Oh Mann, habe ich doch glatt NACH DER WÖLFE vergessen, den ich letzte Woche im Rahmen des Mondo Bizarr Double Features im Kino bewundern durfte. Aber besser spät als nie, gell? Der Film von Rüdiger Nüchtern, Mitbegründer des Filmverlags der Autoren, ist nämlich durchaus bemerkenswert – und leider zu Unrecht vergessen. Nicht nur ist er ein herrliches Zeitdokument, das den Blick in eine Zeit ermöglicht, in der Jugendliche noch „dufte“ sagten, Musikkassetten im Elektroladen erstanden oder sich in der örtlichen Eisdiele trafen, er behandelt sein Thema auch ganz ohne anstrengenden Sensationalismus.
In der Pariser Straße in München regieren die „Revengers“, eine sogenannte „Rockerbande“ oder auch einfach nur eine Gruppe von gelangweilten, zur Kleinkriminalität neigenden Jugendlichen, die an den Jacken oder Westen mit dem auffälligen Rückenaufnäher zu erkennen sind. Als eine türkische Gastarbeiterfamilie in der Pariser Straße einzieht und dort einen Lebensmittelladen eröffnet, erregt das sofort die Aufmerksamkeit der Halbstarken, die noch gesteigert wird, als sich die Türken ebenfalls in einer Bande, den „Blutadlern“, organisieren. Zunehmend angepisst von dem sinnlosen Hass sind Daniela (Daniela Obermeir), die mit dem gewalttätigen Duke (Karl-Heinz von Liebezeit) liiert ist, und der junge Türke Dogan (Ali Arkadas), der als erster die Fäuste der Revengers zu spüren bekommt. Die beiden nähern sich an.
Dass es zur großen grenzüberschreitenden Liebesgeschichte nie kommt, beschreibt Nüchterns Film schon recht gut. Große dramaturgische Bögen vermeidet er, konzentriert sich eher auf die unverstellte, authentische Beobachtung des relativ drögen Alltags, in dem es wenig Platz für echte Verpflichtungen wie Schule, Arbeit oder Familie gibt, aber dafür viel Zeit für Langeweile und schwachsinnige Ideen. Schon dieses Festhalten an der eigenen Straße, auf der kein anderer eine „Jacke“ tragen darf, ist reichlich absurd, aber es ist genau jenes Revierdenken, das die Grundlage für einen Bandenkrieg stiftet. Das Konzept ist Popkultur-Interessierten vor allem aus dem Hip-Hop geläufig, aber hier wirkt das alles noch so rührend naiv und infantil – auch wenn es am Ende in eine Tragödie führt. Eine der Ursachen dafür, dass es diesen Eindruck macht, ist zum einen die wie aus der Zeit gefallen erscheinende Jugendsprache, zum anderen die Tatsache, dass die Welt 1982 noch nicht in tausend Subkulturen aufgesplittert war. Die Halbstarken hören hier denselben Altherrenrock wie ihre Väter in den Seventies, auf dem Plattenteller drehen sich erst die deutschen Judas-Priest-Epigonen von Accept und anschließend The Police, ohne dass das einen großen Stilbruch darstellt. Getrunken wird Dosenbier, härterer Stoff ist auffallend abwesend. In der schönsten Szene des Films rempeln sich die beiden Revengers Duke und Mex (Fritz Gattungen) in der Eisdiele zu Rockmucke aus der Musikbox an, minutenlang, in einer abgemilderten, unentschlossenen, spielerischen Variante des Pogo. Irgendwann tritt die süße Anschi (Sabine Gundlach) hinzu, um mitzumachen. Aber sie stört den Kreis: Duke und Mex verharren, schauen verlegen auf Anschi, die ebenso verlegen zurückschaut. Dann ist das Lied zu Ende und die ganze Situation löst sich in Schweigen auf. Der Kinosaal lachte laut, aber es war nicht dieses ätzende SchleFaZ-Lachen, sondern ein Lachen der Vertrautheit: Nüchtern fängt die Banalität des Lebens so wunderschön ein, das kann man eigentlich gar nicht stellen. Dass die Darsteller allesamt unverbrauchte junge Gesichter sind, die auch später nur noch selten in Erscheinung tragen, trägt viel zum Charme des Filmes bei. Es wird viel rumgehangen, werden große Reden geschwungen, alle machen sich in der ein oder anderen Form zum Affen, aber alle nehmen sich dabei selbst unheimlich wichtig, wirken dabei aber stets glaubwürdig. Daniela hat diesen leicht verschlafenen, dabei aufmüpfigen Nena-Blick, mit dem sie unter ihrem hinreißenden Pony hervorschaut, ein prototypisches Achtzigermädel: Sie ist genervt von allem um sie herum, vor allem vom affigen Gehabe der Typen, kennt aber noch keine Alternative. Aber eigentlich spielen sie alle Rollen von gestern, eifern überkommenen Vorbildern nach und steuern geradewegs auf das Nichts zu. Die Männer sind in der besseren Situation, weil für sie die Position der Macher vorgesehen ist, aber das hindert sie eben auch daran, etwas zu ändern. Sie steuern sehenden Blickes in die Katastrophe, mit der der Film endet, unfähig, den Rückwärtsgang einzulegen oder auch nur das Steuer herumzureißen.
Rüdiger Nüchtern drehte noch einen anderen Jugendfilm, den in Bayern wohl relativ gut beleumundeten SCHLUCHTENFLITZER, dessen Trailer wir im Vorprogramm von NACHT DER WÖLFE bewundern durften. Auch der sah sehr interessant aus. Um nicht zu sagen: „dufte“.