Mit ‘Terza Visione’ getaggte Beiträge

der_new_york_ripperWie das Terza Visione selbst hat auch meine Berichterstattung darüber irgendwann ein Ende. Das Festival schloss mit diesem Film und einem unvergesslichen Knalleffekt, der mir zum Glück auch die Gelegenheit bietet, etwas geradezurücken. Was ich anlässlich meiner letzten Sichtung vor drei Jahren über den Film geschrieben habe, kann ich nach dieser Wiederbegnung überhaupt nicht mehr nachvollziehen. Ich war geradeu geschockt über das, was ich da lesen musste. Meine Aussagen über den angeblich nicht mehr so potenten Schockfaktor der Effekte, mangelnde Spannung oder andere Kritikpunkte, die ich damals anführte, lassen sich meiner Meinung nach nur mit der anderen Sichtungssituation – zu Hause auf der Couch via DVD und englischer Synchro – und akuter geistiger Umnachtung entschuldigen. Im Kino, schön aus der ersten Reihe und herrlich voyeuristischer Perspektive von schräg unten, hat LO SQUARTATORE DI NEW YORK fast wieder so heftig geknallt wie damals, als ich ihn als unreifer, ob der gebotenen Schweinereien reichlich schockierter Lausebengel sah. Eine der Stärke des Films sind eben diese Effekte, vor allem aber, wie Fulci sie einfängt. Dass der SQUARTATORE einer jener Filme ist, die einem suggerieren, mehr gesehen zu haben, als tatsächlich gezeigt wurde, mag angesichts durchgeschnittener Augäpfel und halbierter Nippel etwas absurd anmuten, aber es stimmt insofern, als Fulci fast ausschließlich mit Close-ups arbeitet, die das „große Ganze“ gnädig verbergen. Dann natürlich die berüchtigte Donald-Duck-Stimme und diese ultrafrontale Montage: LO SQUARTATORE DI NEW YORK nimmt keine Gefangenen, hinterlässt vielmehr auf und vor der Leinwand geschundene Leiber. Und er endet mit einer der geilsten unbefriedigen Auflösungen aller Zeiten. Mir kann keiner erzählen, dass nicht der Psychiater der Mörder war und nach Abschluss der Credits munter weiterkillt.

Eigentlich wollte ich hier aber über etwas anderes schreiben, nämlich darüber, was für großartige Menschen Christoph und Andi, die Initiatoren des Terza Visione, sind. Beziehungsweise darüber, dass ich die beiden für Genies halte, die in einer gerechten Welt von Festivalmachern, Filmmuseen, Archiven, Feuilletons oder sonst wem hofiert und mit Geld beworfen würden. Die deutsche 35-mm-Kopie von LO SQUARTATORE DI NEW YORK galt bis vor kurzem nämlich als verschollen. Alle waren hinter ihr her und wollten sie zeigen, keiner wusste jedoch, wo sie war. Es ist Andreas zu verdanken, dass sie nun wieder verfügbar ist, weil er sie in einem Geistesblitz hinter dem Titel „New York Runner“ (ein Film, den es nicht gibt bzw. den keine Datenbank zuordnen konnte) auf der Liste eines Privatsammlers erkannte. Da war einfach eine unleserlich gewordene Beschriftung übertragen worden und DER NEW YORK RIPPER firmierte plötzlich unter einem Namen, unter dem er nur durch eben einen solchen Geniestreich wiederentdeckt werden konnte. Wenn man hört, welche Unwägbarkeiten die wenigen Leute zu meistern haben, die sich überhaupt noch die Mühe machen, an unzugänglichen Orten unter viel Schlamm verborgene Trüffeln zu suchen, nötigt einem eine solche Eingebung gleich noch einmal so viel Respekt ab. Mal ganz davon abgesehen, dass Andi diese unglaubliche Geschichte, für die ich mir wochenlang auf die Schulter klopfen würde, mit größter Bescheidenheit erzählte. Er hat halt seinen Job gemacht (für den er allerdings keinen Pfennig Geld sieht). Ich bin froh, solche Menschen zu kennen, zu meinem Freundeskreis zählen und mich von ihnen und den von ihnen ausgewählten Schätzen verwöhnen lassen zu dürfen und hoffe inständig, dass all die Freude, die sie da regelmäßig spenden, irgendwann einmal – wenn’s geht nicht erst im afterlife – zurückgezahlt wird.

Ich liebe euch, Jungs! Bis zum nächsten Mal. 🙂

 

71z8nluvkvl-_sl1223_Vor kurzem hatte ich hier schon einmal darüber geschrieben, dass traditionelle Geister- oder auch Gothic-Horrorfilme mich meist nicht wirklich erreichen. Selbst ein landauf, landab geliebter und verehrter Klassiker wie Mario Bavas LA MASCHERA DEL DEMONIO lässt mich eher kalt – auch wenn ich natürlich nie etwas Schlechtes über ihn sagen würde und dessen formale Meisterschaft natürlich erkenne. Aber bei mir funktioniert er einfach nicht. DANZA MACABRA hingegen hat mich total umgehauen. Ich finde ihn nicht nur um Längen besser als alles, was Bava in diesem Bereich jemals gemacht hat, sondern würde mich jetzt, einige Tage nach der Sichtung, sogar zu der euphorisierten Aussage hinreißen lassen, dass Margheriti mit diesem Werk – dem zweiten in einer Reihe von drei Gothics, die er von 1963 bis 1964 drehte – ein Meisterstück des Horrorfilms überhaupt gelungen ist. Ganz bestimmt hängt meine Begeisterung auch damit zusammen, dass ich DANZA MACABRA in einer traumhaften Kopie auf großer Leinwand sehen durfte, ein Glück, das ich mit dem erwähnten LA MASCHERA DEL DEMONIO nicht hatte. Aber es gibt noch andere Gründe, die nicht nur mit dieser privilegierten Rezeptionssituation zu tun haben und mich in meinem Urteil bestärken.

Zunächst mal: Das Drehbuch von DANZA MACABRA ist wirklich sensationell gut. Nicht in dem Sinne, wie man das schon einmal so schreibt, wenn man meint, dass ein Film über eine interessante Geschichte und ausgefeilte Charaktere verfügt, was aber ja de facto gar nicht so einfach dem Script allein zuzuschreiben ist, schon gar nicht von einem Außenstehenden. Nein, mir geht es vor allem um die Struktur der Erzählung. DANZA MACABRA besteht insgesamt aus ca. sechs bis acht langen Sequenzen, die sehr deutlich voneinander getrennt sowie streng chronologisch sortiert sind und dem Film eine absolute Klarheit verleihen, die die Unabwendbarkeit des Schicksals, das sich hier vollzieht und das die Quelle des Grauens ist, das den Betrachter umfängt, noch beträchtlich verstärkt. Schritt für Schritt läuft der Zuschauer zusammen mit dem im Gegensatz zu ihm allerdings völlig ahnungslosen Protagonisten auf das Unfassbare zu, wissend, dass ihn jeder dieser deutlich voneinander abgegrenzten Schritte dem Ende näher bringt.

Jede dieser einzelnen Sequenzen gäbe für sich schon einen nahezu perfekten Kurzfilm ab: Der umwerfende Anfang, in dem die Hauptfigur, der Journalist Alan Foster (Georges Riviére), einen Pub betritt, wo ein Fremder (Silvano Tranquilli), der sich wenig später als Edgar Allan Poe entpuppen wird, eine gruselige Geschichte erzählt und die Inszenierung schon zu diesem frühen Zeitpunkt suggeriert, es gehe um alles. Oder auch die Szene, in der Foster das leerstehende Haus samt umgebenden Garten erkundet, in dem er eine Nacht verbringen und überleben muss: Sie ist reine „Stimmungsmache“, aber so umwerfend fotografiert und geduldig inszeniert, dass man fast traurig ist, als Barbara Steele auftaucht und den Stein der Handlung ins Rollen bringt. Aber natürlich geht es dann erst richtig los, und wem in dem Moment, in dem die unglücksselige Elisabeth Blackwood (Barbara Steele) angesichts dreier Morde in kurzer Folge dem Wahnsinn verfällt, nicht die Gänsehaut eiskalt in den Nacken kriecht, der ist wahrscheinlich selbst schon eine Leiche. Es geht in DANZA MACABRA zunächst um die heimtückische Bekehrung eines Skeptikers, dann aber um Eifersucht, Lesbianismus, ewige Liebe, unsterbliche Schuld und Sühne, nebenbei auch um Vampirismus und das alles vollzieht sich mit der Wucht einer griechischen Tragödie. Margheritis Film (laut Imdb war auch Sergio Corbucci beteiligt, aber das habe ich eben zum ersten Mal gelesen) ist von 1964, aber er weist weit in die Zukunft, sowohl mit seiner offenen Thematisierung von homosexueller Liebe als auch mit seinen zum Teil bemerkenswerten Effekten. So gibt es eine halbverfallene, unheimlich röchelnde Leiche mit Totenkopfgesicht zu sehen, deren Anblick mir fast die Schuhe ausgezogen hat. Und das Ende ist von einer abgezockten Bösartigkeit, die heutige Schocker nicht annähernd so elegant hingebogen bekommen.

Da fragt man sich doch, warum ausgerechnet DANZA MACABRA unter Dutzenden von deutlich schwächeren Horrorfilmen vergleichbarer Prägung, die seinerzeit den Weg in deutsche Kinos fanden, eine Auswertung verwehrt blieb. Dem potenziellen Zuschauer wurde hier nicht weniger als eine Sternstunde des Genres vorenthalten. Ach Pustekuchen, einer der schönsten Filme ever.

 

traviata_53-484934336-largeMit Cottafavis TRAVIATA ’53 gab es im Rahmen des Terza Visione zum ersten Mal ein Melodram zu sehen. Das Schlucken mancher Besucher, die unter dem Begriff „Genrekino“ vor allem Western, Horror-, Action-, Science-Fiction- oder Abenteuerfilme verstehen, vielleicht noch erweitert um Komödien, belegte die auch von Christoph Huber vom Filmmuseum Wien in seiner Einführung vertretene These, dass das Melodram heute als eines der vergessenen oder gar geringgeschätzten, jedenfalls nicht mehr Ernst genommenen Genres gelten darf. Wenn sich Gefühlsausbrüche in wüsten Schießereien oder Fausthieben äußern, ist das eine Abstraktionsstufe, die vielen offensichtlich einfach besser reinläuft, als wenn zu anschwillender Geigenmusik ungehemmt die Tränen kullern. Wie TRAVIATA ’53 insgesamt in der Gunst des Publikums abgeschnitten hat, kann ich nicht sagen, aber immerhin war es während der gesamten Vorstellung angemessen still im Saal, es wurde also keineswegs „durchgelacht“ wie das Christophs Ausführungen zufolge selbst in den Tempeln der vermeintlichen Hochkultur heute bei Melodramen üblich ist. Und die Hofbauer-Kongress-Erprobten waren sich am Ende sowieso einig, mit TRAVIATA ’53 einen Höhepunkt des Festivals gesehen zu haben. Kein Wunder, galt Cottafavi in den Fünfzigern vielen europäischen Cinephilen doch nicht nur als italienischer Meisterregisseur, sondern gar als einer der größten überhaupt, bevor er dann in Vergessenheit geriet.

TRAVIATA ’53 ist, wie der Name unschwer erkennen lässt, eine Adaption von Alexandre Dumas‘ d. J. Roman „Die Kameliendame“, dessen Geschichte ins Jahr 1953 verlegt und mit einigen kleinen, aber durchaus gewichtigen Veränderungen erzählt wird: Stammt der männliche Liebhaber der Prostituierten Marguerite bei Dumas aus vornehmen, wohlhabenden Kreisen und ist es sein Vater, der in die für unschicklich gehaltene Beziehung seines Sohnes zu der Lebedame eingreift, ist es in Cottafavis Version der etwas biedere, mittelständische Ingenieur Carlo (Armando Francioli), der von den Freunden der in den höchsten Zirkeln der Mailänder Gesellschaft verkehrenden Rita (Barbara Laage) als ihrer Liebe nicht würdig angesehen wird. Zwar sind die Folgen dieselben – Rita verlässt Carlo ohne Angabe von Gründen (und keinesfalls aus freien Stücken, wie er fälschlicherweise glaubt), er kann Jahre später nur noch ihren Tod betrauern – doch der Stoff bekommt eine völlig andere Gewichtung.

Cottafavis Film beginnt damit, dass Carlo während der Feierlichkeiten um die Taufe seines ersten Kindes ein Telegramm erhält, das ihn über den Verbleib Ritas aufklärt, die er seit drei Jahren nicht mehr gesehen hat, und ihm mitteilt, dass sie im Sterben liegt. Sofort bricht er auf, lässt sich vor seiner Gattin und den anderen Gästen verleugnen, und rast in Richtung der Alpen, wo sich das Sanatorium befindet, in dem Rita den Tod erwartet. Die nun folgende Rückblende, die zeigt, wie Carlo und Rita sich kennenlernten, unter welch schwierigen Bedingungen sie schließlich zum Paar wurden und wie es zu ihrer Trennung kam, dauert fast den gesamten Film. An seinem Ziel angekommen, erfährt Carlo nur noch vom Tod Ritas, was die Beweggründe für ihre Trennung waren und was in den Jahren danach mit ihr geschah. Auch von ihrem Leichnam kann sich Carlo nicht mehr verabschieden, nur noch dabei zusehen, wie ihr Sarg versiegelt und abtransportiert wird. Dann endet der Film.

TRAVIATA ’53 handelt sehr konsequent von einem Mann, der immer zu spät kommt bzw. nie „in der Gegenwart ist“, da, wo das Leben passiert. Schon der „Anlass“ des Films macht das ja sehr deutlich: Carlo verlässt die Taufe seines Kindes und seine Familie, um einer Frau nachzureisen, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hat, und verbringt einen Großteil der folgenden 90 Minuten im Past Tense seiner Erinnerungen. Aber auch in der Rückblende inszeniert Cottafavi diesen Carlo als Zuschauer in seinem eigenen Leben, lässt ihn still, teilnahmslos und unsicher am Rand stehen. Gegenüber der Angebeteten verwandelt er sich in einen devoten Schuljungen, der wie ein trauriger Hund dreinblickt, wenn er wiederholt von ihr versetzt wird. Einmal besucht er mit ihr ein Casino, steht vom Roulettetisch auf und geht weg. Die Kamera fängt ihn zunächst dabei ein, wie er den Tisch verlässt und links aus dem Bild läuft, folgt ihm dann aber nicht, sondern verharrt in einer statischen Einstellung ohne echtes Zentrum, bis er nach einigen Sekunden wieder auftaucht. Es ist, als habe sie das Interesse an ihm verloren, weil er ihr zu unscheinbar ist. Er wirkt zum Teil wie ein Geist, völlig unfähig, Fakten zu schaffen, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. Auch wenn er sich spontan dazu entscheidet, der eben kennengelernten Rita ins Nachtleben zu folgen, wirkt er dabei wie jemand, der einem Ruf folgt, nicht wie einer, der die Initiative ergreift. Und was ist eigentlich mit seiner Verlobten? Er erwähnt sie genau einmal, danach nie wieder, der Zuschauer bekommt sie nie zu Gesicht. Hat er sie einfach sitzenlassen? Oder führt er an der Seite Ritas ein Doppelleben? Vielleicht hat er sie wirklich einfach vergessen, es würde zu ihm passen.

Rita scheint zunächst anders und wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, dass sich Carlo zu ihr hingezogen fühlt: Sie kommandiert das Interesse, bildet immer sofort ein Zentrum, sogar dann, wenn sie nicht da ist. Auf der Party, wo Carlo sie eigentlich treffen wollte, ist sie dann doch nicht und natürlich ist die Veranstaltung demzufolge: langweilig. Als er sie nach Hause bringt und sie ihn hineinbittet, wirkt er wie der Schüler, der sich plötzlich im Haus der erotischen Lehrerin wiederfindet. Wenn ich mich recht erinnere, spricht sie ihn sogar mit „mein Kleiner“, „Liebling“, „Junge“ oder einer ähnlich verniedlichenden Formel an. Und sie setzt sich vor ihm auf den Boden und überragt ihn dennoch. Sie wirkt ihm gegenüber deutlich älter und reifer, was nicht zuletzt an seiner klassenbedingten Scham ihr gegenüber liegt. Doch wie sich herausstellt, ist Rita auch nur ein Produkt sowohl der reichen Männer, die sich mit ihr schmücken und sie ausstatten, als auch der Gesellschaftsdame Signora Zoe (Gabrielle Dorziat), die das aus einfachen Verhältnissen stammende Straßenmädchen einst unter ihre Fittiche nahm und nun sehr ungehalten darauf reagiert, dass Rita all den Wohlstand aufgeben will, um sich mit einem kleinen Angestellten zu vermählen. All die Souveränität, die sie ausstrahlte, ist plötzlich weg, verschwunden mit den Kostbarkeiten, die ihr dargeboten wurden, der Aufmerksamkeit, die ihr auf Parties und Empfängen zuflog. Sie ist mit einem Mal ein Niemand, entkernt.

Cottafavis Film kennt kein Aufbrausen und Wallen der Gefühle. Selbst die dramatischen Momente wirken ungemein gehemmt, die Liebe von Carlo und Rita überträgt sich nicht, sie entzündet nichts im Betrachter. Es gibt eine kurze Montagesequenz, die die beiden glücklich zusammen zeigt, ergänzt durch einen Voice-over Carlos, der davon spricht, wie glücklich die beiden waren, aber so richtig überzeugend klingt das nicht. Man weiß ganz unabhängig vom Wissen über den Ausgang der Vorlage, dass diese beiden eigentlich nicht zusammenpassen. TRAVIATA ’53 ist insofern auch ein sehr moderner Film, weil er deutlich macht, dass das Gefühl nicht immer ausreicht, um eine Beziehung zu führen, eine Partnerschaft zu bilden. Es gehört mehr dazu, eine Gemeinsamkeit in den Überzeugungen, der Lebensanschauung, der Handlung, ein verbindender Rapport, auch Kraft. Deswegen scheint es mir auch so bezeichnend, dass Carlo erst drei Jahre später begreift, warum sie ihn einst verlassen hatte, und dass der Grund ihrer Abreise unmittelbar mit einem wie aus dem Nichts gewährten Kredit für seinen Vater zusammenhing. Carlo ist ein fürchterlicher Träumer, ein ziemlicher Weichling und in handfesten Dingen sehr ungeschickt. Dass er Ingenieur sein soll, ist auch so ein Witz, den sich das Drehbuch mit ihm erlaubt. Trotzdem fühlt man am Ende mit ihm: Das Finale ist ein Runterzieher erster Güte und Cottafavi scheint es fast zu genießen, den Schmerz seines Protagonisten in langen Einstellungen ins Unermessliche zu steigern. Es ist so als wollte er ihm eine Lektion erteilen. Ich hoffe, Carlo hat sie gelernt und ist nach dieser Reise in die Vergangenheit schleunigst zurück in die Gegenwart und zur Taufe seiner Tochter zurückgefahren.

121048Wenn fremde Elemente und Einflüsse, Humor und Dekonstruktion Einzug in den Genrefilm halten, ist das meist ein untrügliches Zeichen dafür, dass dieses in seine letzte, die sogenannte Dekadenzphase eingetreten ist. Umso erstaunlicher ist Enzo Peris Italowestern 3 PISTOLE CONTRO CESARE, der unter anderem einen Karateka und einen Hypnotiseur gegen einen Schurken antreten lässt, der sich selbst „Julius Caesar“ nennt, sich in edle Tuniken hüllt und am liebsten in der Gesellschaft schöner Mädchen in seinem luxuriösen Bad tummelt. Enzo Peris Film wurde nämlich keineswegs in den mittleren bis späten Siebzigerjahren gedreht, als der Italowestern seine letzten Atemzüge machte, auch nicht in den späten Sechzigern, als die erprobte Formel immer häufiger durch Ausflüge in den Bereich der Komödie aufgelockert bzw. erweitert wurde, sondern 1966, dem Jahr von Bruno Corbuccis DJANGO, dem großen stilprägenden Gamechanger und Superhit des noch jungen Genres, der für das, was danach kam, wahrscheinlich noch deutlich wichtiger war als Leones Dollar-Trilogie.

Inhaltlich weicht 3 PISTOLE CONTRO CESARE von DJANGO nicht allzu weit ab: Statt eines geheimnisvollen drifters, der in eine fremde Stadt einreitet und dort für Ordnung sorgt, sind es hier die drei Halbbrüder Whitaker Selby (Thomas Hunter), Lester Kato (James Shigeta) und Etienne Devereaux (Nadir Moretti), die in der Fremde ein Grundstückserbe antreten wollen, es dabei aber mit dem schurkischen Julius Caesar Fuller (Enrico Maria Salerno) zu tun bekommen, der nicht nur einst den Vater der drei umgebracht, sondern sich danach auch dessen Grundbesitz unter den Nagel gerissen hatte. Es kommt zur Auseinandersetzung zwischen den Helden und den Schergen des Bösewichts, bei der auch die hübsche Halbschwester Mady (Delia Boccardo) mitmischt.

So weit, so generisch. Was aber an Peris Film sofort auffällt, das sind die comicartigen Einsprengsel und Details: Whitaker trägt zwei Superrevolver bei sich, die auf Knopfdruck nicht nur zusätzliche Läufe ausfahren, sondern auch aus den Griffen feuern. Etienne kann seine Gegner mit einem hypnotischen Fingerzeig lähmen, Lester harte Handkantenschläge verteilen. Der echte Hingucker des Films ist aber Salerno als Caesar-Verehrer, der in seinem an den Rand einer Klippe gebauten Haus lebt wie ein Kaiser, sich entsprechend gewandet und über Leben und Tod seiner Feinde von oben herab per Daumensignal entscheidet. Man kann dieses Detail durchaus als Abschiedsgruß in Richtung des ehrwürdigen Sandalenfilms, des Peplums, verstehen, der vom Italowestern in der Gunst des Publikums abgelöst wurde: Ein „Duell“, das im Showdown von 3 PISTOLE CONTRO CESARE quasi nachgestellt wird und natürlich zugunsten der Westerner ausgeht.

Der nur wenig bekannte Film bedeutete am letzten Tag des Terza Visione einen mehr als gelungenden, weil enorm schwung- und humorvollen Einstand. Daran änderten auch die rund zehn Minuten nichts, die die vorgeführte deutsche Version gegenüber der Originalfassung einbüßen musste. Wahrscheinlich im Wunsche, dem Zuschauer mehr Western fürs Geld zu bieten, wurden gerade jene Szenen entfernt, in denen Salerno noch ein bisschen mehr auf die Tube drücken durfte. Man merkt nichts von den Kürzungen, das Narrativ bleibt von ihnen völlig unangetastet, das gewonnene Tempo ist gewiss nicht zu verachten, auch wenn man gewiss bedauern darf, nicht noch mehr von Salerno zu Gesicht zu bekommen. Und natürlich von Femi Benussi, die eine von Caesars Poolschönheiten spielt, in der deutschen Schnittfassung aber über eine winzige Statistenrolle nicht hinauskommt, bei der man sich fragt, warum sie überhaupt mit einem Rollennamen bedacht wurde. Im Original darf sie noch ein Liedchen zu Besten geben, das ich wirklich gern gehört hätte, denn wie sagt der Volksmund so weise: „Ein Lied von der Benussi, ist immer ein Genussi.“ 3 PISTOLE CONTRO CESARE bekommt von mir aber so oder so: ein Bussi.

800px-acidDie ersten Minuten: New York, Manhattan, Greenwich Village. Hippies mit schmutzigen Füßen und trübem Blick, die Wanderklampfe immer im Anschlag, ein Lied über den Frieden auf den trockenen Lippen, wahrscheinlich druff. So ist sie halt, die „psychodelische Generation“, wie der Voice-over in vollem Bewusstsein der großen Bedeutung seiner aufklärerischen Mission mitzuteilen weiß. Interessiert ist der Blick der Kamera, aber ohne Zweifel auch ziemlich abfällig und voller Vorurteile. Zwei Ärzte dürfen über den typischen LSD-Konsumenten erzählen und ihre wohlklingenden Kategorisierungen abgeben. Die Hippies selbst, die sich für nur fünf Dollar ein Stück vom Paradies zu erwerben hoffen oder auf eine „Reise“ gehen wollen, die am besten nicht mehr endet, werden nicht gefragt. Und kommen im folgenden Film, der doch eigentlich von ihnen und ihrer Droge handeln soll, bestenfalls als schmückendes Beiwerk vor.

ACID – DELIRIO DEI SENSI beinhaltet alles, was den Reportfilm auszeichnet: Er hat den stets die Ernsthaftigkeit der Situation vermittelnden Kommentator, der um den inflationären Gebrauch von Reizwörtern oder eine plakative Redewendung nie verlegen ist (auf Italienisch macht der Film dann auch nicht einmal halb so viel Spaß wie in der allerdings seltenen deutschen Synchronfassung). Er hat eine „Fremdenführerin“, die den Zuschauer und die Kamera durch den Film und Greenwich Village begleitet, in diesem Fall eine Redakteurin der renommierten „Village Voice“ (ob die Zeitung von ihrer wichtigen Rolle in diesem Werk wusste?). Er hat Szenen, die die Authentizität des Eingefangenen belegen sollen, etwa wenn der „Regisseur“ (von dem man nur Beine und Hände sieht) einen wichtigen Hinweis per Telefon erhält, was der offensichtlich stets einsatzbereite Kameramann glücklicherweise festgehalten hat. Er hat „Fachleute“, die in kurzen Interviewfetzen unhinterfragte Aussagen treffen, die wie Naturgesetze behandelt werden. Und er hat natürlich durch einen losen roten Faden verbundene Episödchen um einige Charaktere, die die Filmemacher bei ihrem Aufenthalt in New York kennen gerlernt haben und fortan filmen durften.

Da ist zum Beispiel Modell und Studentin Shelly, deren Freunde es lustig finden, ihr eine Geburtstagstorte zu überreichen, deren Zuckerguss LSD enthält, ohne ihr das mitzuteilen. Shelly isst gleich drei Stücke (weil sie an diesem Abend Hunger hatte, wie der Kommentator sie entschuldigt) und geht daraufhin in einem öffentlichen Brunnen baden. Teufelszeug! Dann gibt es da noch die stets übermüdet ins Nichts starrende Patricia, die hoffnungslos in den schwarzen Tänzer Nicky verknallt ist, der sich aber von ihr in Besitz genommen fühlt und sich lieber von der komplett durchgeknallten Ursula verarschen lässt. Ebenfalls von Bedeutung ist der Anwalt James, der mit dem Syndikat zusammenarbeitet und den Auftrag erhält, den Jugendmarkt für den Drogenverkauf zu erschließen, was ihn in einen Gewissenskonflikt wirft. Und den melancholischen, attraktiven Konzernboss, der alles hat, aber doch lieber bei miefigen Happenings rumhängen will, muss ich hier ebenso erwähnen wie die Ausflüge in die „duften Beatschuppen“, in denen unterschiedlich talentierte Combos auftreten, amateurhafte Kunst und doofe Slogans die Wände verschönern und das Publikum entweder bräsig und weichgequarzt in den Seilen hängt oder aber einen entfesselten Veitstanz aufführt.

Die berauschten Sensationen, die der Film aufbietet, kann man kaum nacherzählen, auch wiel sie völlig im luftleeren Raum stehen: Bei einer vornehmen Party spielen die geladenen Frauen unter Drogeneinfluss eine Art verkehrtes Limbo, bei dem es darum geht, mit gespreizten Beinen über eine kontinuierlich höher positionierten Kerze zu laufen, ohne dass diese verlöscht, während die Männer sie mit rhythmischem Klatschen förmlich zur Raserei treiben. Die Szene dauert endlos und alle steigern sich in einen Wahn hinein, der angesichts der Idiotie des Spiels vollkommen fremd bleibt. Charaktere sagen Sachen wie die, dass sie Lust hätten, jemanden umzubringen, worauf sie die Antwort erhalten, dass sich sowas spontan ergeben müsse. An San Francisco gefällt, dass es das „psychodelische Herz der USA“ ist und „jede Nacht ein Happening“ stattfindet. Ein Psychiater praktiziert im Judoanzug und in einem vollkommen runden, weißen Raum. Der Firmenboss gibt ein Interview, bei dem er sich wie ein Vollarsch benimmt und sackdumme Antworten gibt, die ihn als besonders schlagfertig ausweisen sollen. Zwischen dem Mafiamann und der Village-Voice-Tante bahnt sich eine Romanze an, die mit maßgeschneiderten Herrenschuhen aus Beton und ihm auf dem Grund des Hudson River endet. Patricia springt aus Liebeskummer von einer Brücke und Shelly sieht nur noch grau und schmeißt ihre Studienbücher weg. Der Film endet kaum verwunderlich in einem Krankenwagen, der – eine Breitseite Konsumkritik muss noch sein – an bunten Werbetafeln vorbeifährt. Eat this, sheeple!

Zwei Dinge stechen ins Auge: All die Geschichten, die da erzählt werden, haben nur sehr am Rande etwas mit LSD zu tun – alle Charaktere kommen eher zufällig dazu und so richtig begeistert scheint keiner davon zu sein -, mit den am Anfang vorgeführten Hippies und ihren Ideen einer psychedelischen Gesellschaft bzw. den halluzinogenen Wirkungen der Droge rein gar nichts. Die Geschichten sind eigentlich sogar völlig untypisch für das doch angeblich im Zentrum stehende Milieu und werfen die Frage auf, ob hier nicht einfach Material unter fremdem Titel zusammengeschraubt wurde, das anderswo übrig geblieben war. Dafür funktioniert die Melange dann aber wieder erstaunlich gut. Aber das ist ja auch gerade das, was für den Film so einnimmt: Er folgt einer Ende der Sechzigerjahre bereits seit Jahrzehnten etablierten Schablone (das Marihuana-Pendant REEFER MADNESS stammt etwa von 1938), ohne in der Lage zu sein, diese wirklich anzuwenden. Was da passiert, ist komplett wahnsinnig, und wirkt nicht gerade so, als seien die Filmemacher die geeigneten Leute gewesen, ihr Publikum vor den Gefahren des Missbrauchs von Halluzinogenen zu warnen. Denen hat man selber eine ordentliche Portion Acid in den Fernet geschüttet. Prost!

gpux6atvSex über den Wolken. Mit ihrem Lover Luca (Gerardo Rossi), einem wilden, ungezügelten Hippie, unterhält die schöne Cristiana (Toti Achilli) die Gäste eines Linienfluges. Die einen schauen gebannt und erregt zu, feuern das Pärchen an und zählen die Sekunden bis zum Orgasmus, eine Nonne betet ob solcher Sünden den Rosenkranz hoch und runter, ältere Damen wissen nicht, ob sie sich abwenden oder weiter hinucken sollen, die Stewardess informiert den Piloten, der mit seiner Besatzung heiß diskutiert, welches Recht denn nun gerade gelten möge. Ein Gewitter stürzt das Flugzeug unmittelbar nach dem vollzogenen Akt in heftige Turbulenzen und als der sichere Tod wie durch ein Wunder ausbleibt, da ist Cristiana ein neuer Mensch, der der Sünde entsagen und stattdessen ins Kloster gehen will. Aber dieses Vorhaben erweist sich für eine junge, lebenslustige Frau nur schwer umsetzbar, vor allem, wenn einem die lesbische Schwester Eleonora (Magda Konopka) jeden Wunsch von den feuchten Lippen abliest. Aber das ist nur der Anfang einer langen, rauschhaften bis leidvollen Geschichte  …

CRISTIANA MONACA INDEMONIATA war bei dieser Ausgabe des Terza Visione wahrscheinlich das größte Geschenk, das den Zuschauern gemacht wurde: Es sind nicht zuletzt solche unter großen, völlig ehrenamtlich geleisteten Anstrengungen geborgenen Schätze, die das Festival (und die von den gleichen Kuratoren, Christoph Draxtra und Andreas Beilharz, betreuten Hofbauer-Kongresse) zu solch wertvollen Veranstaltungen machen. Bergonzellis Film ist in Deutschland nie ausgewertet worden, eine DVD existiert bislang weltweit nicht und der im Netz kursierende Rip einer Videofassung – de facto die bis vor kurzem noch überhaupt einzige Möglichkeit, CRISTIANA MONACA INDEMONIATA zu Gesicht zu bekommen – ist höchst unbefriedigend, im falschen Bildformat, schrabbelig, farbarm, unansehnlich, dank fehlender Untertitel zudem unverständlich für alle, die des Italienischen nicht mächtig sind. Den wahren Enthusiasten, der das verborgene Potenzial noch hinter der heruntergekommensten Fassade erkennt, hält das natürlich nicht ab, es stachelt ihn erst an: Und so wurde schließlich mithilfe eines Sammlers eine nicht mehr für existent gehaltene italienische Kopie des Films aufgetrieben, in angeblich hervorragendem Zustand, und nach Erhalt mit zittrigen Fingern begutachtet. In Anbetracht der sich darbietenden beklagenswerten Form des begehrten Objekts – verrostete Filmdosen, unerträglicher Essiggestank, Beleg für den im fortgeschrittenen Stadium befindlichen, irreversiblen Verfallsprozess des Materials, Hunderte von schlecht geflickten Filmrissen und Verschmutzungen – hätten viele den Traum einer Aufführung wieder aufgegeben. Nicht so Christoph, der in langen Nächten rettete, was zu retten war und nebenher auch noch deutsche Untertitel erstellte, die dem sprachlichen Tohuwabohu, das Bergonzelli auf der Originaltonspur entwirft, noch halbwegs Rechung tragen sollten. Und so kam es zu dieser Premiere eines über 40 Jahre alten Films, an den sich selbst in seiner Heimat niemand mehr erinnern konnte und der eigentlich unrettbar verloren schien. CRISTIANA MONACA INDEMONIATA wurde dem Vergessen entrissen und erlebte eine Auferstehung, die in näherer Zukunft vielleicht sogar noch greifbare Früchte tragen wird.Es soll ja auch der ein oder andere Labelmacher zugegen gewesen sein …

Das Label „Nunsploitation“, das auch ich dem Film aufgedrückt habe, um ihn für den Leser besser einordnen zu können, wird dem frei flottierenden Fabulierwahn Bergonzellis nur sehr bedingt gerecht: Natürlich enthält der Film einige Elemente, die er mit anderen Titeln des Subgenres teilt, aber CRISTIANA MONACA INDEMONIATA ist insgesamt zu groß für schnöde Schubladen. Kern des Films ist eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, in der es ganz wesentlich um die Entdeckung der eigenen Sexualität geht und die natürlich vor dem Hintergrund eines erzkatholischen Landes eine stark klerus- und gesellschaftskritische Note bekommt. Aber Bergonzelli hat keinen spröden Thesenfilm gedreht, vielmehr einen psychedelischen Genremix, der sich um Konventionen nur insofern schert, als er sie wunderbar dekonstruieren kann. CRISTIANA MONACA INDEMONIATA ist Sex- und Drogenfilm, Komödie, Drama und Musical, er ist witzig, traurig, anrührend, niederschmetternd, albern, bizarr und teilweise völlig bescheuert. Er ist gleichermaßen wahrhaftig wie er exploitativ ist, er schlägt einen breiten Bogen und bleibt doch immer kompakt. Er ist orgiastisch und wild, verliert sein Ziel aber nie aus den Augen. Es ist ein Film seiner Zeit, geprägt von den großen Hoffnungen der Hippieära, von Weltfrieden und freier Liebe, aber auch schon vom Kater danach befallen. Es ist eine beschissene, verlogene, oberflächliche Welt, die Bergonzelli zeigt, und wahrscheinlich zerstört sie einen, aber gerade deshalb ist es umso wichtiger, seinen Weg zu gehen, solange er noch nicht einplaniert ist und einem der eigene Körper noch gehorcht. Der liebe Gott kommt dann noch früh genug, um seine Ansprüche zu stellen.

 

la-locandina-di-fango-bollente-141370FANGO BOLLENTE ist nicht etwa der Name eines argentinischen Liedermachers, sondern der Titel eines eisigen Soziopathen-Dramas und lässt sich etwa mit „Kochender Schlamm“ oder „Heißer Schmutz“ adäquat ins Deutsche übersetzen. Ob der Italiener mit dem schön klingenden Wortpaar vielleicht auch das stinkende Resultat aggressiver Durchfallerkrankungen bezeichnet, die durch übermäßigen Genuss pikanter Fleischgerichte ausgelöst werden, konnte ich in der Kürze der Zeit leider nicht mehr eruieren, aber denkbar wäre es durchaus. Womit man auch in etwa eine Vorstellung davon hat, in welche archaischen Untiefen der menschlichen Niedertracht sich Vittorio Salernos Film begibt.

Ovidio Mainardi (Joe Dallessandro) arbeitet in einer sterilen Datenverarbeitungsfirma, deren saubere Ordnung in krassem Widerspruch zu seinen animalischen Gelüsten steht und diese durch die ständige Unterdrückung jeder Körperlichkeit noch zusätzlich anheizt. Als er ein Experiment mit friedlichen weißen Mäusen so manipuliert, dass diese sich gegenseitig zerfleischen, kommt ihm eine Idee, wie er der aseptischen Langeweile seines Daseins Abhilfe schaffen kann: Er begibt sich mit seinen ebenfalls gelangweilten Kollegen in ein Fußballstadion und löst dort eine Massenschlägerei aus, bei der es zu Dutzenden von Verletzten und einem Todesfall kommt. Doch das ist erst der Anfang einer ganzen Reihe von immer blutrünstigeren und rücksichtsloseren Verbrechen. Ein aufs Abstellgleis geschobener Kriminalbeamter (Enrico Maria Salerno), der in Mainardis Firma einen Computerkurs belegt, ermittelt in dem Fall und kommt dem selbstherrlichen Lustmörder auf die Schliche.

Salernos Film ist inhaltlich ein sehr typischer Vertreter des italienischen Crimekinos jener Tage: Der Blick auf die Gesellschaft ist verbittert, die Kapriolen des Kapitalismus werden mit der nüchternen Verachtung des intellektuellen Marxismus aufgezeigt, der zwangsläufige Verfall der Moral diagnostiziert, statt dem Aufzeigen eines Auswegs gibt es  den fast schadenfroh ausgemalten Blick in eine düstere Zukunft ohne Licht am Horizont. Dabei muss man einräumen, dass FANGO BOLLENTE als Gesellschaftskritik nur mäßig erfolgreich ist: Sein Protagonist ist bereits viel zu weit draußen, um als durchschnittlicher Repräsentant des unteren Mittelstandes angesehen werden zu können, selbst wenn seine Lebensumstände – Ehefrau, kleine Wohnung, kleines Einkommen, langweiliger, aber sicherer Job, keinerlei Visionen oder Pläne – durchaus repräsentativ sind. Dieser Ovidio tickt von Anfang an nicht ganz normal, ist fasziniert und erregt vom Regelverstoß, von  Gewalt und Tod, hat keine Angst vor einer Strafe, kultiviert vielmehr eine immer stärker werdende Todessehnsucht. Die Art und Weise, wie er sein Spielchen mit Salernos Polizeibeamtem spielt, den Cop immer wieder provoziert und Andeutungen macht, die fast einem Geständnis gleichkommen, diese seltsame Beziehung, die er zu ihm aufbaut, erinnern stark an das Serienmörderkino, der Schluss, der eine Art virusartiger Verbreitung seiner perversen Ideen prophezeit, an düstere urbane Horrorvisionen eher amerikanischer Prägung à la DEATH WISH, THE EXTERMINATOR oder VIGILANTE, nicht zuletzt wegen des ähnlich unaufhaltsam nach vorn pumpenden Scores.

Wenn man FANGO BOLLENTE so betrachtet, nicht als Vertreter des politisch motivierten gesellschaftskritischen Thrillers oder des cinema di dinuncia, sondern als Dystopie, die realistische Hintergründe im Stile der agitatorischen Warnfabel überspitzt wiedergibt, ist er hingegen ausgezeichnet. Die Atmosphäre, die der Regisseur aufbaut, ist äußerst ungemütlich, Dallessandro als diabolisch grinsender Soziopath und Salerno als erfahrener, schon etwas müder, aber immer noch hochmotivierter Cop, der fast alles schon gesehen hat, sind perfekt besetzt, das Drehbuch marschiert mit großer Konsequenz seinem unabwendbaren Ende zu, die Gewaltspitzen sind fies und schmerzhaft. Ein Wutklumpen mit der Wirkung eines Hochdruck-Einlaufs. FANGO BOLLENTE räumt den Magen auf.

 

maliziaEin Meisterwerk!

Salvatore Samperi drehte mit MALIZIA eine Commedia sexy all’Italiana, die nicht nur nichts mit den überbordenden Albernheiten der FLOTTEN TEENS-Filme zu tun hat, sondern auch weitaus mehr bietet, als man von einer „Sexkomödie“ gemeinhin erwarten würde. Das Lachen bleibt einem mitunter am dicken Kloß im Halse stecken, den zuvor die mitunter äußerst bittere Zeichnung eines von rigiden Moral- und Rollenvorstellungen bestimmten gesellschaftlichen Alltags und der auf diese unweigerlich folgenden Bigotterie  hinterlassen hat. Was beschwingt und heiter beginnt, mit einem kritischen, aber eher melancholisch-humorvollen, irgendwie auch etwas nachsichtigen Blick auf das Leben in einem erzkatholischen Land, entwickelt sich mit unaufhaltsamer Logik zum schmerzhaften, den Thriller und das Drama heftig streifenden Runterzieher, der am Ende keinen einzigen der Protagonisten unversehrt lässt und ein Happy End aufbietet, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Samperi – zum Zeitpunkt der Entstehung des Films gerade 29 Jahre alt und eine der Hoffnungen des italienischen Kinos – erzählte mit MALIZIA eine Geschichte, die ein für Italien sehr typisches Problem behandelte, wie Udo von L’amore in città in seiner Einführung zum Film berichtete: Die Fantasie, von einer älteren Frau in die Sexualität eingeführt zu werden, teilen wahrscheinlich Jungs auf der ganzen Welt, aber in Italien, wo Mädchen „unberührt“ in die Ehe gegeben werden sollten und junge Männer in der Regel beim Bordellbesuch mit dem Vater ihre Jungfräulichkeit verloren, war eine ganz andere Sehnsucht mit ihr verknüpft. Das sieht man eben auch in MALIZIA, in dem sich der etwa 13-jährige Nino (Alessandro Momo), Sohn des sizilianischen Geschäftsinhabers Ignazio (Turi Ferro) und einer von drei Söhnen, die den Tod ihrer Mutter betrauern, unsterblich in die junge, hübsche Haushaltshilfe Angela (Laura Antonelli) verliebt. Er ist nicht der einzige: Auch sein älterer Bruder, vor allem aber der eigene Vater machen der aparten Person Avancen, die Nino mit zunehmender Frustration beobachtet und denen er nichts entgegenzusetzen weiß, schließlich betrachten ihn alle noch als Kind. Die Qual, die die durch die ständige Anwesenheit Angelas entfachte Lust bei ihm verursacht, wächst ins Unermessliche, als der Papa seine Absicht verkündet, Angela zu heiraten. Und nun beginnt Nino ein grausames Spiel mit der wehr- und mittellosen Hausangestellten zu spielen, das ihm seinen Willen erfüllen und die Hochzeit hinauszögern soll.

Mithilfe der phänomenalen Kamerarbeit von Vittorio Storaro taucht Samperi die zunächst sehr komischen Vorgänge (der Film eröffnet mit der von zahlreichen Pannen begleiteten Totenwache) in ein warmes, goldenes Licht, das alles in einer nostalgisch aufgeladenen Vorvergangenheit zu verorten scheint und damit die geistige Nähe zum bitter-melancholischen Coming-of-Age-Film schafft. Auch Fred Bongustos geschäftig vorpreschendes Titelthema (das ich seitdem nicht mehr aus dem Kopf bekomme) trägt seinen Teil dazu bei, dass man die Blüten, die der Katholizismus im Leben der Charaktere treibt, eher mit einem gewissen Amüsement betrachtet, denn mit der Ablehnung, die sie eigentlich verdienen. Das Leben von Ignazio und seinen Söhnen könnte gewiss schlimmer sein: Der Tod der Mutter wurde von allen erstaunlich gut, fast ein wenig zu gut verarbeitet, das Geschäft des Vaters läuft ebenfalls, die Söhne entwickeln sich nach Plan und Angela erweist sich als unersetzliche Hilfe, die Ignazio in wahre Verzückung – etwa über seine volle Unterwäscheschublade – versetzt. Und den hinter der Fassade der Gottesfurcht und Keuschheit verborgenen Sexismus, dem die wie ein Besitzstück behandelte Angela ausgesetzt ist, nimmt man auch deshalb so hin, weil die von ihm betroffene ihn selbst kaum wirklich zu registrieren scheint.

Die Stimmung kippt mit der anwachsenden Frustration Ninos, der einen für sein Alter überaus perfiden Einfallsreichtum an den Tag legt, wie er die Begehrte in die Ecke drängen kann. Hier erst kommt sowohl die Machtlosigkeit Angelas wie auch die vollkommene Blindheit Ignazios zum Vorschein, der nichts von dem, was in seinem Haus vorgeht, überhaupt registriert. Seine Zukünftige interessiert ihn als Mensch überhaupt nicht, er hat keinerlei Antennen für ihre Gefühle, noch fragt er nach der Ursache für ihr ausweichendes Verhalten ihm gegenüber, viel zu beschäftigt ist er mit den  Verpflichtungen, die mit der anstehenden Hochzeit einhergehen, etwa den Gesprächen mit dem Pfarrer, von dem er seinen Segen erwartet. Indessen wird aus jugendlichem Übermut ein perverses Machtspielchen, das die vermeintliche Unschuld des unreifen Knaben in arge Zweifel stellt. Die Stimmung spitzt sich im letzten Akt von Samperis Film massiv zu: Was vorher unter dem Deckel erst langsam vor sich hin simmerte, dann zu brodeln begann, kocht nun endgültig über: Eine schöne dramaturgische Entsprechung zu den Gefühlen Ninos, die erst durch die repressiv-verlogene Stimmung in seiner Heimat überhaupt solche Kraft entfalten können. Angela indessen geht ihrerseits in die Offensive und löst das Dilemma auf überraschende, aber konsequente Art und Weise. Doch dass der wiederhergestellte Frieden von Dauer ist, darf angesichts der bösen Schlusspointe stark bezweifelt werden.

MALIZIA schickte mich am Samstag durch ein Wechselbad der Gefühle: Ich lachte, vor allem über den Witwer Ignazio, der nie so wirklich die Autorität besitzt, die er sich selbst zuschreibt (seine strenge Mutter verbietet ihm in einer hübschen Episode ständig das Wort, sobald er nur den Mund öffnet), oder die zahlreichen liebevoll gezeichneten Nebenfiguren, litt mit dem verzweifelten Nino, der nach sexueller Druckentladung sucht, genauso wie mit Angela, die unverschuldet in eine für sie absolut verheerende Situation gerät. Samperi hat ganz offensichtlich nicht allzu viel übrig für die Kirche, die eine Atmosphäre der Bigotterie etabliert hat, aber den Menschen begegnet er mit viel Verständnis und Sympathie, egal wie schwach sie sein mögen, wie idiotisch sie sich verhalten, wie gemein sie bisweilen mit ihresgleichen umgehen. MALIZIA wird niemals ätzend oder zynisch, auch wenn der Schluss, wie erwähnt, nur wenig Hoffnung auf eine Besserung macht. Das passt auch zum tragischen Schicksal Laura Antonellis, die im vergangenen Jahr in völliger Armut mit 73 Jahren verstarb, nachdem eine Drogensucht und eine missglückte Schönheitsoperation ihre Karriere vor rund 25 Jahren schlagartig beendet hatten. Hier darf man sie in einer Performance bewundern, die gleichermaßen fragil wie kraftvoll ist und das warme Zentrum dieses großartigen Films bildet.

 

3ts22jvfmxmwes3424dcvdqomujEs kommt zusammen, was zusammengehört: Dank der dritten Ausgabe des Terza Visione und dieses Films hält nun auch nach viel zu langer Zeit der italienische Sandalenfilm, der so genannte Peplum, endlich Einzug in dieses Blog, und dies, gewissermaßen als Wiedergutmachung für diese lange Wartezeit, mit einem besonders erlesenen Vertreter des unübersichtlichen Genres. Der Peplum, eigentlich benannt nach einem antiken Kleidungsstück, war nicht nur ein wichtiger Bestandteil des italienischen Genrekinos, sondern auch meiner Kindheit. Es gab drei Fernsehsender, die zur besten Sendezeit um Viertel nach Acht tatsächlich noch Filme zeigten, die älter als zehn Jahre waren, nicht aus den USA stammten oder mit dem langweiligen Gütesiegel „Klassiker“ daherkamen. Und im Jahr 1982, als ich meine Einschulung erlebte, da gab es auf ARD oder ZDF eine ganze Reihe mit Peplums, die um 20:15 Uhr gezeigt wurden. Ich erinnere mich noch gut an die Ausstrahlung eines Ursus-Films oder an Duccio Tessaris ARRIVANO I TITANI, dessen deutscher Titel KADMOS, TYRANN VON THEBEN einem Prinzip folgte, nach dem etliche dieser Filme in Deutschland betitelt wurden. Für ein Kind waren diese Filme wie gemacht: Es gab einen muskelbepackten Helden, finstere Tyrannen mit bösen Plänen, schöne Prinzessinnen, die gerettet werden wollten, jede Menge Schwertkämpfe und Keilereien und manchmal auch Monster und Sagengestalten. Kein Wunder, dass ich mich in den Peplum verliebte und diese Filme am nächsten Tag Gesprächsthema Nr. 1 auf dem Schulhof waren: Selbst, wenn ich sie aufgrund meiner verordneten Zubettgehzeit nie zu Ende sehen konnte. Aber wie das so ist: Irgendwann kamen dann andere Filme und mit ihnen auch die Ansicht, dass vergleichsweise billige italienische Abenteuerfilme aus den Sechzigerjahren irgendwie albern seien. Und als die Wiederentdeckung des italienischen Genrekinos in den Neunzigern anstand, da waren es einfach andere, vielleicht auch weniger unschuldige Filme, die mich interessierten. Es wird Zeit für eine Wiederentdeckung, das heute klarer denn je.

Genug des Geplänkels: Michele Lupo, der später mit LO CHIAMAVANO BULLDOZER einen meiner absoluten All-Time-Faves und der besten Bud-Spencer-Filme überhaupt inszenierte, drehte 1965, als der Peplum schon in den letzten Zügen lag und in der Gunst der Zuschauer vom Italowestern überholt worden war, mit SETTE CONTRO TUTTI eine frühe Übung für die später mit Hill und Spencer so erfolgreich vermarkteten Prügelkomödien und einen Film, den man als spielerischen Abgesang auf das sterbende Genre betrachten kann. Es geht um einen römischen Zenturion namens Marcus Aulus (Roger Browne), der einen Putschversuch des schurkischen Morakeb (Erno Crisa) im fiktiven Land Aristea zu verhindern sucht, dabei aber in Gefangenschaft gerät und sich in der Arena, in der er eigentlich im Kampf sterben soll, mit den anderen Gladiatoren verbündet. Es folgt der gemeinsame Kampf gegen die Unterdrücker, die natürlich auch Assuer (Josí Greci), die schöne Tochter des Königs Krontal (Carlo Tamberlani), gekidnappt haben. Wichtiger als diese nur ein Gerüst bietende Handlung ist aber die nicht enden wollende und mit laufender Spielzeit immer frenetischer werdende Abfolge absurder, meist komischer Kämpfe, Keilereien und Albernheiten, als die sich die Mission der glorreichen Sieben entfaltet. Immer mit von der Partie, wenn es darum geht, den Finstermännern den Arsch zu versohlen oder den Kollateralschaden beiseite zu räumen, um Platz für neue Niederschläge zu schaffen, ist Goliath (Arnaldo Fabrizio), ein Kleinwüchsiger, der das quirlige Comic Relief gibt und Anlass für heutzutage herrlich politisch unkorrekten Humor gibt. Der Schauspieler wird seine Rolle und die Kollegen vermutlich gehasst haben: Seine Körpergröße ist immer Thema und auch wenn er ganz entscheidend am Weiterkommen und dem finalen Triumph der Helden beteiligt ist, wird er von seinen „Freunden“ stets wie ein drolliges Haustier behandelt, von ihnen herumgeworfen, rumgereicht oder sonstwie gedemütigt. Es ist alles völlig unfassbar und das Publikum sah sich in dieser ersten Festivalnacht einem wahren Bombardement an Zwerchfellattacken und haarsträubenden Actionchoreografien ausgesetzt. Lust, Liebe und Ausgelassenheit lagen nicht nur in der Luft, sie hingen als adrenalin- und endorphingeschwängerte Dunstglocke über dem feiernden Kinosaal.

Als kleinen Schwachpunkt dieses ansonsten vollends umwerfenden Films hatte ich zunächst das Fehlen eines herausragenden Darstellers empfunden, aber rückblickend scheint mir gerade das ein genialer Schachzug Lupos gewesen zu sein: Die Sieben funktionieren als perfekte Einheit, aus der niemand wirklich heraussticht, und SETTE CONTRO TUTTI erweist sich damit in erster Linie als eine wie geschmiert laufende Unterhaltungsmaschine, als ein akribisch vorgeplantes Spiel der von Lupo geschickt dirigierte Elemente. In seiner konsequent durchgehaltenen Eskalationsdramaturgie erinnert SETTE CONTRO TUTTI ein wenig an elaborierte Kettenreaktionen und Dominoeffekte: Manchmal gibt es einfach nichts Schöneres, als dabei zuzusehen, wie Dinge geplant und nach fantasievollem Muster umfallen und ein Zwerg dazu vor Freude glucksend im Dreieck springt.

 

 

Zu OPERA, dem Abschlussfilm des 2. Terza Visione-Festivals, durfte ich einige einführende Worte sprechen: eine Ehre für mich, stellte der Argento-Film für nicht wenige doch gewiss so etwas wie die Krönung eines eh schon erlesenen Festivalprogramms dar. Ein Argento ist eben auf der Leinwand gleich noch einmal so schön und die Gelegenheiten, seine Filme dort zu sehen, immer noch eher rar gesät und damit besonders wertvoll. Ich habe über OPERA schon einmal geschrieben, aber da ich ihn nun innerhalb weniger Tage gleich zweimal geschaut habe (einmal zur Vorbereitung, einmal während des Festivals), möchte ich hier einige kurze Notizen hinterlassen.

1. Wenn Dario Argento auch gebetsmühlenartig vorgeworfen wird, kein Erzähler zu sein: OPERA ist superökonomisch erzählt, ohne ein Gramm Fett dran und mit Sicherheit der schnellste und kompakteste Film des Meisters. Ich würde mich sogar zu folgender These versteigen wollen: Wenn INFERNO der „reinste“ Horrorfilm Argentos ist, ist OPERA sein „reinster“ Giallo, am nächsten dran an der puren Essenz, von allem Zierrat befreit.

2. Christoph Draxtra (Eskalierende Träume) schreibt, es gehe in diesem Film – wie eigentlich immer bei Argento – um den „Polymorphismus des Sehens“. Ich nannte es in meiner eigenen Einführung den „Gangbang der Blicke“: Alles sieht, alles wird gesehen, alles spiegelt sich und wirft sein Bild zurück, jeder Blick ist entweder ein Phallus oder eine Öffnung. Die erste Einstellung bündelt den ganzen Film: die Großaufnahme eines Rabenauges, in dem sich das Opernhaus spiegelt. Übersetzt: ein Killer der mordet und eine Opernsängerin dazu zwingt, ihm dabei zuzusehen, sich in ihrem Blick spiegelnd.

3. Argento löst sämtliche filmischen Bedeutungsträgern von ihrer Bedeutung: Großaufnahmen erklären nichts mehr, sondern stiften noch mehr Verwirrung, Subjektiven haben kein Subjekt. Immer wieder gibt es Blicke, die keinem Subjekt zugeordnet werden. Bedeutungsvolle Zooms führen ins Nichts, Menschen tauchen überraschend an Orten auf, an denen sie gar nicht sein können, der Schnitt führt Kausalität mehr als einmal ad absurdum. Auf dem Höhepunkt erfasst der Herzschlag – des Killers? des Opfers? – das Bild und bringt es zum Vibrieren. Jede äußere Form der Logik ist aufgehoben, der Wahn regiert.

4. Der Rabenflug zeigt den eindruckvollsten Kameraeinsatz in Argentos Werk. Punkt. Ich schreibe so etwas ungern, aber wer diese Sequenz nicht im Kino gesehen hat, hat sie gar nicht gesehen. Es ist tatsächlich so. Zwei verschiedene Welten, Tag und Nacht.

5. Das Ende von OPERA, das „angeklebte Finale“, wie es viele verächtlich nennen, ist das schönste und rätselhafteste Ende eines Argentofilms. Ich würde es für nichts in der Welt eintauschen wollen.

6. Ein mehr als würdiger Abschluss für ein mehr als fantastisches Filmfest. Bis hoffentlich nächstes Jahr!