstört. Und wenig später tot …

Einen richtig schlechten Film habe ich von Di Leo zwar noch nicht gesehen, aber zwischen unantastbaren Klassikern wie AVERE VENT’ANNIMILANO CALIBRO 9 oder LA MALA ORDINA, sehr guten Werken wie IL BOSS, LA CITTÀ SCONVOLTA: CACCIA SPIETATA AI RAPITORI oder VACANZE PER UN MASSACRO finden sich durchaus auch einige eher mittelmäßige Sachen wie I PADRONI DELLA CITTÀ oder eben dieser hier: Filme, die zwar handwerklich über jeden Zweifel erhaben sind, durchaus angenehme Kurzweil bieten, aber auch ein wenig, nun ja, uninspiriert wirken. IL POLIZIOTTO È MARCIO hat eine interessante, für einen Poliziottescho durchaus ungewöhnliche Prämisse – üblicherweise sind dessen Protagonisten ja aufrechter als aufrecht –, aber er weiß nicht wirklich etwas anzufangen. Es fehlt einfach die Fallhöhe: Die kriminellen Machenschaften, derer sich Malacarne schuldig gemacht hat, beeinträchtigen ihn nicht als „Helden“, Di Leo geht auffallend gnädig über seine Verbrechen hinweg, behandelt sie wie Malacarne selbst als eine Art Kavaliersdelikt: Er ist jung und braucht eben das Geld. Es bedarf der Vaterfigur, um die dramatische Wendung des Films wie auch ein Umdenken seines Protagonisten zu bewirken: Salvo Randone stiehlt Luc Merenda dann auch die Schau, wenn sein der Rente entgegengehender Polizeibeamter nach der Offenbarung des Sohnes alle seine Überzeugungen und Werte zu Staub zerfallen sieht. Es ist der einzige Moment, in dem das Geschehen irgendeinen emotionalen Nachhall auslöst. Ab da nimmt IL POLIZIOTTO È MARCIO dann auch beträchtlich an Fahrt auf – etwas zu spät, aber immerhin. Das gewohnt niederziehende Ende stimmt versöhnlich, aber insgesamt bleibt einfach zu wenig hängen. Freunde des Genres oder des Italofilms der Siebzigerjahre generell werden sich über einige rasante Verfolgungsjagden freuen oder über den wieder einmal herausragenden Score von Luis Bacalov, aber echte Begeisterung dürfte IL POLIZIOTTO È MARCIO wohl nur bei den unkritischsten Allesgutfindern auslösen. Ich bin jetzt mal gespannt auf Di Leos I RAGAZZI DEL MASSACRO.

Vacanze_per_un_massacro_1980Der Gewaltverbrecher und Bankräuber Joe Brezzi (Joe Dallessandro) bricht aus dem Knast aus, killt zwei Typen, klaut ihr Auto und begibt sich zu dem Bauernhäuschen, wo er einst seine Beute versteckt hatte. Dummerweise haben sich dort soeben drei Städter für ein erholsames Wochenende einquartiert: der Hobbyjäger Sergio (Gianni Macchia), seine Gattin Liliana (Patrizia Behn) und deren Schwester Paola (Lorraine De Selle), die eine Affäre mit Sergio hat …

Durchaus untypisch für den doch weitestgehend geschmackssicher inszenierenden Di Leo beginnt VACANZE PER UN MASSACRO wie ein richtiger schmuddelig-dampefender Sleazehobel. Schwer zu sagen, ob das die Zeit war, die Di Leo zwang, sich dem Unterleib des italienischen Volkes zuzuwenden – der Niedergang des italienischen Kinos war bereits kaum noch abzuwenden –, oder ob er sich da lediglich einen Spaß erlaubte, um das Publikum in „Sicherheit“ zu wiegen. Die letzte halbe Stunde und das Finale sind nämlich von anderem Kaliber als der spaßige, aber auch etwas einfältige Aufbau. Was natürlich nicht heißt, dass der Film bis dahin schlecht wäre. Dreck und Schmier können ja durchaus erfrischend sein und das ist auch VACANZE PER UN MASSACRO in jedem Fall. Joe Dallessandro ist ganz fleischgewordene, entgeistigte, entintellektualisierte Körperlichkeit wie er da mit Jeans und Trägershirt und stumpfen Gesichtsausdruck durch die Pampa watschelt (sein Bewegungsablauf ist schon die halbe Miete, ehrlich!), kaum unter Kontrolle gehaltenes Tosen der Hormone, und in der kargen Hütte, in der sich die drei schicken Stadtmenschen versammeln steht die Stimmung breiets vor seiner Stippvisite vorm Überkochen. Paola kann es kaum erwarten, es von ihrem Sergio besorgt zu bekommen und benimmt sich wie eine Nymphomanin, der ein paar Sicherungen rausgeflogen sind: Gleich am Esstisch steckt sie ihm den Fuß in den Schritt, drückt ihm Küsse auf, wenn Liliana sich bloß umdreht, schläft vollkommen nackt in der Wohnstube des Hauses und empfängt ihn am nächsten Morgen mit entblößtem Venushügel, während die gutgläubige Gattin nur wenige Meter entfernt nichts ahnend schlummert. Und die hat wiederum gar kein Problem damit, dass sie sich ständig das Geschlechtsorgan ihrer enthemmten Schwester anschauen muss. Sergio selbst ist aber nur unwesentlich besser: Zwar versucht er verzweifelt eine gewisse Diskretion zu wahren, aber irgendwie genießt er die Situation auch. Joe findet Paola schließlich allein vor – er hatte das Treiben im Haus zuvor beobachtet und weiß von der Dreiecksbeziehung – und wird sogleich Opfer ihrer wenig subtilen Ranschmeißmethoden. Mehr aus Bequemlichkeit zieht er sie durch, bevor er sich wieder wichtigeren Dingen zuwendet. Richtig interessant wird es, als sich Liliana und Sergio wieder einfinden und Joe die Bombe platzen lässt. Dann zeigen die zuvor so verlogenen und feigen Städter plötzlich ihre Zähne, spinnen böse Pläne und vergessen jede Blutsverwandtschaft, um ihre eigenen Ärsche zu retten. Da kommt sie dann wieder durch, die zynische, pessimistische Welt- und Menschensicht Di Leos, und was vorher ein blödlustiger Reigen der Niedertracht war, wird mit einem Mal zum bitteren Psychothriller mit unerwarteten Wendungen.

Auch ästhetisch ist VACANZE PER UN MASSACRO spannend, weil er dem grauenvoll schmucklosen Interieur, in dem der Film über weite Strecken angesiedelt ist, mit der Kameraführung eines Vollprofis begegnet und es immer wieder mit sonnendurchfluteten Außenaufnahmen der italienischen Natur kontrastiert. Und Luis Bacalov zieht mit seinem Score ebenfalls alle Register seines Könnens, verbindet ein hochdramatisches Orchesterstück mit treibenden Beatsongs, plötzlich aufheulenden Sirenen und dissonantem Synthiegefiepse. So wird dieses sparsame Vier-Personen-Kammerspiel bis zum Bersten aufgeladen, bis es zum Schluss nur noch in einem Freeze Frame explodieren kann. Toll.

Giuseppe Lagana (Maurice Ronet) kehrt nach 15-jähriger Abwesenheit in seine sizilianische Heimat zurück, um dort das Haus seiner verstorbenen Eltern zu verkaufen, eigentlich jedoch vor allem, um seine alte Schulliebe Caterina (Lisa Gastoni) wiederzusehen, eine Witwe und Mutter der 15-jährigen Graziella (Jenny Tamburi). Das alte Liebespaar, das in den seit der letzten Begegnung vergangenen Jahren stets der gemeinsamen Vergangenheit hinterhertrauerte, ohne eine neue Erfüllung zu finden, knüpft schnell wieder romantische Bande.  Das Glück scheint perfekt, bis Graziella ihre erblühenden Reize einsetzt …

Fotografie, Musik (von Luis Enrique Bacalov), Schnitt, das Spiel der Akteure  – vor allem von Lisa Gastoni und Pino Caruso, der den stets Weisheiten über das Wesen der Frau zum Besten gebenden Lebemann Alfredo, einen Freund Giuseppes, gibt – sind wie eigentlich immer bei Di Leo über jeden Zweifel erhaben. Die altehrwürdige Kulisse Siziliens mit seinen schroffen Felsen, maroden Prachtbauten und dem türkisfarbenen Meer, tut das Ihrige. LA SEDUZIONE ist, seinem Thema entsprechend, ein ausgesprochen sinnliches Erlebnis, das mich trotzdem nicht voll und ganz für sich eingenommen hat. Ich weiß einfach nicht so recht, wie ich den Film einordnen soll, was ja nicht unbedingt etwas Schlechtes sein muss, habe schon massive Probleme bei der Prämisse von LA SEDUZIONE: Es fällt mir einfach schwer, mir vorzustellen, von einer 15-Jährigen verführt zu werden, der Tochter meiner Geliebten zumal, der ich (angeblich) seit über einem Jahrzehnt hinterhertrauere. Ich verstehe Giuseppe nicht, der doch in seinen Wünschen und Vorstellungen zu Beginn des Films einen relativ gefestigten Eindruck macht. Er kommt nicht nach Sizilien, um durch die Betten zu pflügen, wie sein Freund Alfredo das zu tun vorgibt, er will die eine, die er seit 15 Jahren nicht vergessen kann. Giuseppe scheint gerade nicht der triebgesteuerte Frauenheld zu sein, der jedem sexuellen Angebot erliegt, im Gegenteil mutet er inmitten der sizilianischen Gesellschaft, deren Rollenverständnis man freundlich mit „traditionell“ und strenger mit „chauvinistisch“ bezeichnen könnte, aufgeklärt an. Alfredo betont immer wieder, dass Giuseppe ein „Franzose“ sei, weil der in Paris eine neue Heimat gefunden und sich dort auch von seiner sizilianischen Prägung gelöst habe. Das scheint mir das eigentliche Thema des Films zu sein: Wie ein vermeintlicher Außenseiter die Verhältnisse, in die er zurückkehrt, nicht aufbricht, sondern vielmehr selbst in sie zurückfällt. Aber wenn dem so ist, wenn es das ist, was Di Leo zeigen wollte, so wird diese Entwicklung Giuseppes nicht wirklich transparent. Giuseppes Liebe zu Caterina ist ja keine Lüge, kein Hirngespinst, trotzdem springt er allzu schnell auf die Reize Graziellas an. Es gibt keine lange Phase des Haderns: Obwohl ihm die Konsequenzen seines Handelns doch voll bewusst sein müssen, ergreift er die sich bietende Gelegenheit und stürzt sich Hals über Kopf in eine Affäre mit der Tochter der Frau, die er liebt. Nachdem Caterina hinter das Geheimnis gekommen ist, fleht er sie um Vergebung an, zeichnet sich als Opfer, das in einer hitzigen Situation den Kopf verloren habe. Aber das entspricht ja nicht der Realität. Die Frage, die sich stellt: Sagt er das, weil er es sagen muss, weil es das einzige ist, was er überhaupt zu seiner Verteidigung sagen kann, oder glaubt er das selbst? Und was vielleicht noch wichtiger ist: Glaubt Fernando Di Leo seinem Protagonisten? Diese letzte Frage kann ich einfach nicht beantworten und das ist auch das Problem, das ich mit LA SEDUZIONE habe. Ich weiß nicht genau, was mir da eigentlich erzählt wird. Handelt der Film einfach von der Verführung eines Erwachsenen durch eine Jugendliche? Dann macht es sich Di Leo sehr einfach. Oder will er, was ich glaube, zeigen, dass der sizilianische Mann seine tiefe innere Prägung nie ganz los wird? Dann steht mir eben der Charakter Giuseppes im Weg, oder zumindest das Spiel Ronets, dem ich den seiner Lust erlegenen Macho nicht wirklich abnehme. Und Alfredos Worte, der Giuseppe nach dessen Geständnis vorwirft, die Regeln seiner Heimat verlernt zu haben, sich eben gerade nicht wie ein Sizilianer verhalten zu haben.

Vielleicht liegt die Tücke von LA SEDUZIONE auch einfach darin, dass er dem Betrachter nicht den Gefallen tut, Giuseppe als das schmierige Chauvischwein zu zeichnen, sondern schlicht als Feigling. Vielleicht habe ich mich von Anfang an über ihn getäuscht und seine Zurückhaltung war kein Zeichen von Intelligenz, sondern einfach von massiver Unsicherheit. Vielleicht ist er ein Waschlappen, der es in Paris nur deshalb nicht zu einer Beziehung gebracht hat, weil er sich an die französischen Frauen nicht herangetraut hat, vielleicht macht er sich auch mit seiner Liebe zu Caterina nur selbst etwas vor. Die Unfähigkeit, die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, ist für diesen Typus ja nicht ganz ungewöhnlich. Am liebsten will er sie nämlich beide haben, Caterina und Graziella, weil ihm eine Entscheidung zuwider ist, und am Ende schließlich auch noch deren Freundin Rosita, die ebenfalls erfolgreich ihr Glück bei ihm versucht, nachdem sie von Graziella gehört hat, dass er nicht abgeneigt ist. Damit geht dann aber zu weit. Dass Giuseppe Caterina mit Schande befleckt hat, hätte sie ja noch verkraftet, aber dass er nun auch noch ihre Tochter hintergeht, ist nicht mehr zu verzeihen. Auf offener Straße stellt sie ihn und jagt ihm mehrere Kugeln in den Leib. Sein Blick sagt, dass er immer noch nicht genau weiß, warum ihm jemand böse ist.

Avere ventanniLia (Gloria Guida) und Tina (Lilli Carati) sind 20 und außerdem „jung, heiß und wütend“, wie sie von sich selbst sagen (beim „wütend“ verlasse ich mich auf die englischen Untertitel, die mir in diesem Fall aber zumindest streitbar scheinen). Die beiden Anhalterinnen begegnen sich auf dem Weg nach Rom, wo sie ihre Ferien verbringen, Spaß haben, Jungs kennenlernen und im Idealfall flachlegen wollen. Beider Geldbeutel ist leer, weshalb sie am Ziel angelangt die Kommune von Nazariota (Vittorio Caprioli) ansteuern. Das Bild, das sich ihnen dort bietet, hat aber nur wenig mit ihren Vorstellungen zu tun: Die Hippierevolution ist längst verebbt und von den damaligen Idealen nur noch ein trauriger Haufen von Faulpelzen, Versagern, Spinnern und Tagträumern übrig geblieben. Dennoch machen die beiden Mädchen das beste aus der Situation, was traurigerweise ziemlich wenig ist: Die Welt hat viel Magie eingebüßt. Wie viel, wird klar als die Polizei erbarmungslos zuschlägt und die Kommune räumt. Der Beamte, der für die Razzia verantwortlich ist, ist ein fieser Faschist, der keinen Anlass braucht, um die verhafteten Jugendlichen seine ganze Verachtung spüren zu lassen. Lia und Tina werden kurzerhand der Stadt verwiesen. Doch das ist längst noch nicht das Schlimmste, das ihnen zustoßen wird …

AVERE VENT’ANNI. 20 zu sein. Sich dies vorzustellen, dazu fordert Di Leo im Titel augf, und auch die Tatsache, dass er alle sich daraufhin einstellenden Bilder von unbeschwerter Jugend, endlosen Sommern, der ersten zarten Liebe und purer Lebenslust ohne Gedanken an irgendwelche Konsequenzen mit einer Schrifteinblendung ausbremst, irritiert erst einmal nicht besonders. „Niemand solle sagen, die Jugend sei die beste Zeit unseres Lebens gewesen“, wird da gefordert, bereits leise andeutend, dass AVERE VENT’ANNI möglicherweise einige unangenehme Lektionen für die beiden zu Beginn noch strahlenden Protagonistinnen bereithalten wird. Aber mit welcher Härte das Leben am Ende des Films zuschlagen wird, das lässt sich während der gesamten ersten Stunde des Films nicht vorhersehen.

Fernando Di Leo hat es auf den Schock angelegt, darauf, seinen Zuschauern brutal den Boden unter den Füßen wegzuziehen, gewissermaßen den friedlich den Schlaf der Gerechten Schlummernden einen Eimer eiskalten Wassers ins Gesicht zu schütten und sie dann endgültig mit einer schallenden Backpfeife aufzuwecken. Doch vorher wiegt er sie erst einmal in Sicherheit. Die zwei wunderhübschen Hauptdarstellerinnen kannte der Kinobesucher seinerzeit aus schlüpfrigen, aber ultimativ harmlosen Teenie-Sexkomödien, Beiträgen zum Genre der Commedia sexy all’Italiana. Gloria Guida, die schöne Blondine aus Meran, war der Star des Erfolgsfilms LA LICEALE und seiner diversen Fortsetzungen und Rip-offs, Lilli Carati hatte unter der Regie der Komödienspezialisten Mariano Laurenti und Michele Massimo Tarantini in LA COMPAGNA DI BANCO (deutscher Titel: SÜSSE SECHZEHN – SWEET SIXTEEN) respektive in LA PROFESSORA DI SCIENZE NATURALI mitgewirkt. Beide standen für Schönheit, Sex-Appeal, eine gewisse respektlose Attitüde und eben anspruchslose, milderotische Unterhaltung. Mit seinem blumigen Design versprach auch das Plakat, das die hübschen jungen Körper der beiden Stars in den reizvollen Mittelpunkt rückte, ebensolche – und der Film schien dieses Versprechen zunächst ja auch einzulösen. Gloria Guida selbst hauchte den von einem pumpenden Disco-Beat angetriebenen Theme-Song, der Strandparty, Popcorn und Himbeereis verhieß, beide Damen regten mit leichter Sommergarderobe die Fantasie an und ließen auf baldigen Vollzug ihrer sexuellen Wünsche hoffen. Während der ersten 60 Minuten entwickelt sich der Film ganz gemäß dieser Hoffnungen: Zwar geht Di Leo alles wesentlich weniger überdreht an als seine Kollegen aus dem Genre der Sexkomödien, verzichtet auf tumbe Späße und Slapstick-Orgien und erdet seine Geschichte in der sozialen und politischen Realität des Jahres 1978, doch auf den harten Bruch, der sich ganz plötzlich und unvorbereitet vollziehen wird, deutet nichts hin. Und dann besorgt er es seinen Zuschauern ganz, ganz heftig …

Mit seiner letzten halben Stunde reiht sich AVERE VENT’ANNI nämlich urplötzlich und unvermutet in die Riege der harten, desillusionierenden Schocker ein, die die Siebziger in eindrucksvoller Serie hervorbrachten. Filme wie Cravens THE LAST HOUSE ON THE LEFT oder dessen italienische Aufbereitung in Form von Aldo Lados L’ULTIMO TRENO DELLA NOTTE fallen unweigerlich ein, Filme, die für ihre meist jugendlich-weiblichen Protagonistinnen keine Gnade kannten, sie einer grausamen (Männer-)Welt zum Fraß vorwarfen und dem Zuschauer den Spaß am Voyeurismus gründlich vergällten. Auf einmal hat es für Lia und Tina ein Ende mit dem lustigen In-den-Tag-Hineinleben und dem jugendlichen Privileg der Inkonsequenz, zeigt sich die ganze Grausamkeit des Daseins in Form einer Bande männlicher Gewalttäter, die sich von der Aufmüpfigkeit der beiden Schnecken kein Stück beeindruckt, sondern im Gegenteil nur noch mehr angestachelt fühlen. Und sie geben es den beiden so hart und so nachhaltig, wie die es sich gewiss nicht vorgestellt hatten. Danach ist auch der Zuschauer bedient.

Fernando Di Leos Strategie war ein voller Erfolg: Die Zuschauer waren erbost darüber, wie man sie an der Nase herum- und vom sommerlichen Rom in die Schwärze der Nacht und des Todes geführt hatte, fühlten sich vom ultrabösen, brutalen Finale betrogen. Wie die Protagonistinnen in ihren Erwartungen an das Leben bitter enttäuscht wurden, so wurden auch die Zuschauer unsanft daran erinnert, dass nicht immer alles so ausgeht, wie man es sich wünscht. AVERE VENT’ANNI wurde aus dem laufenden Verleih genommen, umgeschnitten und in einer um rund 15 Minuten gekürzten und entschärften Fassung erneut veröffentlicht, was den Misserfolg erwartungsgemäß auch nicht mehr verhindern konnte. In Deutschland erschien der Film, Di Leos Täuschung noch auf die Spitze treibend, unter dem boshaft irreführenden Titel OBEN OHNE, UNTEN JEANS als Quasifortsetzung der FLOTTE TEENS-Reihe und ebenfalls sinnentstellend umgeschnitten. (Das Finale wurde hierzulande an den Anfang gestellt.) Das italienische Label Raro Video hat AVERE VENT’ANNI historisch vorbildlich als Doppel-DVD mit beiden Fassungen veröffentlicht und damit Raum gemacht für eine Neuentdeckung und -evaluation dieses Films, der definitiv Klassikerstatus verdient hat und seinerzeit einfach zu viel war für ein nichts Böses ahnendes Publikum. Vielleicht ist sein Zorn heute nicht mehr unmittelbar verständlich, auch wenn er grundsätzlich universal in seiner Aussage ist: Das Leben ist wertvoll, zu wertvoll für Gedankenlosigkeit, Jugend und Schönheit rufen erwachsene Neider auf den Plan, die als Antwort nur Gewalt und Hass parat haben. Di Leo hat viele fantastische Filme gedreht, vielleicht ist dieser seine Meisterleistung. Herausfordernd, originell und absolut nierderschmetternd, ist es von denen, die ich bisher kenne, sein konzeptionell spannendster, radikalster und mutigster. Unbedingt ansehen. Man vergisst AVERE VENT’ANNI nie wieder.

Tony (Harry Baer) treibt für den Gangster Luigi Cerchio (Edmond Purdom) die Schulden von kleinen Gaunern ein. Als sein Chef vom Gangsterboss „Scarface“ Manzari (Jack Palance) um drei Millionen Lire erleichtert wird, bietet sich Tony an, das Geld zurückzuholen. Doch mit den drei Millionen will er sich nicht begnügen: Gemeinsam mit seinem Freund Rick (Al Cliver), der noch eine persönliche Rechnung mit Manzari offen hat, nimmt er dem Gangster das Dreifache ab. Und plötzlich haben die beiden Freunde alle Verbrecher der Stadt gegen sich …

Gegenüber den zuletzt besprochenen Werken Di Leos – MILANO CALIBRO 9, LA MALA ORDINA, IL BOSS und LA CITTÀ SCONVOLTA: CACCIA SPIETATA AI RAPITORI – ist I PADRONI DELLA CITTÀ ein eher leichter, streckenweise sogar heiterer Film. Danach sieht es zu Beginn nicht aus, wenn Manzari in einer düsteren, komplett in Zeitlupe gehaltenen Szene einen Partner vor den Augen von dessen Sohn erschießt. Zwar kommt dieser Szene noch Bedeutung für den weiteren Plot zu, doch ist diese längst nicht so entscheidend, wie es zunächst den Anschein hat. Fast meint man, Di Leo habe sich im Laufe des Films von der Chemie zwischen den drei Freunden – zu Tony und Rick gesellt sich noch der alte Gauner Napoli (Vittorio Caprioli) – anstecken lassen und vergessen, wie sein eigener Film begonnen hatte. Alles, was noch an das erschreckende Bild des organisierten Verbrechens der Vorgänger erinnert, wird durch die drei Protagonisten ausgeglichen: Tony fährt mit einem roten Buggy durch Rom, träumt von Brasilien und lebt das Leben des kleinen Gangsters wie einen wahr gewordenen Jungstraum. Rick ist etwas launischer und äußerst wortkarg, sein Trauma ist aber eher dazu geeignet, ihn zu romantisieren, als wirklich seelische Abgründe anzudeuten. Und der alte Napoli, der den alten Zeiten hinterhertrauert, als alles noch einfacher war, hätte in MILANO CALIBRO 9, LA MALA ORDINA oder IL BOSS wohl einen besonders würdelosen Tod gefunden: Hier darf er am Schluss mit den Helden in eine goldene Zukunft fahren.

I PADRONI DELLA CITTÀ ist sympathisches eskapistisches Italo-Kino, nicht mehr und nicht weniger. Nach den drei bis vier zuvor gesehenen Meisterwerken kommt er nur dann einer kleinen Ernüchterung gleich, wenn man vergisst, dass es gerade solche kleinen Filme sind, die die großen umso heller erstrahlen lassen.

Im Auftrag seines Mentors, des Mafiabosses Don Giuseppe D’Aniello (Claudio Nicasto) massakriert Nick Lanzetta (Henry Silva) die Familie des verfeindeten Don Antonino Attardi (Andrea Aureli): Nur sein weinerlicher Bruder Carlo (Gianni Musy) und Cocchi (Pier Paolo Capponi) kommen davon und letzterer entführt als Vergeltungsschlag sofort die Tochter D’Aniellos. Lanzetta hat einen Plan: Er will den Entführern ein Lösegeld anbieten, um Zeit zu gewinnen. Doch eigentlich hat er ganz anderes im Sinn …

So wie ich IL BOSS gesehen habe, den dritten Teil von Di Leos lose verbundener Gangster-Trilogie (die ich zuvor fälschlicherweise als Mailand-Trilogie ausgewiesen hatte: IL BOSS spielt in Palermo), sollte man Filme eigentlich nicht schauen. In einer stressigen Arbeitswoche bin ich an mehreren Tagen hintereinander bei seiner Sichtung eingeschlafen, musste mehrfach zurückspulen und neu anfangen. Eigentlich guckt man sich Filme so kaputt: Für IL BOSS hat diese „Strategie“ aber erstaunlich gut funktioniert. Ich glaube, wenn ich ihn auf Anhieb am Stück geschafft hätte, hätte ich ihn möglicherweise nicht so gute gefunden. Denn IL BOSS ist ein gänzlich anderer Film als seine Vorgänger MILANO CALIBRO 9 oder LA MALA ORDINA. Zeichneten sich jene durch einen sehr geradlinigen Plot und starke Protagonisten aus, an die man sofort sein Herz verlieren konnte, ist IL BOSS ein Film, der weniger eine Geschichte eines Charakters erzählt, als das Protokoll einer Dynamik abliefert, in der die Menschen kaum mehr als Dominosteine sind, die angestoßen werden und ihrerseits anstoßen. Hatte ich zunächst jene Emotionalität vermisst, die Di Leos vorige Filme im Überfluss boten, machte es mir die zerstückelte, in mehrere Etappen mit zeitlichem Abstand dazwischen geteilte Betrachtung deutlich leichter, diesen „Mangel“ zu akzeptieren und zu bemerken, dass Di Leo hier etwas gänzlich anderes im Sinn hatte.

Es gibt keinen einzigen liebenswerten Charakter in IL BOSS – eigentlich noch nicht einmal einen Charakter. Man erfährt kaum etwas über die einzelnen Figuren und keine scheint über den Rahmen des Films hinaus Bedeutung zu haben; mit Ausnahme von Lanzetta vielleicht, doch auch der ist so unendlich leer, dass man fast froh darüber sein muss, dass es die Fortsetzung, die nach dem Cliffhanger-Ende per Schrifteinblendung angekündigt wird, nie gegeben hat. Ähnlich wie Scorsese in GOOD FELLAS skizziert Di Leo hier die Funktionsweisen eines Systems, doch verzichtet er dabei fast völlig auf die detaillierte Zeichnung eines Milieus. IL BOSS ist im Gegenteil fast nackt, jeglichen Zierrats entledigt. Er erzählt von einer sich immer weiter drehenden Gewaltspirale, die alle erfasst, von einer entsetzlichen Mordlogik, die sich verselbständigt, von einzelnen Protagonisten total abgelöst hat. Wenn es nicht Lanzetta ist, der herumläuft und mordet, dann ist es jemand anders. Lanzetta ist vielleicht ein bisschen besser, ein bisschen kaltblütiger, aber – das macht der unvollendete Schluss klar – auch er ist nur eine Fußnote, die keine gesonderte Beachtung verdient hat. Er ist nur der extreme Auswurf eines Systems, das weiterbesteht, indem es sich immer wieder häutet und reinigt, ohne sich dabei wesentlich zu verändern. IL BOSS ist ein fürchterlich deprimierender Film: Nicht, weil er einen wirklich mitnähme, sondern weil das alles so schrecklich arbiträr ist, weil das ganze Morden ganz egal ist. Nichts ändert sich, es war immer so, wird immer so sein. Keine neue Erkenntnis, aber nur wenige Filme haben das so unmissverständlich klar gemacht.

Dem New Yorker Ableger der Mafia-Familie ist eine Ladung Heroin in Mailand geraubt worden: Zwei Killer (Henry Silva & Woody Strode) werden nach Italien geschickt, um den kleinen Zuhälter Luca Canali (Mario Adorf) umzubringen. Nicht, weil man wirklich glaubt, dass er hinter dem Raub steht, sondern um an ihm ein Exempel zu statuieren und den tatsächlich Schuldigen – den Mailänder Mafiaboss Don Vito Tressoldi (Adolfo Celi) – einzuschüchtern. Die Jagd auf Luca wird eröffnet, doch der weiß sich zu wehren …

Nach MILANO CALIBRO 9 ist LA MALA ORDINA der zweite Teil in Di Leos Mailand-Trilogie. Thematisch bleibt er dem Vorgänger treu: Auch hier geht es um den verzweifelten Kampf eines Kleinkriminellen gegen die Machtstrukturen der Mafia: Der Zuhälter Luca wird zum sprichwörtlichen Bauernopfer, zur hilflosen, entbehrlichen Spielfigur in einem Spiel ungleich mächtigerer Männer, denen ein Menschenleben nichts bedeutet. Doch es zeigt sich, dass das große Herz des kleinen Mannes eine Waffe ist, die den Bossen gewaltigen Ärger machen kann. Es ist der Mut der Verzweiflung, ein heiliger, ungebremster Zorn, der Luca am Ende obsiegen lässt. Doch er muss dazu erst alles verlieren, was er hat.

LA MALA ORDINA ist nicht ganz so kompakt und fokussiert wie MILANO CALIBRO 9, der von der ersten Sekunde an ohne Umwege auf sein unausweichliches Ende zuläuft. Während letzterer eine Welt zeigt, in der der kleine Gauner keine Chance hat, sein Leben ein einziger sinnloser Kampf gegen das Ertrinken ist, der am Ende dann doch verloren wird, gestattet Di Leo seinem Helden im ersteren zumindest einen Etappensieg. Es bleibt zwar kein Zweifel daran, dass Luca zerstört ist, für immer gezeichnet von den Ereignissen und ohne Hoffnung, seinem Schattendasein jemals zu entrinnen, aber für den Moment hat er sich freigekämpft, den Mächtigen eine Niederlage zugefügt. LA MALA ORDINA ist also nicht von dieser bleiernen Traurigkeit und sein ganzer Rhythmus ist lebhafter. Untermalt wird er nicht von den herzzerreißenden Kompositionen Bacalovs, sondern von den treibenden, pumpenden Bässen Armando Trovaiolis. Mehr als MILANO CALIBRO 9 ist LA MALA ORDINA ein Film einzelner Szenen, Momente und herrausstechender Spitzen als eines stetigen Flows.

Zu Beginn erhalten die Killer ihren Mordauftrag von einem großväterlichen, liebenswerten Herren (Cyril Cusack) mit der Sachlichkeit eines Museumsdirektors, während Luca parallel seine Nutten vor zwei Schlägern bewahrt: Schon dieser Anfang etabliert den ganzen Konflikt des Films zwischen den distanzierten, mitleidlosen Bossen in ihren Glashäusern und den kleinen Straßengaunern, die Tag für Tag ums Überleben kämpfen. Dann ist da natürlich das dramatische Center Piece des Films, eine Verfolgungsjagd, die für mich zu den größten Errungenschaften des italienischen Crimefilms zählt: Luca jagt den Mörder seiner Frau und Tochter mit dem Auto und dann schließlich zu Fuß. Er steigert sich dabei in einen wahrhaft berserkerhaften Rausch, getrieben von einem fast animalischen Instinkt. Als er den Killer gestellt und umgebracht hat, bricht schließlich alles zusammen: Seine Rache ändert nichts, jetzt ist er mit der schrecklichen Gewissheit des Todes seiner Lieben und seiner Trauer ganz allein. Diese Sequenz allein rechtfertigt die Sichtung von LA MALA ORDINA und ist gehaltvoller, spannender und bewegender als mancher ganze Film. Mario Adorf explodiert förmlich, schreit, schwitzt, rennt, stolpert, heult – und zerschlägt Windschutzscheiben mit seiner Stirn.

Wie MILANO CALIBRO 9 Gastone Moschins Film ist so beherrscht Adorf LA MALA ORDINA. Der Film ist ohne ihn gar nicht denkbar: Adorf ist Luca Canali, der kleine, herzensgute Zuhälter, immer am Limit, ein Bauchmensch, wie er im Buche steht. Und was ein beliebiger Gangsterfilm hätte sein können, wird durch seine Darbietung zum ganz großen Drama, zu einem Film großer emotionaler Kraft. Aber er ist nicht allein und LA MALA ORDINA ist tatsächlich noch spektakulärer besetzt als sein Vorgänger: Bond-Girl Luciana Paluzzo, Femi Benussi und Sylvia Koscina sorgen für weibliche Schauwerte, Nebenrollen sind unter anderem mit Peter Berling und Ulli Lommel besetzt. Henry Silva ist eine Schau als geckenhafter, vergnügungssüchtiger Killer, der seinem wortkarge Kollegen Woody Strode mächtig auf die Nerven geht. Adolfo Celi spielt den Mafiaboss, der an die Grenzen seiner Autorität stößt, Cyril Cusack brilliert als sein „seriöses“ Gegenstück: Wer seine Macht besitzt, der braucht keinen aggressiven Machismo. Genug der langen Rede: LA MALA ORDINA ist ein Film, der endlos glücklich macht. Wer ihn noch nicht kennt, hat keine Ausrede.

Ugo Piazza (Gastone Moschin) ist kaum wieder auf freiem Fuß, da hat er bereits Rocco (Mario Adorf), einen Schergen des „Amerikaners“ (Lionel Stander), eines großen Gangsterbosses, im Nacken. Der ist davon überzeugt, dass Ugo ihn vor seiner Inhaftierung um 300.000 Dollar geprellt und das Geld irgendwo versteckt hat. Ugo wiederum beteuert, er sei unschuldig: Er will eigentlich nur seine Ruhe und irgendwie ein Auskommen haben, ohne gleich wieder straffällig zu werden. Es reicht ja schon, dass sein alter „Freund“ von der Polizei (Frank Wolff) nur darauf wartet, dass er den ersten Fehltritt macht. Und der scheint wirklich nur noch eine Frage der Zeit, denn um den vermeintlichen Dieb besser beobachten und gefügig machen zu können, zwingt der „Amerikaner“ Ugo zur Mitarbeit in seiner Organisation …

Einer der tollsten Italo-Filme seiner Zeit: Di Leos MILANO CALIBRO 9 besticht durch seine ausgeklügelte Dramaturgie, den gnadenlosen, dabei geduldigen Spannungsaufbau und einen der einprägsamsten, sympathischsten Hauptcharaktere des gesamten Genres. Gastone Moschin ist schlicht brillant als Ugo Piazza, ein ruhiger, etwas langsamer und demütiger Mann, der von sich selbst sagt, er sei nicht der Hellste. Der Druck, der von seinem ersten Auftritt an auf ihn ausgeübt wird, zeichnet sich in seinem kantigen, fast ausdruckslos bleibenden Gesicht zwar kaum ab, dennoch sieht man ihm an, dass er leidet. Er ist der Prototyp des Losers, zu gutmütig, zu wenig abgebrüht, um es in der Welt des Verbrechens wirklich zu etwas bringen zu können. Stattdessen zieht er die großmäuligen, aggressiven Typen, denen er ein willkommendes Opfer zu sein scheint, beinahe magnetisch an. Alle setzen sie ihm zu, lassen ihn wissen, dass er keine Chance hat, dass sie ihn für einen Versager und Idioten halten. Und Ugo nimmt das so hin. Er hat einfach keine Lust mehr auf Auseinandersetzungen. Da sieht man es mit einiger Genugtuung, dass er seine Feinde Lügen zu strafen scheint: Ugo ist nämlich cleverer als alle denken. Er geht mit seiner Intelligenz eben nur nicht hausieren; ganz so wie sein Gesinnungsgenosse auf der anderen Seite des Gesetzes, der berühmte Inspektor Columbo. So nähert sich Ugo dem großen Triumph, den keiner vorhergesehen hat. Und dann kommt doch alles anders.

MILANO CALIBRO 9 ist so konzentriert und unterkühlt erzählt, dass das Ende gleich doppelt so hart trifft. Noch nicht einmal Ugo kann angemessen darauf reagieren und ich habe gestern kaum weniger dumm aus der Wäsche geschaut als er – und dass, obwohl ich den Film schon kannte. Fernando Di Leo ist es gelungen, seinen Film selbst dann noch völlig authentisch, frisch und originell erscheinen zu lassen, wenn er Genrestandards reproduziert. So folgt man jeder Wendung gebannt, fiebert mit Ugo mit, dem man wie selbstverständlich völlig blind vertraut. Und wenn man feststellt, von ihm – wie alle anderen – an der Nase herumgeführt worden zu sein, dann nimmt einen das noch mehr für ihn ein: Er tut ja nur, was er tun muss.

MILANO CALIBRO 9 ist der rare Glücksfall eines durch und durch perfekten, fehlerlosen Films, der  dabei dennoch nicht maschinell und leblos wirkt. Dass es dazu kommen konnte, liegt, wie ich schon sagte, in erster Linie an Gastone Moschins Darbietung für die Ewigkeit, in zweiter am famosen Drehbuch. Aber auch der Rest stimmt: Die Besetzung drängt sich nicht auf den ersten Blick auf, vereint aber gleich ein gutes halbes Dutzend am Leistungsmaximum agierender Darsteller. Neben den bereits Genannten sind auch Luigi Pistilli als kritscher, politisch links stehender Polizeibeamter zu sehen, Philippe Leroy als tougher Loner auf Ugos Seite und die schnuckelige Barbara Bouchet als Ugo Geliebte Nelly. Bacalov hat dem Film einen grandiosen Score geschenkt, dessen treibender Rhythmus die Unausweichlichkeit von Ugos Schicksal und dessen Melodie die Tragik desselben akzentuieren. Sicherlich eines der Meisterwerke des exploitativen italienischen Kinoschaffens der Siebziger: Aber ehrlich gesagt tut man Di Leos Film mit dieser Einschränkung großes Unrecht. Ein Meisterwerk ist ein Meisterwerk ist ein Meisterwerk.