Ich erinnere mich noch an den Trailer zu EVERYBODY WINS, den ich wahrscheinlich auf irgendeiner VHS-Kassette gesehen hatte: Der Sprecher wiederholte da immer und immer wieder in markigem Tonfall den Titel, wahrscheinlich um mit Nachdruck jenen Sinn von Drama und Spannung zu erzielen, den die Ausschnitte von Karel Reisz‘ Film einfach nicht liefern konnten. Selbst vor dem Hintergrund der ja eh nicht in erster Linie um Schauwerte konstruierten Justiz- und Politthriller ist seine letzte Regiearbeit bemerkenswert spröde: Die viel beschworene Aussage, dass mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben werden, beschreibt EVERYBODY WINS, der auf einem Drehbuch von Arthur Miller basiert, das dieser auf der Grundlage seines Einakters „Some kind of love story“ geschrieben hatte, nahezu perfekt. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass der Reiz von EVERYBODY WINS darin besteht, dass er tatsächlich keine einzige der aufgeworfenen Fragen wirklich befriedigend beantwortet. Der Film ist ein Faszinosum, wenn man sich darauf einlassen kann.
Der Privatdetektiv Tom O’Toole (Nick Nolte) wird von Angela Crispini (Debra Winger) in ein verschlafenes Nest in Connecticut gerufen; Ein stadtbekannter Arzt wurde ermordet, sein Neffe des Mordes für schuldig befunden, verurteilt und inhaftiert. Doch Angela weiß, dass er unschuldig ist und bittet Tom – dem sie jede Menge süßen Honig um den Mund schmiert -, ihm zu helfen. Der geschmeichelte Tom beginnt mit seinen Untersuchungen, bei denen er auf einen tiefe Sumpf der Korruption bis in die höchsten Ämter der Stadt stößt. Ihm wird schnell klar, dass Angela mehr weiß als sie zugibt und dass sie wesentlich dazu beitragen kann, die ganze Stadt zu Fall zu bringen, doch genau das will die Frau überhaupt nicht. Und so lässt sie den zunehmend enervierten Tom am Haken zappeln wie einen hilflosen Fisch.
Das zentrale Mysterium des Films ist nicht so sehr die Frage, wer den Arzt ermordet hat, sondern wer diese Angela Crispini ist. Und die großartige Debra Winger, die ihre Karriere nach einigen herausragenden Leistungen an den Nagel hing, weil sie von den Rollen, die Hollywood ihr anzubieten hatte, frustriert war, interpretiert sie passend dazu als Frau mit pathologisch vielen Gesichtern, die auf eine tiefe seelische Verwundung schließen lassen. Scheint sie zu Beginn noch der archetypischen femme fatale zu entsprechen, die ihre weiblichen Reize dazu einsetzt, einen chancenlosen männlichen Trottel für ihre Zwecke einzuspannen, kommen bald Zweifel daran auf: Angela ist mal aggressiv und kalt, dann wieder verängstigt und verwundbar, sie bricht in Tränen aus, legt rätselhafte Verhaltensweisen an den Tag, berichtet vom Missbrauch durch den Vater und offenbart eine direkte Verbindung zum Verbrechen. Der furztrockene O’Toole – der eh schon immer etwas pennerhaft aussehende Nolte in einer besonders unglamourösen Variation seiner Persona – kann dem Zuschauer nur Leid tun: Er weiß einfach nicht, an wen er da geraten ist, bestaunt die abrupten Stimmungsschwankungen, unvorhersehbaren Ausbrüche und bizarren Charaktersprünge seiner Auftraggeberin und Geliebten mit zunehmendem Unverständnis und Erstaunen. Dieses Unverständnis wird zu O’Tooles Standard-Modus und Nolte, zwar ohnehin nicht unbedingt für ausgesprochen souveräne Charaktere bekannt, aber doch für solche, die sich in ihrer Unsicherheit zu Hause fühlen wie in einem Paar ausgelatschter Pantoffeln, macht diese konstante Verunsicherung greifbar. Konsterniert muss er feststellen, dass er die Welt ums sich herum nicht mehr begreift, dass er mitnichten „normal“ ist, sondern mit seiner rationalen Sicht auf die Ding ein krasser Außenseiter. Es gibt eine tolle Szene, in der er den Sonderling Jerry (Will Patton) – sehr wahrscheinlich der echte Mörder – zu einer Befragung in ein Diner begleitet. Jerrys Freundin, die verschüchterte, etwas einfältige Amy (Kathleen Wilhoite) unterbricht ihn im Satz und aus dem Mann, der vorher so freundlich und ruhig war, bricht es plötzlich ohne jede Vorwarnung heraus: Er schreit sie an, demütigt sie und verpasst ihr einen Schlag, woraufhin sie anfängt zu weinen. O’Toole sieht den Ausbruch mit Entsetzen, er möchte eigentlich eingreifen, um sie zu schützen, doch er kann nicht: Es steht ihm nicht zu, sich in diese Leben einzumischen, aber er ist bis ins Mark verstört von den Abgründen, die sich ihm offenbaren und hat keine Ahnung, womit er es zu tun hat.
Der Zuschauer identifiziert sich in zweifacher Hinsicht mit O’Toole: qua Konvention, weil O’Toole die Figur ist, die wir begleiten, aber auch in der Hinsicht, dass die Erwartungen, die wir an EVERYBODY WINS stellen, fast allesamt enttäuscht werden. Wir kennen Filme wie diesen, zumindest glauben wir das, und haben eine ungefähre Vorstellung wie sie verlaufen: Der Ermittler ermittelt und kommt am Ende zu einem Ergebnis – auch wenn es nicht das ist, das er erwartet hat. Auch O’Toole glaubt zu wissen, wie er an sein Ziel kommt und wie dieses Ziel aussehen könnte. Aber seine Ermittlungen prallen letztlich immer an der Wand namens „Angela“ ab. EVERYBODY WINS endet mit einem Erfolg, der eigentlich eine Niederlage ist – oder auch nicht, denn O’Toole findet sich am Schluss lachend damit ab, dass die Welt absurd ist, dass seine Vorstellungen davon, was richtig ist, offensichtlich nicht mehr mehrheitsfähig sind. Er dreht dem Wahnsinn den Rücken zu. Er kann ihn nicht verhindern, muss sich mit ihm abfinden, aber daran teilhaben will er trotzdem nicht. Karel Weisz verarbeitet diese Camus’sche Erkenntnis des Absurden nicht in einer depressiven, resignierte Abrechnung mit der Welt, sondern in einer wenn schon nicht heiteren, so doch leichtfüßigen Farce, die ihren Rhythmus dem munteren Swing von O’Tooles im Kassettendeck laufendem Tape verdankt. Auch der Titel entspricht dieser Haltung: Am Ende von EVERYBODY WINS gibt es tatsächlich nur lachende Gesichter, alle haben „gewonnen“. Nur die Gerectigkeit nich, aber die kann sich ja eh nicht beschweren.