Steuern wir auf den Untergang zu, weil wir zu bequem sind? Weil wir uns nicht oft genug selbst hinterfragen – oder, wenn wir es doch tun, den Antworten keine Konsequenzen folgen lassen? Lehnen wir uns nicht oft genug auf, ergeben wir uns zu oft freiwillig in die Rolle der willigen Vollstrecker von Mächten, die sich darauf verlassen können, dass wir das eingeübte Spiel immer weiter mitspielen? Steht am Anfang einer Wende zum Besseren nur ein einfaches, entschiedenes „Nein!“?
Als wir den Protagonisten von BUSANHAENG, einen Fondsmanager mit dem Namen Seok-woo (Yoo Gong), zum ersten Mal sehen, nimmt er einen Anruf eines Vorgesetzten entgegen. Wir hören nicht, was der sagt, sehen nur Seok-woos Reaktion: Unglauben, Verwunderung, Entsetzen. Auf seine Nachfrage folgt die erneute Bestätigung, die Aufforderung zum Gehorsam, auf die er nichts mehr zu entgegnen weiß. Das Spiel setzt sich eine Hierarchieebene tiefer fort: Seok-woo ruft einen Angestellten zu sich, fordert ihn auf, „alles zu verkaufen“. Die Gefahr eines Marktcrashes sei ihm bewusst, antwortet er, aber der Befehl kommt von oben. Da kann man nichts machen.
Am Ende des Films erspähen zwei Soldaten zwei Schatten, die sich durch einen Eisenbahntunnel nähern, wahrscheinlich eine Frau und ein Kind. Über Funk machen sie Meldung. Ob es sich um Infizierte handelt, will der Mann am anderen Ende wissen. Das sei auf die Distanz nicht zweifellos auszumachen, antwortet der Soldat. „Eliminieren!“, lautet der Befehl. Die beiden Soldaten legen ihre Gewehre an, aber sie zögern. Könnte es sich nicht doch um Überlebende handeln? Dann hätten sie Unschuldige auf dem Gewissen. Plötzlich hören die beiden ein Lied. Es ist das Kind, ein Mädchen, das zu singen begonnen hat. Bei den Schatten handelt es sich tatsächlich um Überlebende der Katastrophe. Sie leben, weil die beiden Schützen den entscheidenden Moment gezögert, den Befehl nicht blind ausgeführt haben.
BUSANHAENG, bis heute die sechsterfolgreichste südkoreanische Filmproduktion und der erste Real-Spielfilm des Animationsspezialisten Sang-ho Yeon, zeichnet wieder einmal das Bild einer Zombieapokalypse (der Begriff „Zombie“ fällt im ganzen Film nur einmal), für die hier wahrscheinlich das Leck in einer Chemiefabrik verantwortlich ist. Wenig später rennen infizierte Menschen blutgierig durch die Straßen und jeden, der von ihnen gebissen wird, ereilt binnen Sekunden oder auch Minuten das gleiche Schicksal. Protagonist Seok-woo befindet sich mit seiner Tochter Soo-an (Su-an Kim) in einem Zug, als die Katastrophe um sich greift. Sie hat Geburtstag und möchte zu ihrer getrennt lebenden Mutter nach Busan, weg vom erziehungsberechtigten Vater, der nur seinen Job im Kopf hat und sich nicht um sie kümmert. Er begleitet sie nur widerwillig, schließlich kann er sie nicht allein fahren lassen. Zuerst schnappen die beiden auf ihrer Reise nur einzelne, unverbundene Anzeichen des bevorstehenden Untergangs auf: Asche, die vom Himmel fällt, ein brennendes Hochhaus in der Ferne, einen Mann, der einen anderen anfällt. Doch nachdem der erste Infizierte an Bord des Zuges gelangt ist, beginnt schon kurze Zeit darauf ein verbissener und hoffnungslos scheinender Kampf einer kleinen Minderheit Überlebender gegen die zahlenmäßig weit überlegene Schar der tollwütigen Monster. Auch außerhalb des Zugs ist keine Hilfe zu erwarten, denn das ganze Land versinkt bereits im Chaos. Und zu allem Überfluss bilden auch die Überlebenden keine geschlossene Gemeinschaft.
Im Zombiezyklus George A. Romeros, vor allem in NIGHT OF THE LIVING DEAD, DAWN OF THE DEAD und DAY OF THE DEAD, der hier natürlich überlebensgroß Pate stand, ist das Auftreten der lebenden Toten nur eine extreme Begleiterscheinung – oder, auf hermeneutischer Ebene, ein Gleichnis – der überall um sich greifenden zwischenmenschlichen Verrohung. Angesichts gefräßiger Monster vor der Tür schlagen sich die verbarrikadierten Überlebenden in NIGHT bald gegenseitig die Köpfe ein, der Held wird am Schluss von den marodierenden Lynchmobs exekutiert, die gar nicht erst lang fragen; in DAWN sind es nicht die ziellos herumwandernden Untoten, die zur Eskalation führen, sondern eine Bande von Rockern, die plündernd durchs Land zieht; in DAY schließlich verhindert das Eindringen der Zombies in den von den verfeindeten Wissenschaftlern und Soldaten bewohnten unterirdischen Bunker eigentlich nur, dass die sich gegenseitig zerfleischen. Woher die Zombies kommen, bleibt ungeklärt, weil es nicht wichtig ist: Die Menschen haben sich schon vorher gegenseitig umgebracht – und zwar in vollem Bewusstsein ihres Tuns.
Sang-ho Yeon springt mit BUSANHAENG auf diesen Zug (hihi) auf, bleibt dabei aber enger bei seinen Figuren: Für Seok-woo bedeutet der Überlebenskampf in erster Linie, endlich seiner Verantwortung als Vater gerecht zu werden, die er viel zu lang vernachlässigt hat – bei Romero sind Eltern bzw. Kinder auffallend abwesend. Der den Erdball umspannenden Utopie eines harmonischen, von Mitgefühl, Verständnis, Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme geprägten Zusammenlebens geht in BUSANHAENG gewissermaßen die individuelle „Menschwerdung“ hinaus. So lernt Seok-woo etwa, dass seine Rolle als beschützender Vater ihn nicht zu blindem Egoismus berechtigt: Als er den anderen Überlebenden verschweigt, welches Schicksal sie am Ausgang des Bahnhofs erwartet und das Geheimnis des sicheren Wegs für sich behält, konfrontiert ihn Soo-an damit, dass er nur an sich selbst denke. Als sie später auf eine Gruppe von Menschen stoßen, die sie verjagen, weil sie um ihre eigene Sicherheit fürchten, beginnt das Mädchen zu weinen: Sie kann diesen Hass, das Misstrauen, die Selbstsucht nicht ertragen, sie verzweifelt angesichts einer Welt, in der der Mensch des Menschen Wolf ist. Vater zu sein bedeutet für Seok-woo mithin auch, ihr ein Vorbild zu sein und ihr zu zeigen, dass das Leben es überhaupt wert ist, gelebt zu werden. Niemand kann sich als Einzelgänger durchschlagen. Und wenn doch, so stirbt er einsam. Ohne Menschlichkeit ist das Überleben nichts wert.
BUSANHAENG ist plakativ und vielleicht eine Spur zu simplizistisch, ganz klar auf den melodramatischen Überrumpelungseffekt aus. Im Finale, wenn der infizierte Seok-woo in den letzten Sekunden seines Daseins als Mensch endlich erkennt, welches Glück ihm zuteil wurde, als seine Tochter zur Welt kam, kommen Sang-ho Neons Ursprünge in der Animation deutlich zur Geltung. Man könnte den Vorwurf des Kitsches oder der Gefühlsduselei erheben und läge damit nicht komplett falsch, aber ich würde lügen, wenn ich sagte, BUSANHAENG sei spurlos an mir vorbeigegangen. Der Film ist erstklassig inszeniert, temporeich und spannend. Er nutzt das beengte Zugsetting optimal und zeigt einige Meisterschaft in der Choreografie seiner zahlreichen Suspense- und Actionszenen. Womit ich nicht so warm geworden bin, ist seine etwas flache Farbgebung. Aber andererseits bin ich auch wieder dankbar für jeden Film, der nicht den Grünschleier über alles legt, um den Anschein von edginess zu erwecken. Eins noch: Einige Rezensionisten verstiegen sich zu dem zwar naheliegenden, aber trotzdem blöden Vergleich von BUSANHAENG mit SNOWPIERCER. Klar, beide relativ neu, beide irgendwie gesellschaftskritisch, beide aus Korea, beide mit Zug drin und Leuten, die sich da durchkämpfen mssen. Ich würde eher sagen, BUSANHAENG ist wie MURDER IN THE ORIENT EXPRESS, nur ohne Mord und Mörder, ohne Hercule Poirot und ohne Verdächtige, dafür aber mit Zombies und kleinem Mädchen. Oder wie UNDER SIEGE 2: DARK TERRITORY mit einer Horde Zombies als Steven Seagal, einem Papa als Eric Bogosian und einem Mädchen als Atomrakete. Macht das Sinn?
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