Filme wie DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE machen mir immer ein bisschen Angst, weil sie mit der Bezeichnung „Klassiker“ fast noch unterbewertet sind. Fritz Langs legendäre Fortsetzung seines eigenen 1922 entstandenen DR. MABUSE, DER SPIELER schafft als früher, aber formal bereits unheimlich avancierter Tonfilm überhaupt erst die Grundlage, anhand derer wir die Kriterien, nach denen wir auch heute noch bestimmen, was einen „Klassiker“ oder ein „Meisterwerk“ auszeichnet, aufstellen konnten. DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE ist mehr als ein Film, auch mehr als ein historisches Dokument oder kulturelles Artefakt: Er ist gewissermaßen das filmische Äquivalent des Urmeters, die Blaupause, an der sich noch heute – wissend oder unwissend – jeder Filmemacher orientiert, wenn er sich in der Schnittmenge von Thriller, Paranoiafilm und Horror bewegt, und ohne dessen formalen Errungenschaften seine Kunst heute um Einiges ärmer wäre – wenn sie die 80 Jahre, die seitdem vergangen sind, ohne sie überhaupt überdauert hätte. Mein Textchen hier ist von vornherein zur Redundanz verdammt, weil sich bereits Dutzende von Filmwissenschaftlern und -historikern an Langs Film abgearbeitet, seine komplizierte Editions- und Rezeptionsgeschichte durchleuchtet, jedes Einzelbild auf links gedreht, jeden Schnitt analysiert, jede Dialogzeile interpretiert und dabei Erkenntnisse zu Tage gefördert haben, die ich hier weder zusammenfassen noch übertreffen könnte. Ich kann mir nicht helfen, mir nötigt ein Werk wie DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE höchsten Respekt ab. Vielleicht bin ich von Natur aus autoritätsgläubig: Ich kann mich vom Status von Langs Film unmöglich freimachen und ihn betrachten wie irgendeinen beliebigen Film. Trotzdem kann ich ihm an dieser Stelle aber auch keinen Text widmen, der diesem Status auch nur annähernd gerecht würde.
Der Name „Mabuse“ ist mir seit meiner Kindheit geläufig, als ich ihn von einem Schulkameraden aufschnappte, wahrscheinlich weil der einen von Brauners Mabuse-Filmen aus den Sechzigerjahren im Fernsehen gesehen hatte. Dann gab es in den Achtzigern ja auch noch den Song „Dr. Mabuse“ der Düsseldorfer Synthiepopgruppe Propaganda (den ich aber auch nur vom Namen her kannte). Schließlich fand die vielleicht unheimlichste Szene aus Langs Film Eingang in den „Lieblingsszenen“-Artikel, der 1995 anlässlich des 100. Geburtstags des Kinos in der Splatting Image veröffentlicht wurde. „Mabuses Geist, ausgestattet mit hypnotischen, übergroßen Augen und einem offenliegenden Gehirn, sitzt dem Irrenarzt gegenüber und faselt von der ,Herrschaft des Verbrechens‘ […] die Szene [ist] nach Mitternacht bei vereinsamter Wohnung besser als jede Koffeintablette“, schrieb damals Peter Blumenstock. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis ich die Reihenfolge der verschiedenen Mabuse-Filme auf die Reihe bekam, verstand, dass Langs späterer DIE 1.000 AUGEN DES DR. MABUSE, den er nach seiner Rückkehr nach Deutschland drehte, mit den beiden vorangegangenen Filmen zwar den titelgebenden Schurken teilte, sonst aber eine ganz andere Baustelle war. Aber die beschriebenen Konfusionen trugen erheblich dazu bei, dass die Figur des kriminellen Masterminds eine enorme Faszination auf mich ausübte: Die Figur war irgendwie schon immer da und das machte sie seltsam real für mich. Wie dieses kriminelle Mastermind – vom luxemburgischen Autor Norbert Jacques 1919 erdacht – sich über das Medium Film ins kollektive Bewusstsein schlich und seinen Keim legte, dann über Jahrzehnte verschwand, nur um dann doch noch einmal zurückzukehren, wie er seit den Sechzigerjahren von der Bildfläche verschwunden, aber trotzdem nicht vergessen ist: Das erinnert frappierend an seine Methode, eine Stimmung der Angst zu erzeugen um mit ihr auch noch in die entlegendsten Winkel zu kriechen, die Fritz Lang in DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE beleuchtet.
Und diese Stimmung prägt auch den Film. Von der ersten Szene an, die von einem maschinellen Dröhnen ohne Ursprung bestimmt wird, liegt sie wie ein Schleier über den Bildern, nicht greif- aber doch spürbar. Sie materialisiert sich in den kurzen Momenten, in denen wir den Geist Mabuses erblicken, wie er als Projektion der von ihm beeinflussten Opfer Kontrolle über sie ausübt, aber eigentlich handelt der Film davon, wie sich das Böse als self-fulfilling prophecy selbstständig und von Menschen unabhängig macht. Die Gemeinsamkeiten von Mabuses angestrebter „Herrschaft des Verbrechens“ und dem Regime des Dritten Reichs, das sich eine Nation „williger Vollstrecker“ heranzüchtete, sind unübersehbar – nur Goebbels fielen sie nicht auf. Vom Verbot des Films hielt ihn das nicht ab, aber der Grund war nicht, dass er sich und die Pläne Hitlers enttarnt fühlte, sondern – ironischerweise – einen schlechten Einfluss auf die Volksmoral berfürchtete: Er war der Meinung DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE stifte zum Verbrechen an. Das war der Anfang einer überaus turbulenten Editionsgeschichte mit verschiedenen Sprach- und Schnittfassungen, deren vorläufiger Entstand annähernd vollständig, aber eben immer noch nicht mit Langs finaler Version identisch ist. Man merkt es ihm nicht an: Schon während der Sichtung erweist sich DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE als perfekt, einer jener raren Filme, bei denen sich jede Szene nahtlos an die vorangegangene anschließt, nichts mehr hinzugefügt oder weggenommen werden kann (die kürzeren Versionen behalten die Szenenfolge nahezu bei, kürzen lediglich innerhalb der Szenen). Trotzdem wirkt TESTAMENT zu keiner Sekunde steril oder leblos, er wurde von Lang nicht zu Tode optimiert, sondern bewahrt sich ein zentrales Mysterium und seine rohe Energie. Das ist zum einen auf Langs „reimenden Schnitt“ zurückzuführen, der den Film nicht so sehr voranschreiten als -fließen lässt, auf die spannungsreiche Bildsprache und die einprägsamen Protagonisten, zum anderen auf den actiongeladenen Szenenaufbau. Einige der Stunts und Effekte lassen das Alter des Films völlig vergessen: Großartig etwa die Sequenz in der der gefügig gemachte Kent (Gustav Diessl) mit seiner Freundin in einem Raum eingesperrt ist, und eine Überflutung initiiert, um ein Fluchtloch in den Dielenboden zu sprengen. Lang hat seinen Schauspieler auch körperlich einiges abverlangt. Und dann ist da natürlich Mabuse: Eine faszinierende Figur, vom hakennasigen Rudolf Klein-Rogge mit diabolischer Präsenz ausgestattet und einem Blick, der durch und durch geht. Er wahrt sein Geheimnis bis zum Schluss, ist umso unheimlicher und furchteinflößender, als man nie genau weiß, was er ist, was ihn treibt, wie man ihn stoppen kann. Es dürfte sich bei ihm um eine der interessantesten Schurkenfiguren des populären Kinos handeln. Dass es seit fast 50 Jahren keinen Film mehr mit ihm gegeben hat, liegt definitiv nicht daran, dass die Figur nicht mehr zeitgemäß wäre (im Gegenteil), sondern allenfalls daran, dass DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE heute immer noch voller Kraft und Frische ist, keines Updates bedarf. Ein Meisterwerk eben.
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