12. hofbauer-kongress: new york city inferno (jacques scandelari, frankreich 1978)

Veröffentlicht: Januar 8, 2014 in Film
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Ich gebe zu, nicht so richtig begeistert gewesen  sein, als mit NEW YORK CITY INFENO ein Schwulenporno als Übergang zum mittlerweile obligatorischen Enz-Film angekündigt wurde. Ich habe mich mit dem Porno als Film bislang noch gar nicht beschäftigt und die Aussicht, mir nun ausgerechnet haarige Männer beim Sex auf der Leinwand anschauen zu müssen, war für mich ehrlich gesagt nur wenig erbaulich. Aber der Kongress ist ja auch eine Veranstaltung, die die ein oder andere Prüfung beinhaltet, bei der das Sich-Aussetzen, das Mit-Haut-und-Haaren-Durchleiden, das Durch-den-Schmerz-zum-Glück-Gelangen Teil des Erlebnisses ist. Ich werde nach bestandener Probe wahrscheinlich nicht zum größten Gay-Porn-Fachmann des Planeten avancieren, aber ich kann nichts anderes sagen, als das diese Vorstellung für mich das wahrscheinlich eindrucksvollste und -reichste Filmerlebnis für mich bereithielt, seit ich damals mit 8 Jahren in den Sommerferien DER WEISSE HAI auf einem kleinen tragbaren Fernseher sah. Und das gewiss nicht nur, weil ich zum ersten Mal Männern beim Fisten zugesehen habe. Die Sichtungssituation hat dazu nicht unerheblich beigetragen: In einem Publikum, das überwiegend aus männlichen Heten bestand – zwei Damen waren anwesend – wurde NEW YORK CITY INFENO nicht zur chauvinistischen Mut- und Härteprobe, auch nicht zum Anlass, sich lautstark seiner Heterosexualität zu versichern. Vielmehr wurde dieser Film so geschaut wie jeder andere auch. Und im Gespräch, das sich an ihn anschloss, behandelte man ihn ebenso. Das war ein gutes Gefühl.

Als Einstiegsfilm in eine unbekannte Welt ist NEW YORK CITY INFENO aber auch schon inhaltlich prädestiniert: Der Zuschauer begleitet Jérôme (Alain-Guy Giraudon) bei seinem ersten New-York-Besuch. Die Schwulenmetropole zieht ihn aber lediglich deshalb an, weil ihn sein Liebhaber Paul (Bob Bleecker) dorthin verlassen hat. Der Brief, in dem er Jérôme von den Verlockungen der Stadt sowie seinem Entschluss mitteilt, nicht mehr zu ihm zurückzukehren, fungiert als eine Art Reiseführer. Doch anstatt einem einfach nur bestimmte markante Orte an die Hand zu geben, die er dann wie ein Tourist abklappert, lädt er ihn ein, die Stadt auf eigenen Wegen zu erkunden. Jochen Werner, Gast beim Kongress und als Kurator des Pornfilmfestivals in Berlin Experte auf dem Gebiet (und bot als mein Sitznachbar auf Nachfrage hin und wieder Orientierung), verwendete zur Beschreibung den Begriff „Flaneursfilm“, der den Geist des Films perfekt umschreibt: Es wird viel gelaufen und sich umgeschaut, und die Begegnungen, die Jérôme auf seinem Weg immer kurz aufhalten, passieren alle ganz spontan und ungeplant. Überhaupt wird Sex hier nicht wie so oft im generischen Gebrauchsporn umständlich herbeigeführt und in absurden Erzählversuchen motiviert, sondern passiert beinahe überfallsartig. Man trifft sich zufällig und dann genügt meist nur ein kurzer Blick, um sich zu verständigen und zur Sache zu kommen. Der „Spaziergang“ durch New York hat dann über die gesamte Dauer durchaus etwas von einer Jagd, auch wenn Jérôme äußerlich ganz entspannt ist – und natürlich niemand „erlegt“ wird. Dass die Schwulen trotz ihrer neu errungenen „Macht“, von der ein Sprecher der Schwulenbewegung in einem dokuartigen Intervieweinsprengsel stolz erzählt, sich dann doch ein geheimen, abegschlossenen oder abgelegenen Orten treffen müssen, wo außer ihnen niemand sein will, zeigt, dass es mit der Freiheit so eine Sache ist.

Die erste Sexszene – besonders hart und schmutzig, somit für die Jungfernsichtung die ideale Ratzfatz-Defloration mit abschließendem Facial – findet in einem abgeranzten Schlachthaus gegen eine Schweinehälfte gestützt statt, später besorgt man es sich in einer verfallenen Hafengegend (unter den Augen einer Polizisten-Epiphanie) oder in den engen Kabinen eines Toilettenraums. Bewusstseinserweiternd auch der Besuch in einem Tattoostudio: Nicht nur, weil die weibliche Kundin damals noch eine seltene Ausnahme von den Arschgeweih-Armeen von heute war, sondern auch wegen der erbarmunsgwürdigen hygienischen Zustände vor Ort. NEW YORK CITY INFENO spielt noch einige Jahre bevor Aids alles veränderte. Hier frönt man noch voller Enthusiasmus dem Anything goes, frenetisch umbrandet von der zelebratorischen Musik der Village People (deren Namen ich während der Sichtung tatsächlich zum ersten Mal mit Greenwich Village in New York zusammenbrachte). Aber um diese Freude und Aufbruchstimmung herum muss man schon dern Verfall diagnostizieren, dem die Metropole unterliegt. Als Vorbote auf kommendes Unheil entlädt sich der ganze Druck am Ende in einem finsteren Club, wo zum wahrhaft infernalischen Industrial-Noisepunk von „Stigmata Hari“ eine schwule SM-Orgie stattfindet, die durchaus Parallelen zu den Hölleninszenierungen des Horrorfilms aufweist.

NEW YORK CITY INFENO ist ebenso rauschhaft wie schmutzig. Er ist gleichzeitig eine Art schwules Manifest, das Selbstbestimmung sowie sexuelle wie gesellschaftliche Freiheit fordert und feiert, aber auch das Porträt einer Stadt in einer ihrer vielleicht wildesten Phasen kurz vor dem Untergang. Auf den Spuren Jérômes scheint tatsächlich noch einmal alles möglich zu sein: Sogar das Lesen der Zukunft aus ergossenem Sperma.

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