Mit ‘Märchenfilm’ getaggte Beiträge

1969. Ein Hippiepärchen wird erschossen, dem Söhnchen gelingt die Flucht. Von einer Obdachlosen wird der Junge anschließend großgezogen, lernt, in den Straßen der „Zone“ zu überleben, eines dystopischen Elendsviertels, wo das Verbrechen regiert, und schnappt von der Ziehmama allerlei verschwörungstheoretisches Geraune über eine „company“ und die „blue coats“ auf, die einen den „white coats“ übergeben wollen. In der Stadt macht er als legendäres „Wild Thing“ (Robert Knepper) von sich reden, das noch nie jemand wirklich gesehen hat, das aber als eine Art Robin Hood oder auch Spider-Man durch die Nacht schleicht und dem Guten zum Sieg verhilft, wo es kann. Just in dem Moment, in dem die Sozialarbeiterin Jane (Kathleen Quinlan) in „The Zone“ auftaucht, um die Arbeit in einem Heim für heimatlose Kinder aufzunehmen, findet Wild Thing den Mörder seiner Eltern: Es handelt sich um den Verbrecher „Chopper“ (Robert Davi), der wiederum Helfer aufseiten der „blue coats“ hat …

Keine große Sache, dieser Film, aber doch ein sehr schöner, vergessener Vertreter des Achtzigerjahre-Kinos, der zudem ein hübscher Genrehybrid ist. Die Geschichte erinnert gleichermaßen an TARZAN wie an BATMAN oder eben SPIDER-MAN, ein bisschen Wolfsjunge und Kaspar Hauser steckt auch noch drin. Ach ja, und dann kommt das Ganze auch noch als Law-and-Order-Film mit einigen eher unerwarteten Gewaltschüben daher, noch dazu mit einem Figureninventar voller Gammler, Spinner und Bettler, dass man sich manchmal in einer Disney-Version von STREET TRASH wähnt. WILD THING kann sich nicht so ganz entschließen, ob er nun ein Comicfilm ohne Comicvorlage oder ein waschechter Actionfilm sein will, aber das ist auch ganz gut so. So vorhersehbar die Geschichte um das Findelkind und den Mörder seiner Eltern auch ist, so sehr überrascht er den Zuschauer auch immer wieder mit seinen Brüchen und Schwankungen.

Spät im Film, bevor das Wild Thing sich im Slashermodus Zugang in des Schurken Behausung verschafft, gibt es eine Sexszene zwischen ihm und Jane, die im Kontext des Films durchaus ein bisschen fehlgeleitet ist. Man versteht natürlich den Reiz, den dieser ungezähmte Schönling mit den markanten Zügen, der blonden Mähne und dem gerippten Bauch auf die brave Erzieherin vom Lande ausüben muss, aber das sie dessen Anwandlungen erwidert, riecht schon ein wenig nach Missbrauch von Schutzbefohlenen – auch wenn das Wild Thing nicht mehr minderjährig ist. Am Ende entscheidet sich der charismatische Superheld mit dem Spatzenhirn dann allerdings für das Superheldenleben auf den Dächern über den Straßen. Da war die Jane wohl doch nicht so der Bringer gewesen.

jungle_bookEs war klar, dass der vielleicht beliebteste unter den Walt-Disney-Filmen irgendwann ein Remake als „Realfilm“ erfahren würde: Nicht nur der Fortschritt der Effekttechnik und das Aus-der-Mode-Kommen klassisch gezeichneter Trickfilme machte das unabwendbar: Das Original von Wolfgang Reithermann legte es schon mit seiner nahezu elliptischen Erzählweise nahe, dass jemand das Bedürfnis verspürte, die Lücken zu füllen. Jon Favreau, der sich mit IRON MAN nicht gerade als großer Künstler, wohl aber als relativ sorgfältiger Verwalter eines beliebten Franchises erwiesen hat, ist wahrscheinlich die ideale Wahl für ein Unterfangen wie dieses. Im Zentrum von THE JUNGLE BOOK steht keine neue erzählerische Idee, sondern vor allem der Wunsch, tiefer in den Urwald vorzudringen, diese geheimnisvolle, von wilden Tieren bevölkerte Welt zu neuem, vor allem authentischem Leben zu erwecken. Also tatsächlich in die dritte Dimension vorzudringen, während sich der Originalfilm nur in zweien abspielte. Wie immer, wenn ein Film sich dermaßen auf den vermeintlichen Realitätsgrad seiner CGI verlässt, gibt es hier und da Anlass zu meckern, wenn die Illusion mal missglückt, aber im Großen und Ganzen ist THE JUNGLE BOOK die angepeilte Augenweide, der Plan ist also aufgegangen. Man bekommt ziemlich genau das geliefert, was sich im Original immer nur in den stilisierten Hintergründen andeutete: tiefen, unergründlichen Urwald voller Geheimnisse und Wunder – und einer bunten, großartig animierten Fauna.

Dieses Ausbreiten des Stoffes birgt auch Gefahren: Favreaus THE JUNGLE BOOK dickt an, wo Reithermann Dinge wegließ. Mowgli (Neel Sethi) erhält nun eine Backstory, Shere Khan (Idris Elba) hat einen persönlichen Grund, ihn zu hassen, und das Menschenkind ist zwischen den charakterstarken Tieren keine austauschbare Gestalt mehr wie zuvor, sondern das klare Zentrum, das am Ende beinahe messianische Fähigkeiten zugesprochen bekommt. Die Perspektive des Films ist eine andere. Während der Mensch in Reithermanns Klassiker durch die Augen der Tiere betrachtet wurde, Mowgli im Grunde ein universeller Repräsentant der Menschheit „an sich“ war, geht es in Favreaus Film eher darum, dass sich Mowgli als Individuum von bzw. vor den Tieren emanzipiert und behauptet. Bagheera und seine Wolfsfamilie versuchen ihm das „Menschliche“ bzw. das Individuelle auszutreiben, damit er einer von ihnen sein kann; etwas, das Mowgli sichtlich schwer fällt. Erst zum Ende des Films kann er seinen tierischen Freunden beweisen, dass seine genuin eigenen Fähigkeiten nicht etwa Mängel, sondern Stärken sind, die es zu bewahren lohnt: Auch und gerade für die tierische Gemeinschaft. Er geht auch nicht zu den Menschen, sondern bleibt als nun akzeptierter „Sonderfall“ bei seiner Wolfsfamilie. Kurz: Das Original forderte vom Zuschauer, sich selbst aus der Distanz von außen zu betrachten, ohne am Ende eine „Lösung“ zu offenbaren. Es akzentuierte einen natürlichen Lauf der Dinge, die Herausbildung der Persönlichkeit als universellen Prozess, der immer gleich abläuft. Favreaus Remake hingegen macht es dem Betrachter wesentlich leichter: Mowgli darf, ganz der Disney’schen Philosophie zufolge, bei ihm etwas Besonderes sein und damit auch das Maß der Schöpfung bleiben – vor der der Mensch aber natürlich Respekt haben sollte.

Wenn aber auch die intellektuelle Offenheit fehlt, die den Klassiker auszeichnete, so heimst Favreau Sympathiepunkte ein: Vor allem natürlich, weil THE JUNGLE BOOK einfach wunderschön anzuschauen ist und zumindest meine Knöpfchen sehr zielgenau zu drücken verstand. Der Film ist spannend, witzig und im richtigen Moment anrührend. Dass und wie er die unsterblichen Originalsongs adaptiert, hat mir ebenfalls gut gefallen.  Außerdem steuert Favreau immer wieder gegen, bevor es allzu formelhaft wird, und bewahrt dann die Mystik des Originals, vor allem natürlich in den Episoden um die geheimnisvolle Kaa (Scarlett Johansson) und den gigantischen King Louis (Christopher Walken). Letztere Besetzung mag auf dem Papier zunächst unorthodox und fehlgeleitet erscheinen, aber sie erweist sich als wahrhaft inspiriert. Die Louis-Episode ist dann auch der Höhepunkt des Films. Klar, das ist den Anforderungen des heutigen Eventkinos entsprechend alles sehr over the top und überschreitet im Affentempel die Grenze zum Horror- oder Monsterfilm, aber es funktioniert eben. Da sind Dinge auf der Welt, die der Mensch nicht versteht, die älter sind als er, mit denen er nichts zu tun hat. Bagheera hatte schon Recht. Auch wenn Disney das anders sehen mag.

bfg-big-friendly-giant-1-rcm0x1920uAls ich den Trailer zu BFG: BIG FRIENDLY GIANT, Spielbergs Verfilmung des (fast) gleichnamigen Kinderbuchs von Roald Dahl, zum ersten Mal sah, überwogen die Zweifel – und ich verfiel in die naheliegende Hollywood-Kritik: Dahls Stoff sei einfach zu böse und nonkonform, um ausgerechnet von Spielberg, dem großen Harmoniebedürftigen des Filmgeschäfts, adäquat auf die Leinwand gebracht zu werden. Die kurzen Ausschnitte erschienen mir zu putzig, märchenhaft und lieb. Dahls Vorlage ist zwar nicht so finster wie sein „The Witches“ (dessen Verfilmung von Nicholas Roeg ich noch nicht kenne), aber mit Kindesentführung, kinder- und menschenfressenden Riesen und der finalen militärischen Intervention gegen die Monster doch weit weg von dem bonbonbunten, zuckersüß-naiven Kram, der Kindern gewöhnlicherweise vorgesetzt wird. Dahl hat sehr gut verstanden, dass Kinder durchaus gefordert werden können – und außerdem einiges verkraften. Das ausgeprägte manichäistische Weltbild, das ihr Denken bestimmt – es gibt Gut und Böse und wenig dazwischen -, ist eine gute Voraussetzung, auch mit kinderfressenden Monstern und kinderhassenden Hexen klarzukommen.

Es ist richtig: Bei Spielberg ist alles etwas bunter, fluffiger und süßer als bei Dahl. Waren die bösen Riesen in der Romanvorlage noch fette, behaarte und nackte Unholde, die auch in den Abbildungen nur grob und krude skizziert wurden, sehen sie mit ihren riesigen Nasen, wulstigen Lippen, wilden Haaren und wikingerhaften Klamotten bei Spielberg genauso aus, wie man sie sich eben vorstellen würde. Überhaupt ist in Spielbergs Film alles deutlich „runder“, werden die Ellipsen, die Dahl sehr bewusst stehen ließ, ausgefüllt, die karg gehaltene Riesenwelt sehr opulent ausgemalt. Spielberg das zum Vorwurf zu machen, wäre aber auch reichlich naiv: Zum einen kennt man seinen Stil, zum anderen hat er eben einen Film gedreht und der lebt nun einmal von Bildern, hat sogar die Aufgabe, konkret zu verbildlichen, was in einem Buch vom Leser ausgestaltet werden muss. (Und wenn man bedenkt, wie manches Buch in seiner Adaption schon vergewaltigt wurde, sind die kleinen Freiheiten, die er sich erlaubt, mehr als verzeihlich.) Spielberg entscheidet sich für eine nostalgisch-europäisch-dickensische Ausgestaltung (Protagonistin Sophie liest dann auch „Nicholas Nickleby“): Das London, in dem der Film spielt, mutet historisch an, die Riesenwelt erinnert an die schottischen Highlands, ins Traumland, wo der BFG auf Traumjagd geht, gelangt man, indem man in einen idyllischen Teich springt, in dessen Oberfläche sich ein riesiger Baum spiegelt. Die Queen ist verständnisvoll und gütig, ohne die Fassade royaler Strenge jemals ganz abzulegen, ihr Hofstaat sind etwas steife, aber ultimativ liebenswürdige Gestalten, die sehr freundlich zu Sophie und dem Riesen sind. Es ist vielleicht nicht die originellste Interpretation von Dahls Bildern, aber sie ist geschlossen und wunderschön anzusehen.

Dass Dahls Buch kaum einen Plot aufweist, über weite Strecken lediglich über das Zwiegespräch zwischen Sophie und dem Riesen fortgetragen wird, ist da schon ein größeres Problem für eine Verfilmung. Spielberg löst es, indem er seine opulenten Settings erkundet, kurze Passagen durch brillante Choreografien zu großen Actiontableaus ausweitet (die Suche der bösen Riesen nach Sophie) oder natürlich auch Handlungselemente hinzuerfindet. Dass der BFG vor alnger Zeit schon einmal ein Kind bei sich hatte, ist ein Spielberg-Einfall, der die tiefe Zuneigung des BFG zu Sophie erklärt, aber auch etwas beliebig erscheint. Auch der kurze Konflikt zwischen den beiden Freunden am Ende des zweiten Akts ist lediglich der Erzählkonvention geschuldet: BFG: BIG FRIENDLY GIANT wäre ohne diese Standards sowohl kürzer als auch origineller gewesen, andererseits sind von Spielberg inszenierte Standards natürlich immer noch besser als die genuinen Einfälle so manches weniger begabten Filmemachers. Man freut sich einfach über jede Sekunde, die man sich in diesem Film aufhalten darf. Der Höhepunkt ist gewiss die Sequenz im Buckingham Palace, die in einer wunderbar anarchisch-albern ausgedehnten Pupssequenz kulminiert. Der folgende Showdown kann da nicht mehr ganz mithalten, aber auch das ist wahrscheinlich im Sinne von Dahl: Das Herz seines Buches ist die unwahrscheinliche Freundschaft zwischen dem Riesen und dem kleinen Mädchen und es pocht auch in Spielbergs Verfilmung warm und kraftvoll.

Ich habe BFG: BIG FRIENDLY GIANT zusammen mit meiner sechsjährigen Tochter im Kino gesehen und hatte ein bisschen Sorge, dass der Film sie emotional überfordern könne. Umsonst: Sie kennt das Buch und ist wunderbar mitgegangen, hat sich gegruselt, gefürchtet, gelacht, gezittert und insgesamt eine tolle Zeit gehabt. Es war großartig, dieses Kinoerlebnis mit ihr teilen zu dürfen.

$_57Hach, THE PRINCESS BRIDE. Ein Film, der in Deutschland leider nicht die Bekanntheit genießt, die ihm eigentlich zusteht. Auch in den USA ist er erst über die Jahre, vor allem durch seine Heimkinoauswertung, zu einem verehrten Kultklassiker gereift, nachdem er bei seinem Kinoeinsatz zunächst nur mäßig erfolgreich war. Rob Reiners Verfilmung des gleichnamigen selbstreflexiven Fantasyromans von William Goldman aus dem Jahr 1973 – der Autor verfasste das Werk als „gekürzte Fassung“ eines fiktiven Buches und tritt in seinem Verlauf immer wieder als Kommentator auf – ist ein Unikat in einem sonst eher konservativen Genre, zeichnet sich durch einen sehr feinen ironischen Humor aus, der niemals in Herablassung oder feige Distanzierung abgleitet, durch fantastische, intelligente, pointierte und durchaus poetisch zu nennende Dialoge und natürlich eine wunderbare, originelle Besetzung.

Anders als andere Fantasyfilme, die vor allem post LORD OF THE RINGS gern mal in scheußlicher, blutgetränkter Brachialepik verenden und genau in dem Maße nicht Ernst zu nehmen sind, in dem sie sich selbst viel zu Ernst nehmen, fühlt sich THE PRINCESS BRIDE wunderbar luftig und leicht an. Er umarmt das Triviale und Ephemere, die schiere Freude am Geschichtenerzählen als uralte Form zwischenmenschlicher Kommunikation, und erreicht so ungeahnte Wahrhaftigkeit. Seine großen Gesten der Liebe, der Freundschaft und Loyalität und des Heldenmuts kommen ohne jedes aufgesetzte Pathos aus: Hier wird keine weltumspannende Botschaft nach Hause gedroschen, kein monolithisches Denkmal der Tapferkeit errichtet, vielmehr begreift Reiner gerade Intimität und die genannte Leichtigkeit als die entscheidenden Stärken seines Films. Ja, tatsächlich, THE PRINCESS BRIDE ist ein humanistischer Film, aber einer, der sich dafür nicht selbst auf die Schulter klopft. Er hat nichts zu verkünden, außer Fabulierfreude im Überfluss. Held Westley (Cary Elwes) verfolgt keine Mission, er ist auch kein leuchtendes Vorbild, kein Auserwählter, der mit dem Schwert Gerechtigkeit bringt: Er will einfach seine Geliebte, die schöne Buttercup (Robin Wright-Penn) zurück, die ihm der ölige Prinz Humperdinck (Chris Sarandon) weggeschnappt hat, als Westley auf große Seereise ging. Der Rachewunsch von Inigo Montoya (Mandy Patinkin), der seit 20 Jahren auf der Suche nach dem Mörder seines Vaters ist, wird weder mit grimmigem Eifer verfolgt noch zu krankhaftem Wahn hochstilisiert: Er ist schlicht Ausdruck seiner Persönlichkeit und konsequente Folge der Liebe, die er für seinen Vater empfand. Die Schurken – neben Humperdinck ist da noch sein Adlatus, Graf Rugen (Christopher Guest) – verdienen ihre Strafe schlicht deshalb, weil sie gegen die einfachen Regeln des menschlichen Zusammenlebens verstoßen haben: Sie müssen nicht zu Monstren verzerrt werden. Es herrscht eine sehr klare Moral im magischen Lande Florin, in dem der Film spielt, die nichts mit existenzialistischer Schwere oder archaischer Düsternis zu tun hat. Es ist einfach erfrischend, einen Film zu sehen, der vom Guten statt vom Bösen beflügelt wird.

Diese allgegenwärtige Liebe zeigt sich zuerst in den Figuren. Keine einzige ist unwichtig, egal wie tangentiell ihre Bedeutung für die Handlung letztlich ist: Cary Elwes, ein Schauspieler, den man in erster Linie mit seinen „boyish good looks“ assoziiert, ist perfekt als humorvoller Held, sein komödiantisches Timing beachtlich. Andre the Giant, der riesenhafte Wrestler, der fünf Jahre später an den Begleiterscheinung seiner Akromegalie verstarb, ist sowas wie das Herz des Films: Ein freundlicher Hüne, der keine Sekunde darüber nachdenken muss, ob er seinen Freunden helfen will. Wallace Shawn brilliert als selbstverliebter, schurkischer Kopfjäger mit Vorliebe für das Wort „inconceivable“, das er ständig falsch verwendet. Billy Crystal und Carol Kane spielen ein greisenhaftes Hexen-Ehepaar, das den armen Westley vor dem Tod rettet, Mel Smith einen glubschäugigen Folterknecht namens Albino, der seiner Aufgabe mit beinahe kindlicher Unschuld nachgeht. Robin Wright-Penn (noch vor ihrer Ehe mit Sean) muss eigentlich nur hübsch und tugendhaft aussehen und erfüllt diese Aufgabe naturgemäß mit Bravour. Aber am wichtigsten für THE PRINCESS BRIDE sind Mandy Patinkin und Peter Falk. Ersterer ist als Inigo Montoya der heimliche Hauptdarsteller, ein wunderbarer, facettenreicher Charakter zwischen spanischem Heißsporn, verträumtem Ehrenmann und hoffnungslosem Gefühlsmenschen. Sein Mantra – „Hello. My name is Inigo Montoya. You killed my father. Prepare to die.“ – wird zu einer Art Refrain des Films, seine Mission löst Westleys Suche nach Buttercup als eigentlicher Hauptplot beinahe ab. Wenn THE PRINCESS BRIDE zu Ende ist, vermisst man ihn. Peter Falk hat demgegenüber eigentlich eine undankbare Rolle: Er spielt den Großvater, der seinem kranken Enkel (Fred Savage) in der Rahmenhandlung das Buch „The Princess Bride“ vorliest und den zunächst eher widerwilligen Jungen – die Liebesgeschichte von Westley und Buttercup beinhaltet ihm viel zu viel Küsserei – bald vollkommen für das Märchen einnimmt. Was in einem anderen Film allzu leicht zum überflüssigen Wurmfortsatz verkommen wäre, ist unter Reiner Inszenierung dank Falks humorvollem Spiel die Zutat, die aus einem fantastischen einen perfekten Film macht. Die Liebe des Opas, der seinem Enkel seine Lieblingsgeschichte „vererbt“ ist von der Liebe, die Falk in sein Spiel legt, nicht zu trennen. Am Ende saß ich wieder einmal wie aufgelöst vor dem Fernseher, und dass obwohl Reiner jedes manipulative Knöpfchendrücken vollkommen vermeidet. Ein Wunderwerk, das man für sich entdecken sollte, wenn man es noch nicht kennt. Einer der schönsten Filme der Achtzigerjahre, eine einsame Sternstunde des Genres und einer meiner absoluten Lieblingsfilme. Besser geht es nicht.

Eine Reise zurück in die eigene Kindheit: Aus dem Fernsehen aufgenommen, illustrierte dieser Traum in Technicolor das imaginäre, mittelalterliche Persien, das ich aus den Märchen aus 1001 Nacht kannte. Ferne, fremde und magische Orte wie Bagdad (das man heute mit ganz anderen, weniger farbenfrohen Bildern assoziiert) und Basra erhielten plötzlich eine greifbare Gestalt, ohne dabei die eigenen, farbenfrohen Vorstellungen zu entzaubern: Vielmehr bestätigten sie mich in meiner Überzeugung, dort wüchsen prächtige, ornamental verschnörkelte Paläste in den Himmel, überschatteten Straßen, in denen das pure Leben wimmelte wie in einem Ameisenhaufen. Hinter jeder Ecke konnte dort das Abenteuer lauern, ein Händler den ersehnten fliegenden Teppich feilbieten oder vielleicht die Wunderlampe, der dann ein gutmütiger Flaschengeist entweichen würde, um einem drei Wünsche zu erfüllen. Dort konnte man ebenso der wunderschönen Prinzessin in Not begegnen wie dem finsteren Magier, dessen böser Blick ausreichte, um einen mit einem gefährlichen Fluch zu belegen.

Tatsächlich weiß ich gar nicht mehr so genau, was zuerst da war: diese Bilder eines exotischen Persiens als einem Ort der wahr gewordenen Träume, der Abenteuer und Sehnsucht oder aber THE THIEF OF BAGDAD, der als Treibstoff zur Befeuerung der eigenen Fantasie bis heute unübertroffen ist. Das Regie führende Triumvirat – laut IMDb ergänzt durch die  nicht gecrediteten Alexander und Zoltan Korda sowie Wiliam Cameron Menzies – erzählt die komplexe Geschichte als nicht abreißende Abfolge prächtiger Bilder und Set Pieces. Mehr als durch einen narrativen roten Faden wird der Film durch die Vision eines Ortes zusammengehalten, an dem alles möglich ist, alles große, den Horizont erfüllende Emotion, die Grenze zwischen Realität und Traum vollkommen durchlässig. Gegenwart und Vergangenheit verschmilzen zu einem unauflöslichen Zustand der Sehnsucht: Der Film beginnt mit dem blinden Bettler Ahmad (John Justin) und seinem treuen Freund, einem klugen Hund. Doch Ahmad ist, wie er erzählt, eigentlich ein König und der Hund sein Freund Abu (Sabu), ein kleiner, tapferer Dieb. Beide fielen sie einem Fluch des bösen Magiers Jaffar (Contad Veidt) zum Opfer, der den König in den Kerker werfen ließ. Gemeinsam mit dem ebenfalls dort gefangenen Abu gelang ihm die Flucht nach Basra, wo die Liebe zuschlug: Ahmad verliebte sich unsterblich in die Prinzessin (June Duprez), auf die jedoch auch der böse Jaffar ein Auge geworfen hatte. Mit seinem Zauber geschlagen, bemühen sich die beiden Helden, erst ihre menschliche Gestalt zurückzuerlangen, die Prinzessin zu befreien, den Bösewicht zu besiegen und schließlich den Urzustand wiederherzustellen. Dabei begegnen sie einem Djinn (Rex Ingram), nehmen den Kampf mit einer Riesenspinne auf und stellen sich schließlich Jaffar und seiner Armee.

Das Wiedersehen mit THE THIEF OF BAGDAD ist mit Wehmut verbunden. Zum einen darüber, dass sich die Unschuld und Naivität, mit der ich den Filmen vor rund 30 Jahren zum ersten Mal gesehen habe, nicht lückenlos wiederherstellen lässt. Der Zauber wird durch das Wissen um die Gemachtheit des Films gemindert: Wo ich früher den mächtigen Djinn seinem Flaschengefängnis entweichen sah, sehe ich heute Doppelbelichtungen und Rückprojektionen. Größeren Schmerz bereitet aber die Gewissheit, dass es Filme wie diesen nie wieder geben wird. Die Lust an der Farbe, an Welten, die nicht den schnöden Gesetzen der Logik unterworfen sind, ist im heutigen Kino längst einem ernüchternden Zwang zum Realismus und der Authentizität gewichen. Während THE THIEF OF BAGDAD den direkten Weg zum Herzen wählt, müsste er heute den Umweg über das Hirn machen – und würde dabei genau das verlieren, was ihn auszeichnet. Andererseits sollte man diese heutige Perspektive, der man den Film unterzieht, vielleicht auch nicht überschätzen: Auch wenn seine Effekttechnik heute etwas rührend und unzulänglich anmuten mag, so war der Film zu seiner Zeit doch nicht zuletzt ein technischer Triumph. Die schiere Menge unterschiedlichster Effekttechnologie, die darin zum Einsatz kommt, macht THE THIEF OF BAGDAD zu einem Vorfahren von Kubricks 2001. Beide haben, was Spezialeffektkunst im prädigitalen Zeitalter angeht, enzyklopädischen Charakter.

Als es meine Frau und mich am vergangenen kinderfreien Samstag ins Kino zog, landeten wir zuerst mitten in einer frühnachmittäglichen Kindervorstellung. Tarsem Singhs MIRROR MIRROR war um 14:30 Uhr absolut „alternativlos“. Leider ist die Schneewittchen-Verfilmung des visuellen Poeten eine Enttäuschung gewesen: Warum, das kann man in der Filmgazette nachlesen, für die ich eine Rezension verfasst hae. Klick hier.

Die Welt steckt in einer schweren Wirtschaftskrise, die Menschen hungern, Epidemien breiten sich aus: Kein Wunder, dass der mittellose Schriftsteller Ivan Gajski (Ivica Vidovic) für seinen Roman über eine Seuche, die sich dank einer handlungsunfähigen Bürokratie ausbreitet, keinen Verleger findet. Als er in den Räumen der verlassenen Zentralbank übernachtet, wird er Zeuge eines orgiastischen Festes dunkel gekleideter Menschen und einer Rede, in der es um die „Übernahme“ der Menschheit geht. Später begegnet er Professor Boskovic (Fabijan Sovagovic), der ihm erklärt, dass es sich bei den Feiernden um Rattenmenschen handelt: Ratten, die sich in Menschen verwandelt haben und nun planen, die Herrschaft über die Welt an sich zu reißen. Gemeinsam mit dem Schriftsteller will er sich der Invasion entgegensetzen …

Von IZBAVITELJ habe ich schon häufiger gehört: Der Film lief unter dem deutschen Titel DER RATTENGOTT in den frühen Achtzigerjahren mal im ZDF und bereitete diversen Angehörigen meiner Generation, die das Glück hatten, ihn damals zu sehen, laut eigenem Bekunden schlaflose Nächte (später erschien er auch auf Video). Solche direkte Wirkung erzielt er bei einem Erwachsenen zwar nicht mehr (zumindest nicht bei mir), aber ich kann mir gut vorstellen, dass Papics enorm düsterer und bizarrer Film bei einem Kind, das nicht vorbereitet ist auf das, was da kommt, tiefe Spuren hinterlässt. Zwar wird IZBAVITELJ nie allzu grafisch und auch die Make-up-Effekte sind eher dezent gehalten, aber das es ist nicht zuletzt diese Latenz, die IZBAVITELJ zu so einer unangenehmen, beunruhigenden Erfahrung macht. Der ganze Film versinkt förmlich in Schwarz, teilweise schälen sich nur die Gesichter aus der alles verschlingenden Dunkelheit, die so eine ganz eigene Präsenz entwickelt, anstatt lediglich als Abwesenheit von Licht wahrgenommen zu werden. Am Anfang gibt es mal zwei Szenen, die bei Tageslicht spielen, aber auch in denen vermisst man den direkten Blick auf den Himmel oder gar die Sonne und so hat man selbst in den kaum als solche zu identifizierenden Außenszenen den Eindruck, mit den Protagonisten gefangen zu sein. Diese klaustrophobische, unheilvolle und apokalyptische Atmosphäre wird noch dadruch potenziert, dass das unaussprechliche Grauen die handelnden Figuren kaum schockiert: Als Boskovic den Schriftsteller Gajski damit konfrontiert, dass sich die Ratten in Menschengestalt unter sie gemischt haben, nimmt der diese Nachricht auf, als sei ihm soeben endlich der Zugang zum Offensichtlichen eröffnet worden: Angesichts der Ereignisse ist Boskovics Erklärung schlechthin die einzig logische. Der der Erkenntnis folgende Entschluss, die Rattenmenschen-Brut auszulöschen, erfordert keinerlei Überwindung mehr. Der harmlose Autor wird zum willigen Vollstrecker. Und diese Ambivalenz liegt nicht bloß im Auge des kritischen Betrachters, sie steht meines Erachtens im Zentrum des Films, dessen Grauen weitaus weniger klar umrissen ist, als es zunächst den Anschein hat.

Die Metaphorik der Seuche, die sich unbemerkt von den Menschen zwischen ihnen ausbreitet und sie infiziert, kommt einem natürlich schrecklich bekannt vor. Die Antisemitismus-Vermutung ist nie weit weg in IZBAVITELJ und die Rhetorik, derer sich sowohl Gajski und Boskovic als auch die Anführer der Rattenmenschen befleißigen, eignet sich gerade nicht dazu, diese Vermutung zu zerstreuen. Auch der Hinweis auf nahestehende Vertreter des Paranoia-KInos, etwa Don Siegels INVASION OF THE BODY SNATCHERS, spendet keinen Trost. Tatsächlich bleibt IZBAVITELJ aber auch hinsichtlich dieses Motivs höchst doppeldeutig, unentschieden. Man könnte die Rattenplage auch als Bild für den gerade in Zeiten wirtschaftlicher Not inmitten des Volks aufkeimenden Faschismus deuten und es gibt mehrere Hinweise im Film, die diese Deutung nahelegen (die reich gedeckte Tafel während der Orgienszene erinnert an ein halbiertes Hakenkreuz und der Anführer der Rattenmenschen befehligt Gestapo-artige Leibwächter). Entsprechend zurückhaltend ist Papic mit  einer eindeutigen Sympathieverteilung: Das Opfer Gajski verwandelt sich zum Ende hin selbst zum Täter, getrieben von der nackten Angst vor dem Anderen, die ihn blind werden lässt, und Professor Boskovic ist mit seiner heimischen Giftgasproduktion auch nicht gerade als friedliebend zu bezeichnen. Was sich hinter der „Übernahme“ der Menschen durch die Ratten wirklich verbirgt, bleibt ungewiss, und man darf sich durchaus fragen, ob die Alternative wirklich so viel besser ist. Der Kampf zwischen den beiden Seiten lässt sich so mit einigem Recht als Auseinandersetzung zweier gleichermaßen fanatisierter Gruppen verstehen, der erst das eigentliche Elend bedeutet.

IZBAVITELJ möchte ich ausdrücklich als Glücksfall des fantastischen europäischen Films bezeichnen: Wie hier Elemente der Schauerromantik, des Märchens, der politischen Parabel und der Dystopie zu einem nur schwer zu fassenden Horrorstoff verbunden werden, darf man schon einzigartig finden. Diese ganz eigene verträumt-melancholische Stimmung, die ich in den letzten Tagen als Spezialität der osteuropäischen Fantastik kennen und zu schätzen gelernt habe, diese Form des stillen Leidens, dem sich ihre lebensmüden Protagonisten unterwerfen, und die Gleichzeitigkeit des eigentlich Unvereinbaren – des Grauenvollen und des Wunderschönen, des Konkreten, Festen und des Flüchtigen – unterscheiden Papics Film von inhaltlich vergleichbaren Genrefilmen, wie z. B. Siegels oben genanntem Klassiker. Mit einer hermeneutischen Interpretation allein dringt man nicht zum Kern von IZBAVITELJ vor, dessen Wahrheit sich zusammen mit den Ratten in den dunklen Winkeln seiner unergründlichen Bilder verbirgt. Man erahnt seine Umrisse, die sich nur schemenhaft vom alles verschlingenden Schwarz um sie herum abheben – mehr würde man wahrscheinlich auch nicht verkraften. Mehr als alles, was man sieht, bestimmt das Unsichtbare, nur Erahnbare Papics Film – und seinen Protagonisten. IZBAVITELJ ist nicht weniger als ein Film über das Wesen der Angst, die überall dort einen Nährboden findet, wo das Licht nicht hinscheint.

Auf dem Mond trifft Baron Prásil (Milos Kopecky) einen vermeintlichen Mondmenschen, der sich jedoch als Astronaut und Naturwissenschaftler Tonik (Rudolf Jelinek) entpuppt. Um ihm die Wunder der Erde nahezubringen, reist der Lügenbaron mit ihm erst nach Konstantinopel, wo sie die Prinzessin Bianca (Jana Brejchová) befreien und daraufhin vor den Türken fliehen müssen. Sie landen schließlich auf einem Schiff, legen sich mit der türkischen Armada an, werden von einem Wal geschluckt und geraten schließlich mitten in einen Krieg …

Karel Zemans Verfilmung der Abenteuer des Lügenbarons Münchhausen ist vor allem ein ästhetischer Triumph: Basierend auf den berühmten Stahlstichen Gustav Dorés und mithilfe verschiedener Animationstechniken lässt Zeman nicht nur die Geschichten des Barons aufleben – die von der historischen Figur Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen tatsächlich selbst erzählt worden waren, bevor verschiedene Literaten sie dann verarbeiteten und für ihre Verbreitung sorgten –, er nähert sich filmtechnisch auch der Zeit ihrer Entstehung an. Denn obwohl Zemans Film aus dem Jahr 1962 stammt, wirkt er wie ein historisches Dokument aus der Zeit, als die Bilder mithilfe heute vorsintflutlich wirkender Geräte laufen lernten. Der innersequenzielle Schnitt ist von ebenso untergeordneter Bedeutung wie die Kameraarbeit, die die Abenteuer Münchhausens in überwiegend statischen Tableaus einfängt. Das Bild ist je nach Stimmung der jeweiligen Szene in monochromes Gelb oder Blau gehüllt und die Schauspieler agieren in Szenerien, die eben zum Großteil der „Feder“ Dorés entstammen, also innerhalb gezeichneter Settings, die durch „reale“ Bauten oder Landschaften vervollkommnet werden. Die so vor dem Auge des Betrachters entstehenden Kunstwelten werden durch eine Vielzahl von Spezialeffekt-Techniken ergänzt, die von simplen Doppelbelichtungen über scherenschnittartige Animationen bis hin zu Stop-Motion reichen. Das Ergebnis ist absolut einzigartig: BARON PRÁSIL wirkt wie aus der Zeit gefallen. Vielleicht kann man ihn als ein Simulakrum im Baudrillard’schen Sinne verstehen, als eine Kopie ohne Original: Er scheint einen historischen Stil zu kopieren, der in dieser Form jedoch nie existiert hat, ja, der erst dank der 1962 verfügbaren Tricktechnik überhaupt denk- und realisierbar war. Ein nahezu perfekter Rahmen für die Lügengeschichten Münchhausens, in denen sich Wahres, Halbwahres und Erlogenes nicht eindeutig von einander trennen lassen.

Aber BARON PRÁSIL hat durchaus noch mehr zu bieten als avancierte Form: Mit seinem feinen Humor zeichnet Zeman Münchhausen als idealtypischen Vertreter preußischen Herrenmenschentums und aristokratischer Arroganz. Seine Lügengeschichten sind nicht bloß Ausdruck unschuldiger Fabulierfreude, vielmehr schlägt sich in ihnen eine recht exklusive Sicht auf die Welt nieder, die der Adlige für sich gegenüber dem unterprivilegierten Fußvolk in Anspruch nimmt. Beim Klang einer einschlagenden Kanonenkugel gerät er nicht etwa in Unruhe über die drohende Gefahr: Vielmehr freut er sich über das Geräusch, ist es ihm doch untrüglicher Beweis dafür, dass das geliebte Europa nun nicht mehr weit weg ist. Die tatsächlichen naturwissenschaftlichen Errungenschaften des Astronauten Tonik werden von Münchhausen als Spinnerei verlacht: Zeman markiert in der Figur des Lügenbarons die Grenze zwischen einer gewissermaßen utopisch-naturwissenschaftlichen Fantasie, die Realität werden möchte, und einer bloß ästhetischen, die den Blick auf die Wirklichkeit vielmehr versperrt, als ihn zu öffnen. Der Baron interessiert sich gar nicht besonders für die Welt, die ihn umgibt, sie dient ihm lediglich als Stichwortgeber für seine Geschichten. Und was er nicht begreift, das kann auch nicht so wichtig sein. Dass Prinzessin Bianca sich in den Forscher verliebt, einen in seinen Augen langweiligen Arbeiter, und nicht in ihn, den eleganten Freigeist, ist ihm demzufolge unbegreiflich. Und natürlich ist er vor jeglicher Erkenntnis und Selbsteinsicht gefeit. Münchhausen ist der perfekte Narziss. Und Zeman hat ihm mit BARON PRÁSIL eine filmische Wunderwelt geschaffen, in der es so leicht ist, auf die schnöde Realität zu pfeifen. Kein Wunder, dass sich Terry Gilliam – dessen Animationsstil man hier manchmal wiedererkennt – von der Sichtung dieses Films inspiriert wurde, auch seine Vision von Münchhausen auf die Leinwand zu bringen. Er gab dem Lügenbaron dann aber die Unschuld zurück, die Zeman ihm genommen hatte. Welcher Version des Lügenbarons man vorzieht, dürfte Geschmackssache sein. Dass BARON PRÁSIL aber einer der schönsten Filme überhaupt sein dürfte, daran besteht für ich kein Zweifel.

Eigentlich fängt meine filmische Weltreise erst jetzt so richtig an. Bislang bewegte ich mich noch auf vertrauten Pfaden, doch mit diesem Film beginnt die kontinuierliche Entfremdung von westlichen Erzählstandards und ich darf mich in den nächsten Tagen auf fremdartige Filmwunder aus dem ehemaligen Ostblock, dem Nahen Osten und Vorderasien freuen. Die Grenzüberschreitung in dieses doch weitgehend unbekannte Territorium mit dem noch zu Zeiten der UdSSR entstandenen lettischen Spielfilm ZIRNEKLIS (was schlicht „Spinne“ bedeutet) ging noch relativ sanft vonstatten – lediglich das Fehlen einer verständlichen Ton- oder Untertitelspur gab einen Vorgeschmack auf den noch bevorstehenden Kulturschock.

Auch wenn erzählerische Details somit an mir vorbeigegangen sind, ein paar Lücken erst durch Hypnosemaschine Alex‘ Text geschlossen werden konnten (der mir diesen und zahlreiche der kommenden Filme netterweise zur Verfügung gestellt hat – vielen Dank nochmal ganz offiziell!), fühlte ich mich in ZIRNEKLIS doch noch einigermaßen gut aufgehoben. Er erinnert ein wenig an erwachsene tschechische Märchenfilme wie etwa VALERIE A TYDEN DIVU, wenn er auch dessen formale Brillanz vermissen lässt, roher, ungeschliffener und, ja, auch etwas „billiger“ rüberkommt. Er erzählt die Geschichte der hinreißend schönen Vita (Aurelija Anuzhite), die einem Maler Modell für ein Marienporträt stehen soll. Unter dem Einfluss dessen expressiver, etwas an die Werke von Hieronymus Bosch erinnernder Gemälde gerät Vita in Trance und kann sich nur mühsam den folgenden sexuellen Avancen des Künstlers entziehen. In den folgenden Tagen leidet sie immer wieder an Albträumen und Halluzinationen, in denen sie von einer riesigen Spinne vergewaltigt wird. Aus Sorge um Vita schickt die Mutter ihre Tochter zu Verwandten an die Küste des baltischen Meeres, wo sich die Gute gleich in einen stattlichen Jüngling verliebt. Doch der teuflische Maler will sich seine Errungenschaft nicht so leicht abspenstig machen lassen und folgt ihr …

ZIRNEKLIS besticht wahrscheinlich nicht nur für den des Russischen nicht mächtigen Zuschauer durch seine Bilder: Die in der Gegenwart angesiedelte Geschichte wirkt durch verschiedenste visuelle Mittel einer konkreten Zeit enthoben, traumgleich. Für ersteres ist vor allem der intensive Braunstich verantwortlich, der alles mit der Patina vergangener Jahrhunderte bedeckt, für letzteres sowohl der Einsatz von Weichzeichner als auch Mass‘ Verwendung natürlichen Gegenlichts, das die Bilder oft verschwimmen, ja beinahe transparent werden lässt. ZIRNEKLIS lullt den Zuschauer mit dieser Technik ein, macht ihn empfänglich für seine Sinnestäuschungen und stellt ihn somit auf eine Stufe mit der orientierungslosen Vita. Ganz im Gegensatz zu dieser das Materielle anscheinend scheuenden Bildsprache stehen die kruden, vielleicht aber gerade deshalb beeindruckenden Spezialeffekte. Vor allem die „Sexszenen“ mit der Riesenspinne bleiben im Gedächtnis, weil sie sich stilistisch wunderbar in das Gesamtbild einfügen. Statt auf technische Perfektion, die sich Mass wahrscheinlich nicht leisten konnte, setzt der Regisseur auf Atmosphäre und einen desorientierenden Schnitt. Wunderschöne Stop-Motion-Effekte ergänzen das Effektinventar und zwingen den Zuschauer dazu, eine  kindlich-staunende Perspektive einzunehmen. Vielleicht trifft der Begriff des „magischen Realismus“ am besten, was Mass mit ZIRNEKLIS geleistet hat: Der Film widmet sich einem ganz und gar weltlichen Thema – das Erwachen der Sexualität -, formt dieses aber zu einen verstörenden Märchen über böse Magier, gute Priester, wilde Fantasien und die Verlockung des Bösen um. Dass die lettische Küste, an der Teile des Films entstanden, aussieht wie gemalt, spielt ihm dabei nicht wenig in die Karten. ZIRNEKLIS ist sicher kein Film, den ich mir jeden Tag ansehen müsste, dafür ist er in seinen expositorischen Szenen ein klein wenig zu unbedarft (zumindest wirkt es so, wenn man nichts versteht), aber einer, der einem schmerzhaft klar macht, welches große künstlerische Potenzial einst hinter dem Eisernen Vorhang fernab der westlichen Aufmerksamkeit schlummern musste und bis möglicherweise heute unentdeckt geblieben ist.

Ein paar Impressionen noch, dann geht es weiter nach Weißrussland.



Satsuki und ihre kleine Schwester Mei ziehen mit ihrem Vater in ein altes Haus auf dem Land, um in der Nähe des Krankenhauses zu sein, in dem die kranke Mutter behandelt wird. Bei ihren Erkundungsgängen in die umgebende Natur macht die kleine Mei Bekanntschaft mit Totoro, einem riesengroßen, pelzigen, freundlichen Waldgeist, mit dem sich die Mädchen schließlich anfreunden. Als ein beunruhigendes Telegramm aus dem Krankenhaus eintrifft, läuft Mei von zu Hause weg. Satsuki sucht kurz entschlossen Totoro auf, damit er ihr bei der Suche behilflich ist …

Bei den Eltern musste unsere Tochter Selma ja ein Filmfan werden. Und weil wir daher in den letzten Monaten eine schwere Überdosis Pixar, Disney und Dreamworks erhalten haben, war ich froh, als mir einfiel, dass ja noch ein paar von arte aufgenommene Miyazakis im Schrank lagen. TONARI NO TOTORO, von dem ja eigentlich jeder schwärmt, der ihn gesehen hat, war definitiv die richtige Wahl: Ich weiß nicht, ob Papa den nicht sogar noch eine Spur schöner, lustiger, trauriger, süßer und besser fand als die kleine Selma. Tatsächlich ist dieser Film ein Glücksfall sondergleichen, einer, der keine Fragen offenlässt und dennoch nicht alle Geheimnisse offenbart; einer, der ausschließlich in Bildern erzählt, der keinen konstruierten Plot mehr darüber stülpen muss, um Einheit zu suggerieren; ein Film von großer stilistischer Sicherheit; einer, der in jeder Sekunde die Weisheit seines Machers erkennen lässt. TONARI NO TOTORO ist ein Film über die kindliche Fantasie und über Fantasie überhaupt. Über den Respekt vor der Natur, die Demut vor Schöpfung, darüber, dass der Mensch nicht allein auf der Welt ist, dass es um ihn herum zahlreiche Dinge gibt, die er nicht versteht. Darüber, wie er Sinn in die Welt bringt, indem er ihr aufgeschlossen gegenübertritt, seine Sinne nicht von kalter, starrer Vernunft vernebeln lässt. Und diese Haltung gegenüber den Dingen übernimmt man nur zu gern, weil Miyazakis Film selbst ein ungeahntes Maß an Leben und Lebensfreude ausstrahlt. Man vergisst tatsächlich, dass man einen Film, einen Trickfilm noch dazu, sieht: TONARI NO TOTORO ist wie ein Fenster in eine Realität, aus der alles Kalkül, jede Schablone abgezogen wurde, und die man daher in absoluter Klarheit sieht. Die Bilder, die Musik: Man kann sich diesen Film schlicht nicht anders vorstellen. Alles ist so perfekt, ohne dabei jemals klinisch, leblos oder unspontan zu wirken, wie das bei „perfekten“ Filmen allzu oft der Fall ist. Miyazaki erreicht diese Perfektion, weil sich sein Gestaltungswille immer seinen Protagonisten unterordnet. Es sind Satsuki und Mei, die den Rhythmus des Films bestimmen, die die Regeln machen, denen er folgt, die den Blick des Films konstituieren: den Blick von Kindern, die die Welt erst noch verstehen lernen, denen menschliche Hybris fern ist, weil sie nur den grenzenlosen Himmel, turmhohe Wolken und majestätische Bäume sehen. Ja, TONARI NO TOTORO ist in gewisser Hinsicht ein Film über den Himmel, Wolken und Bäume. Und nie sahen sie schöner aus als hier. Ein Traum.