Archiv für Dezember, 2016

11Episode 11: Die Schrecklichen (Zbynek Brynych, Deutschland 1969)

Es verwundert nicht, dass es Brynych brauchte, um die erste wirklich komplett freidrehende Episode der Krimiserie zu inszenieren. In DIE SCHRECKLICHEN wird die ausgeraubte Leiche eines Mannes aus der Isar gezogen – bereits der dritte Fall in wenigen Wochen. Die aggressiven und unfreundlichen Senioren, die immer am Flussufer entlangschlendern, einen kleinen Jungen im Schlepptau, können keine brauchbare Auskunft über den Tathergang geben. Die Spur führt zu einer Kneipe, in der das Opfer sich einen angesoffen hatte, bevor er das Zeitliche segnete. Offensichtlich hatte man ihn dort ausgeraubt und dann im Fluss entsorgt. Verdächtig sind der Wirt Panse (Dirk Dautzenberg) und dessen Freundin Hilde (AnitaHöfer), die ersterer benutzt, um Männern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Im Dunstkreis der Kneipe streunert auch der bedauernswerte Wegsteiner (Karl Walter Diess) herum, der von Hilde (Anita Höfer) verstoßene Vater des kleinen Jungen. Ebenfalls zum Inventar der Pinte gehört die junge Herta (Helga Anders), Panses Tochter, die es in der dumpfen Atmosphäre der Bierschwemme nicht mehr aushält.

Nicht nur, dass die Episode angereichert ist mit surrealen Elementen, Brynych unterstreicht diese auch inszenatorisch mit weiter verfremdenden Stilmitteln. „Die Schrecklichen“ beginnt mit einem an die zur gleichen Zeit reüssierenden Report-Filme erinnernden Voice-over Kommentar, dann sprechen da Charaktere direkt in die Kamera, der Score vereint volkstümliche Musik mit dissonant klingenden Stücken, es gibt kurze, nur mit Musik unterlegte Montagesequenzen sowie eine spontane Tanzeinlage von Helga Anders und der Song, zu dem Brynych immer wieder zurückkehr ist Gil Francropolus‘ „Corinna“. Hervorstechendstes Merkmal sind aber die Titelhelden, die Bande der Senioren, übellaunige Anarchisten, deren kurze Dialoge auch aus der Feder Becketts stammen könnten und fast an absurde Poesie heranreichen. „Die Schrecklichen“ wirkt gleichermaßen weniger tagesaktuell und konkret, wie sie in ihrem teuflischen Humor zur gleichen Zeit ein ziemlich düsteres Bild der deutschen Gesellschaft zeichnet. Höhepunkt ist sicher Hildes Geständnis, ihr Sohn sei ihr egal. „Wenigstens sind Sie ehrlich“, kann der Kommissar da nur noch sagen, den längst nichts mehr wundert. Die Schrecklichen sind jeder Menschlichkeit beraubt, eine fast schon dämonisch zu nennende Bande asozialer Geschöpfe, die erkannt haben, dass Menschlichkeit nichts bringt und deshalb nach Gesetzen leben, die ihnen die Laune diktiert. Sie sind nicht so sehr gewöhnliche Schurken als vielmehr ein Zeichen des drohenden Niedergangs. Den können Keller und seine Leute bestenfalls bremsen, aber gewiss nicht aufhalten. Es müsste ein großer Regen kommen und den ganzen Dreck wegspülen …

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waggonEpisode 12: Die Waggonspringer (Theodor Grädler, Deutschland 1969)

Bei einem ihrer Überfälle verliert ein Mitglied der „Waggonspringer“ durch einen Unfall sein Leben. Kurz nachdem die Leiche am nächsten Morgen entdeckt wird, ist sich auch schon wieder verschwunden. Die Täter müssen ganz in der Nähe sein, können aber entkommen. Sie handeln im Auftrag von Graffe (Erik Schumann), der nach dem Unglücksfall Schwierigkeiten hat, die Bande beisammenzuhalten und ihr Schweigen zu sichern. Kommissar Keller und seine Assistenten sind ihm schon auf den Fersen.

Nach „Die Schrecklichen“ ein erwartbarer Rückschritt, dafür aber eine sehr actionlastige und bissige Episode. Schumann ist als Halunke deutlich besser als als Held, zu den Waggonspringern gehören gern gesehene Gesichter wie Ulli Kinalzik und Ralf Schermuly. Und es gibt eine schöne Szene auf einer Müllkippe.

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stundenbplanEpisode 13: Auf dem Stundenplan: Mord (Theodor Grädler, Deutschland 1969)

Im Zimmer des weithin unbeliebten Lehrers Dommel (Thomas Holtzmann) wird eine tote Schülerin aufgefunden. Seine Klasse wendet sich – angeführt vom Schüler Palacha (Vadim Glowna) – einträchtig gegen den Pauker, scheint ihn als Täter überführen zu wollen. Dass Dommel seiner Schülerin sehr zugetan war, entlastet ihn eher nicht, aber auch Palacha hatte ein Motiv für die Tat: Er war mit der Toten zusammen, bevor sie ihm für den Lehrer den Laufpass gab …

Eine dieser trickreich strukturierten Episoden, in denen der Verdacht mehrfach von einem Charakter zum anderen springt. Damit die Idee eines Komplottes gegen den Lehrer so richtig wirksam wird, werden die Regeln der Ermittlungsarbeit etwas gebeugt: Dass der Mordverdächtige vor der versammelten Schülerschar verhört wird, die ihn mit seinen Aussagen immer weiter in die Enge treibt, ist ein effektiver dramaturgischer Kniff, der der Realitätsprüfung eher nicht standhält. Holtzmann – der in der DERRICK-Folge „Steins Tochter“ ebenfalls einen Lehrer spielt – ist wie gemacht für diese unsicheren, hypernervösen Verlierertypen (natürlich wohnt er mit seiner mütterlich besorgten Schwester zusammen) und tut einem ganz unabhängig vom Ausgang der Folge einfach nur Leid. Glowna hingegen schäumt über vor Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit und bietet einen guten Widerpart. Als Spießer, der nur auf die Wahrung des schönen Scheins bedacht ist, tritt Hans Quest auf: Er lässt seinen Lehrer fallen wie eine heiße Kartoffel, damit der Schulbetrieb ordentlich weiterlaufen kann. Dass da ein junges Mädchen ums Leben kam, interessiert ihn eigentlich nicht weiter. „Auf dem Stundenplan: Mord“ ist gut gemachte Krimiunterhaltung, die mit einem bitteren Ende aufwartet, aber nicht an die noch bevorstehenden Meisterleistungen der Serie heranreicht.

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ungeheuerEpisode 14: Das Ungeheuer (Dietrich Haugk, Deutschland 1969)

Rückblickend ist es, ohne geeignete Belege immer schwierig, sich zu Wirkung und Rezeption zu äußern, aber es würde mich schon sehr wundern, wenn „Das Ungeheuer“ die bundesdeutschen Fernsehzuschauer nicht an ihre Ohrensessel und Lehnstühle gefesselt hätte. So manchem dürfte die gesellschaftskritische Dimension von Dietrich Haugks meisterhaft inszenierter Episode nicht entgangen sein, musste er doch erkennen, dass er mit seiner feinen Nachbarschaft höchstselbst aufs Korn genommen wurde. Innerhalb der Serie markiert die Folge zudem einen weiteren Schritt weg von der noch in den ersten zehn Episoden etablierten, streng eingehaltenen Formel, hin zur Experimentierfreude und narrativen Freiheit, die später immer wieder für Überraschungen sorgen sollte und DER KOMMISSAR wie auch DERRICK heute noch einen Platz in den Herzen der Freunde des deutschen Films sichert.

Ein Liebespärchen (Volker Lechtenbrink & Claudia Golling)  stolpern bei einem Rendezvous im Wald über die Leiche eines Mädchens. Der Mörder kann ihnen gerade noch entwischen, doch das Paar verfolgt ihn und setzt ihn in einer nicht weit entfernt gelegenen Siedlung fest. Kommissar Keller reist mit seinen Assistenten an, um die Anwohner der Reihe nach zu verhören, denn jeder von ihnen kann der Mörder sein – oder zumindest wissen, wer er ist. Den Kriminalbeamten bietet sich ein Panoptikum des deutschen Spießertums: Da ist Frau Hausmann (Camille Spira), die ihren beiden zerstrittenen Söhnen (Rainer Basedow & Manfred Spies) ohne zu zögern ein Alibi gibt, der Lehrer Vollmer (Paul Edwin Roth), der sein Frau (Signe Seidel) verprügelt, Hilde Lambert (Inge Seidel), die ihren behinderten Sohn (Manfred Seipold) versteckt, der alleinstehende Lektor Heirich (Jochen Blume), dem Weibergeschichten nachgesagt werden, der geistig behinderte Ernie (Heiner Zogg), der sofort das Misstrauen der Nachbarn auf sich zieht, auch wenn seine Schwester Irene (Hannelore Elsner) noch so sehr seine Unschuld beteuert, und natürlich das Ehepaar Kaduhn (Klaus Höhne & Erne Seder), die sich förmlich dabei überschlagen, ihre Nachbarn zu beschuldigen. Die Episode spielt annähernd in Echtzeit und bewegt sich atemlos zwischen der Straße, auf der der Mörder verschwand, und den Häusern der Anwohner, die sich mittlerweile alle neugierig versammelt haben und als Schaulustige die Arbeit des Kommissars verfolgen, ihm immer wieder „schlaue“ Ratschläge geben oder sich das Maul über die anderen zerreißen.

Das ist nicht nur sehr spannend (auch wenn ich schon früh ahnte, wer der Mörder ist), sondern auch ungemein actionreich inszeniert. Man spürt die sich minütlich weiter aufheizende Stimmung, den unter der Oberfläch brodelnden Hass, das Misstrauen, mit dem jeder jedem begegnet und diese unheilvolle Bereitschaft, den nächsten bedingungslos ans Messer zu liefern, wenn es auch nur der eigenen Sicherheit hilft. Die verschlafene Stimmung, die in der Straße zu Anfang noch herrscht, simmert langsam dem Siedepunkt entgegen und erreicht den Schmelzpunkt schließlich am Ende in einer Eckkneipe, in die sich Keller und seine Männer zur Beratung zurückziehen. Man schrammt nur haarscharf an der Lynchjustiz vorbei, doch dann, wenn der Mörder gefasst ist, wird alles vergessen und man lässt sich gemeinsam am Tisch nieder, um bei Bier und Schnaps über diesen verrückten Tag zu schwadronieren und wahrscheinlich darüber, dass man es ja immer gewusst hat.

Das ist alles so unfassbar gut geschrieben, inszeniert und gespielt, man wünschte sich, dass man sowas auch heute noch regelmäßig zwischen 20:15 und 21:45 Uhr zu sehen bekäme.

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papier18Episode 15: Der Papierblumenmörder (Zbynek Brynych, Deutschland 1969)

Auf einem Schrottplatz wird Billie (Eva Mattes) erschossen, ein Mädchen aus einem Erziehungsheim, der Mörder kann entkommen. Als Hinweis auf ihn findet man lediglich eine Papierblume. Bonny (Christiane Schröder), Billies beste Freundin im Heim, scheint mehr zu wissen. Sie bezichtigt den wohlhabenden Dr. Winkelmann (Herbert Tiede) des Mordes: Der Mann hatte ein Verhältnis mit Billie …

„Der Papierblumenmörder“ könnte man als Brynychs Vorarbeit für seinen ein Jahr später entstandenen Spielfilm OH HAPPY DAY bezeichnen: Hier wie dort widmet sich der Regisseur einer Heranwachsenden und ihren Konflikten mit den Erwachsenen, wobei er eine lineare Erzählung fast vollkommen aufgibt, seine Geschichte eher als Collage von Szenen und Momenten strukturiert, die nur bedingt auf ein Ziel zulaufen. So ergibt sich ein facettenreiches Stimmungsbild vom Generationenkonflikt in Deutschland an der Schwelle der Siebzigerjahre, das formal an vergleichbare Strategien aus Musik, Literatur und bildender Kunst zu jener Zeit erinnert. Das Banale und das Bedeutsame stehen gleichwertig und untrennbar nebeneinander, was klar scheint, wird undurchsichtig, das vermeintlich Wahre entpuppt sich bei genauerem Hinsehen bloß als seine Reflektion. Hippies sind allgegenwärtig, in einer Diskothek hängen Poster von Che Guevara, Fidel Castro und Ho Chi Minh, um der kaputten Welt zu entfliehen wird der Freitod als romantische Alternative erwogen, Thomas Fritsch spielt ein traurig dreinblickendes Blumenkind namens „Teekanne“, Harry Klein steht als Bindeglied zwischen den Konfliktparteien zwischen den Fronten und wird am Schluss von seinen Kollegen daran erinnert, wo er hingehört. Es ist schwierig, mit dem Abstand von einem Tag und nach nur einer Sichtung etwas wirklich Gehaltvolles oder gar Abschließendes über die Episode zu sagen, weil sie nicht so sehr zur Analyse einlädt, sondern einen eher überrumpelt, eine unmittelbare und emotionale Wirkung anstrebt. Es bleiben eher Bilder hängen als irgendwelche Konzepte oder „Aussagen“ und Brynych entwickelt einen unverkennbar musikalischen Rhythmus, der gleichermaßen mitreißend ist, aber eben auch die Tendenz hat, den einzelnen Ton im Rausch untergehen zu lassen. Wenn ich sagte, dass „Die Schrecklichen“, Brynychs erste KOMMISSAR-Episode, „komplett freidrehend“ sei, so lässt sich das nach „Der Papierblumenmörder“ nicht mehr aufrecht erhalten. Gegen das experimentelle Feuerwerk, das der Tscheche hier abbrennt, ist „Die Schrecklichen“ geradezu traditionell.

Ich frage mich, wie das damals aufgenommen worden ist, kann mir kaum vorstellen, dass der „normale“ Fernsehzuschauer hier noch mitgehen wollte und konnte. Wenn man bedenkt, was heute, in unserer vermeintlich so fortschrittlichen Zeit schon los ist, wenn Dominik Graf sich beim TATORT erlaubt, einmal die Regeln zu beugen. Kommentare auf einschlägigen Fanseiten sprechen eine deutliche Sprache und legen nahe, dass man Brynychs Episode entweder liebt oder ihr verständnislos gegenübersteht. Schön, dass man sich damals den Luxus solcher Freidenkerei erlaubte.

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15740895_1475856999106264_5893617189780365122_nEpisode 16: Tod einer Zeugin (Zbynek Brynych, Deutschland 1969)

Brynych macht mit „Tod einer Zeugin“ konsequent da weiter, wo er mit „Der Papierblumenmörder“ aufgehört hatte. Einziger Unterschied ist, dass es hier um einen vergleichsweise konventionellen Kriminalfall geht: Eine Prostituierte wird in ihrer Wohnung erschossen, während der Berufsverbrecher Karras (Götz George), ihr Exfreund, vor ihrer Tür steht. Keller und Co. nehmen sich Karras trotz dieses vermeintlich sicheren Alibis vor, denn er war in die Erpressung eines der Freier der Toten involviert, ein Fall, der damals nicht gelöst werden konnte.

Was unter der Regie eines anderen wahrscheinlich eine unspektakuläre Durchschnittsfolge geworden wäre, nutzt Brynych zu einer Übung in totalem Wahnsinn. Es vergeht kaum eine Minute, in der er nicht irgendeine verrückte Idee unterbringt, sei es nur eine ungewöhnliche Bildkomposition, eine bizarre Schnittfolge, das Durchbrechen der vierten Wand oder aber eine witzige Szenenimprovisation. Man weiß als Zuschauer nie, was einen als nächstes erwartet und da Brynych das Kunststück gelingt, diese Strategie auf Episodenlänge zu dehnen, entsteht der Eindruck einer halsbrecherischen Talfahrt mit kaputten Bremsen: Das eingeschlagene Tempo raubt einem beinahe den Atem, der gut gelaunte Beat von France Galls „Zwei Apfelsinen im Haar“ fungiert als gnadenloser Taktgeber. Kritiker bemängelten damals, dass „Tod einer Zeugin“ zu albern sei: Tatsächlich hat die Folge mit den gesellschaftskritischen Elementen vorangegangener Episoden nur wenig zu tun, spielt in einer ganz eigenen Welt, in der der Kommissar und seine Assistenten verzweifelt darum bemührt sind, die Ordnung wenigstens einigermaßen zu wahren, bevor alles in Scherben geht. Brynych zeigt, was im Rahmen einer solchen Serie möglich ist, denn auch wenn Gegner der Meinung sind, er habe sich hier zu weit von der Essenz entfernt, so bleiben die Figuren doch intakt. Und er bietet dem dieses Jahr verstorbenen Götz George – damals gerade 30 Jahre alt – eine große Bühne, auf der seine beträchtlichen Talente zur Schau stellen kann. Sein Karras – mal fröhlicher Hallodri, dann wieder eiskalter Halunke, im nächsten Moment schon amoklaufender Wutbolzen – ist eine echte Schau und ein wunderbares Gegenüber für Ode, Schramm, Glemnitz und Wepper, die ihm weder schauspielerisch noch charismatisch das Wasser reichen können, aber ihm dafür eine spiegelglatte Oberfläche bieten, an denen er seine Bälle abprallen lassen kann.

Resümierend gilt hier aber das Gleiche wie für „Der Papierblumenmörder“: Man sollte „Tod einer Zeugin“ vor allem gucken, anstatt darüber zu lesen oder zu schreiben.

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hyaenenEpisode 17: Parkplatz-Hyänen (Zbynek Brynych, Deutschland 1979)

Weiter im Takt, denkt der Zuschauer, der sich ob der beiden vorangegangenen Brynych-Folgen bereits auf inszenatorischen Wahnwitz eingestellt hat. Doch Brynych schlägt für „Die Parkplatz-Hyänen“ ein moderateres Tempo an – ohne dabei jedoch ganz auf seine Trademarks zu verzichten. Auf einem Parkplatz überfallen zwei Gauner einen Mann. Als der den Wagen der beiden erkennt, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihn umzubringen. Kommissar Keller und sein Team schlagen bei der Familie Boszilke auf, deren beiden Söhne Jürgen (Werner Pochath) und Karl (Fred Haltiner) dringend tatverdächtig sind, aber ein Alibi von der protektiven Mutter Lotte (Marianne Hoppe) erhalten. Keller ist wenig beeindruckt und locht die beiden Brüder dennoch ein. Als in der kommenden Nacht ein weiterer Überfall nach demselben Muster am selben Ort verübt wird, triumphiert die aggressive Mutter: Ihre Brut kann es nicht gewesen sein. Keller weiß aber, wo er zu suchen hat: Bei Gierke (Günther Neutze), einem Kneipenwirt und Freund der Boszilkes …

Kreisen Reineckers Drehbücher sonst so oft um tyrannischer Vaterfiguren, zeichnet er hier ein schauriges Matriarchat, das mich ein bisschen an Tobe Hoopers THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE erinnert hat. Das Treiben im Haus der Boszilkes ist kaum weniger bizarr, mit dem behinderten Vater (Johannes Heesters), einem ständig südamerikanische Volkslieder spielenden Immigranten und diversen anderen die ausladenden Räumlichkeiten bevölkernden Figuren. Die Familienverhältnisse werden in einer langen Sequenz zu Beginn erkundet, die „Die Parkplatz-Hyänen“ eine kammerspielartige Anmutung verleihen, die zwar im weiteren Verlauf aufgebrochen wird, aber dennoch prägend für die beengende Stimmung der Episode ist. Marianne Hoppe ist grandios als rasende Mutterfigur, die vor Hass auf die Staatsmacht beinahe zu schäumen beginnt und nicht nur die arme Frau Rehbein (Helma Seitz) schier in den Wahnsinn treibt. Ihre Liebe ist förmlich erdrückend, für ihre eigene Brut, aber auch für alle, die dieser zu nahe kommen. Mutterliebe schlägt da in furchteinflößenden Fanatismus um, dem die Hoppe mit fiebrig glänzenden Augen und sich überschlagender Stimme einen fratzenhaft verzerrtes Gesicht gibt. In einer großen Szene belauern Keller und Kollegen den nichts ahnenden Gierke, der hinter seinem Tresen das berühmt-berüchtigte Neutze-Gesicht macht – und, wenn mich nicht alles täuscht, in der ganzen Folge kein einziges Wort sagt. Dabei lauschen sie immer und immer wieder dem Tom-Jones-Hit „Ghost Riders in the Sky“, dessen Western-Anleihen einen schönen Kontrast zu bundesdeutschen Dumpfheit darstellen. Humor gibt es auch, sogar selbstreferenziellen: Als Grabert sich für seine Ermittlungen als stotternder Handlungsreisender ausgibt, bemerkt Heines, dass er den Stotterer zuletzt „im Fall Brynych“ gespeilt hätte. Michel Jacot, der später mit LASS JUCKEN, KUMPEL zu Ruhm und Ehre gelangte, agiert unter dem Namen „Michael Jakubek“ als dritte Hyäne, aber das habe ich jetzt nicht verraten.

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beate2Episode 046: Kaffee mit Beate (Alfred Vohrer, 1978)

Die Schauspielerinnen Beate (Helga Anders) und ihre Freundin Helga (Johanna Elbauer) warten auf ein Vorsprechen. Helga ist nervös, also gibt Beate ihr eine Cognacbohne: Wenig später bricht Helga tot zusammen. Die Cognacbohnen waren vergiftet. Um den Mörder zu finden, wird Harry im Haus Beates eingeschleust. Sie lebt als einer von vier Untermietern in der Wohnung von Frau Pacha (Agnes Fink). Alle sind potenzielle Täter.

„Kaffee mit Beate“ ist aus mehreren Gründen ein weiterer Gewinner von DERRICK-Regisseur Alfred Vohrer. Zunächst einmal weicht die Folge strukturell vom Standard ab: Derrick selbst hat nur eine kleine Rolle und tritt kaum aktiv in Erscheinung, fast der ganze Fall spielt sich in der Wohngemeinschaft ab, in der Harry verdeckt ermittelt. Das sorgt schon für eine gewisse zusätzliche Aufmerksamkeit, aber bei mir hat „Kaffee mit Beate“ vor allem aus anderen Gründen gepunktet. Schon im Titel kommt dieser deutsche Kitschroman-Schmelz zum Vorschein, der wie immer bei DERRICK mit einer Extradosis Tristesse und Verzicht verabreicht wird. Der Name „Beate“ wird wohl dutzende Male ausgesprochen und damit zum Mantra der Episode, die Trägerin des Namens zur sexuellen Wunschfantasie und Heilsbringerin hochstilisiert, was naturgemäß in krassem Missverhältnis zur etwas anämischen Trägerin und der angestaubten Altherren-Fernsehrerotik steht, die sie verkörpert. (Man erkennt Helga Anders, die schmollmündige Versucherin aus MÄDCHEN MIT GEWALT, kaum wieder.) Alle Männer der WG – Peter Pasetti als geschiedener Supermarkt-Leiter Serball, Christian Quadflieg als jungdynamischer Architekt Herwig, Klaus Herm als nerdiger Lektor Pacha – sind geil auf die freundliche Beate, die gar nicht weiß, wie ihr geschieht, geradezu besessen von ihr und der Vorstellung, von ihr empfangen zu werden, und das Innuendo, mit dem sie davon sprechen, Kaffee mit ihr getrunken oder gar ein mexikanisches Gericht von ihr gekocht bekommen zu haben – ein scharfes selbstredend! -, lässt Bilder im Kopf des Betrachters entstehen, die die tatsächlichen Ereignisse der Episode niemals rechtfertigen. Aber genau darum geht es eben: Um die wüsten Fantasien geiler Böcke, die in der Nähe eine jungen Frau und der milden Versuchung, die sie repräsentiert, völlig den Kopf verlieren. Harrys mehrfach gestellte Frage, ob sein Gegenüber mit der jungen Frau „geschlafen habe“, wird in ihrer ehrlichen Direktheit hingegen stets als unverschämt abgewiesen: Mit Beate schläft man nicht! Und dann der Clou mit den Cognacbohnen, dem Aufputschmittel ergrauter Mauerblümchen. Da macht es auch nichts, dass die Auflösung reichlich überstürzt daherkommt und nach so viel aufgestauter Lust eine kleine Enttäuschung ist.

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hotte2Episode 047: Solo für Margarete (Michael Braun, 1978)

Die Folge, in der der 45-jährige Horst Buchholz den aufstrebenden (aber heroinabhängigen) Musikstar, Gitarrengott und Frauenschwarm Alexis gibt, der die Gitarrensoli, die die einzige Daseinsberechtigung seines sterilen Bluesrock-meets-Disco-Sounds sind, mit geilen Gniedelgesichtern garniert. Ansonsten benimmt er sich wahlweise wie ein verwöhntes Kleinkind, das die Eltern mit Psychomethoden zum Kauf eines Spielzeugs bewegen will, oder wie ein verzärtelter Künstler auf dem endlosen Egotrip. Weiße Cowboystiefel über der Jeans, das darf sowieso nur Lemmy. Aber natürlich ist das auch alles wieder ganz geil: Diese Vorstellung vom Musicbiz etwa, wo ein Mittvierziger, der eine Woche lang vor ca. 50 Leuten in einem kleinen Kellerclub auftritt, the next big thing sein soll, eine Band zusammen in einer WG haust und das Heroin aus einer Apothekenampulle in die Spritze gezogen wird. Seitdem Erik Ode als Kommissar Keller einen Marichuana-Süchtigen fragte, ob er das Zeug esse oder trinke, hat sich in Sachen Aufklärung um Reinecker offensichtlich nicht viel getan. Und natürlich dieser melodramatische Schmelz: In der zweiten Hälfte taucht die Zwillingsschwester der Toten auf, um Alexis – in einer Wendung, die an Episode 2, „Johanna“, erinnert – zu konfrontieren und verliebt sich prompt in ihn – und er in sie. Reineckers Drehbuch behandelt diese doch eher pathologisch anmutende Gefühlsverwirrung als mystisches Happy End, gewissermaßen als verspätete VERTIGO-Verwirklichung. Nur eben mit Drogen und schmieriger Musik.

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Episode 048: Lissas Vater (Alfred Vohrer, 1978)

Mittelstarke Standardepisode von Vohrer, bei der man das Gefühl hat, dass man Vergleichbares ca. alle zehn Folgen einmal untergeschoben bekommt. Die Schauspieler und die Profiroutine reißen es raus. Heinz Bennent ist Ludwig Heimer, der seiner Ex-Frau Elsa (Christine Wodetzky) nachstellt, die ihn wegen seiner Alkoholsucht mitsamt Töchterchen Lissa (Anne Bennent) verlassen hat und nun mit dem unsympathischen Geschäftsmann Hassler (Ulrich Haupt) verheiratet ist. Seine aufdringlich-unbeholfenen Versuche, sich ihr zu nähern, werden von ihr überaus bestimmt abgeschmettert, weshalb er sich zu einer Morddrohung hinreißen lässt. Als ein Assistent Hasslers beim Verlassen von dessen Haus niedergeschossen wird, scheint alles klar. Ist es aber natürlich nicht. Helen Vita hat einen Auftritt als mitfühlende, ketchuprothaarige Vermieterin Heimers, den Haupt, den finde ich immer wieder gut, und Bennent ist als Häufchen Elend ebenfalls klasse. Aber ansonsten gibt es nicht viel zu berichten. Vohrer jedenfalls bekommt kaum Gelegenheit, zu zeigen, was er kann.

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spitzel3Episode 049: Der Spitzel (Zbynek Brynych, 1978)

Ein verdeckter Ermittler wird beim Einbruch in ein Antiquitätengeschäft erschossen: Er hatte den einschlägig bekannten Berufskriminellen Georg Lukas (Götz George) beschattet und war ihm gefolgt. Derrick und Klein werden bei ihren Ermittlungen an den Spitzel Henze (Klaus Behrendt) verwiesen, der seltsam nervös auf die Beamten reagiert. Er lebt zur Untermiete bei einer Ex-Prostituierten Doris (Kai Fischer) und ihrem gewalttätigen Freund Rosse (Ulli Kinalzik) und kümmert sich rührend um ihre jugendliche Tochter Inga (Ute Willing). Ein weiterer Tatverdächtiger ist der Schießstandbesitzer Burkhardt (Stefan Behrens) und der ist wiederum mit Maria Singer (Kornelia Boje) liiert, der Tochter des Antiquitätenhändlers …

Brynych inszeniert sehr zurückgenommen (verwendet dafür aber Boney Ms. „Rivers of Babylon“ als seinen „Refrain“): Wahrscheinlich, weil die Storyline vergleichsweise komplex ist. Anders als andere DERRICK-Folgen, in denen es um „heißgelaufene“ Mörder geht, also um Amateure, die in einem Moment der Schwäche zu Verbrechern werden, spielt „Der Spitzel“ im Milieu: Alle Charaktere haben eine einschlägige Vorgeschichte und sind gute Bekannte der Polizei. George interpretiert seinen Lukas als brutalen, aber gewieften Gewalttäter, Behrendt den diesem diametral gegenüberstehenden Henze als mitleiderregenden, gutmütigen Pechvogel, der seine Wurzeln nicht kappen kann. Die Beziehung zu Inga, die er zur Basketballspielerin machen und sie so ihrer tristen Umgebung entreißen will, ist eigentlich das Herz der Episode, krankt aber daran, dass Ute Willing einen Hauch zu alt für die Rolle des hilflosen Töchterleins ist: Szenen wie die, in der Henze ihr nach dem Besuch eines Disney-Films erklärt, wie Zeichentrickfilme gemacht werden, wirken unfreiwillig komisch und seine Philantropie bekommt unweigerlich eine sexuelle Komponente, die das Drehbuch aber logischerweise nie thematisiert. Es gibt ein paar schöne Bilder, die Szene, in der Derrick in bester Dirty-Harry-Manier mit Pokerface seine Schießkünste unter Beweis stelllt, ist wunderbar badass, und George zieht die Aufmerksamkeit des Zuschauers mit jedem seiner Auftritte auf sich wie ein Magnet. Man sieht hier (und in seinen KOMMISSAR-Folgen), was für ein außergewöhnlicher Darsteller er war. Seltsam, dass er nie den Sprung über den großen Teich versucht hat.

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Episode 050: Die verlorenen Sekunden (Alfred Vohrer, 1978)

Frau Leubel (Elfriede Kuzmany), eine Schneiderin, überrascht bei einem Botengang einen Mörder bei der Arbeit. Bevor er sich auch ihrer entledigen kann, wird er durch die Ankunft der Polizei in die Flucht geschlagen. Die alte Dame steht unter Schock, kann sich nicht an den Täter erinnern, obwohl sie ihn auf frischer Tat ertappt hat. Das Opfer, Frau Kwien, war erst vor kurzem von ihrem Mann (Hans Korte) geschieden worden: Das gemeinsame Geschäft fällt durch ihren Tod an ihn …

Eine durchschnittliche Folge, der auch Alfred Vohrer nichts abringen kann. Hans Korte ist gut als unsympathischer Geschäftsmann, Herbert Herrmann, der Filou des deutschen Fernsehens der Achtzigerjahre, ist in einer Nebenrolle als verdächtiger Harro Brückner zu sehen, Maria Sebaldt als vornehme Modedesignerin und der schöne Michael Maien als Mörder. Der Plot dreht sich um die im Titel angesprochenen „verlorenen Sekunden“ in der Erinnerung der Zeugin: Der Mörder hat natürlich ein Interesse daran, dass sie ihr Gedächtnis nicht wiedergewinnt, aber wirklich in Gefahr gerät sie nie. Im Gedächtnis des Zuschauers hingegen bleiben der stets besoffene Ehemann (Uwe Dallmeier) der Frau Leubel, ein willenlos schlaffer Sack, den Herbert Reinecker als Krückstock benötigte, und Harros nett gemeinte, aber unglaublich herablassende Aussage, Frau Leubel sei „ein armes Huhn“, und einem von Derricks meist großartigen Ausflügen in eine Diskothek. Selbst die Unschuldigen sind bei DERRICK fast immer Arschgeigen.

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uteEpisode 051: Ute und Manuela (Helmuth Ashley, 1978)

Ein junger Mann wird in einem Parkhaus erschossen, nachdem er in der Diskothek „East Side“ eine flotte Sohle aufs Parkett gelegt hat. Unbedingt tatverdächtig ist seine Freundin Manuela (Monika Baumgartner): Nicht nur hatte er sie am selben Abend übel zusammengeschlagen, der Wirt will sie als die Anruferin identifiziert haben, die den Toten ins Parkhaus beorderte. Ein Alibi bekommt Manuela von der Sozialarbeiterin Ute (Cornelia Froboess), die alles dafür tut, die aus schwierigen Verhältnissen kommende Manuela zu beschützen.

Auch dies ist eher Durchschnittskost: Der Fall ist nur wenig aufregend, es fehlen die Details in der Beobachtung, die die Serie in ihren besten Momenten auszeichnen, und bedingt durch das Sujet auch dieser bürgerliche Mief, der aus heutiger Sicht so faszinierend und abgründig ist. Aber die Ute ist eine großartige Figur: Cornelia Froboess legt in ihrem Spiel einen geradezu inbrünstigen Eifer an den Tag, der ihre Sozialarbeiterin noch unangenehmer macht, als es das Drehbuch eh schon vorsieht. Mit ihrer Riesenbrille, dem Kleinmädchenpony und dem abgehärmten Verzichtergesicht gibt sie eine Missionarin der Gerechtigkeit, die für Abweichler vom Pfad der Tugend keinerlei Empathie übrig hat. Wie bei „Der Spitzel“ gibt es hier einen deutlich sexuellen Unterton, der aber nie explizit aufgegriffen wird, was zu Utes selbstvergessenem Engagement natürlich passt wie die Faus aufs Auge. Die Rückblende mit der geschundenen Manuela ist ungewohnt schmerzhaft, der Schlusskniff am Ende, wenn wir Ute zum ersten Mal ohne Brille sehen, einer jener genialen Einfälle, für die man DERRICK schätzt. Dafür ist Martin Semmelrogge als Manuelas Bruder total verschenkt. (Gisela Uhlen ist als Utes Mutter zu sehen.) In der Diskothek läuft „Let’s All Chant“ von der Michael Zager Band.

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Episode 052: Abitur (Theodor Grädler, 1978)

Ein Slow-Burner, der wie die vorangegangene Episode mit einer tollen Schlusseinstellung aufwartet und darüber hinaus eher ungewöhnlich strukturiert ist. Eigentlich geht es in „Abitur“ um zwei Fälle und der Mord ist eher nebensächlich: Trauerkloß Robert (Michael Wittenborn) steht vor dem Abitur, dass er unbedingt mit gutem Notendurchschnitt bestehen muss, um fürs Medizinstudium zugelassen zu werden, schließlich soll er das Geschäft des herzkranken Arztpapas (Hans Quest) übernehmen. Leider ist er unglaublich wankelmütig und unsicher und die Versuche seiner Schwester Lisa (Agnes Dünneisen), seinen Nachhilfelehrer (Peter Dirschauer) zur Manipulation zu überreden, scheitern an dessen Rechtschaffenheit. Bis er eines Abends einen jungen Mann anfährt und Fahrerflucht begeht: Nun hat Lisa ein geeignetes Druckmittel gegen ihn in der Hand. Was sie nicht weiß: Das Unfallopfer starb nicht an den Folgen des Unfalls, sondern wurde anschließend erschlagen …

Das Discofieber, das sich in den vorangegangenen Episoden schon ankündigte, ist hier nun auf dem Siedepunkt. Im „Yellow River“, einem holzvertäfelten Albtraum im Partykeller-Style laufen „Miss you“ von den Rolling Stones, „More than a woman“ von Tavares, „I can’t stand the rain“ von Eruption und die unvermeidlichen Hot Chocolate, während Klein mit Lisa eine flotte Sohle aufs Parkett legt. Die ist einer dieser eiskalten, intriganten Schönen, die Herbert Reinecker sich regelmäßig ausdenkt und ihnen dann einen besonders waschlappigen Typen gegenüberstellt. Hier sind es mit ihrem Bruder und dem Lehrer sogar gleich zwei. Die Erpresserin und ihr Bruder kommen (wahrscheinlich) ungeschoren davon, weil der Fall für Derrick mit der Festnahme des Mörders erledigt ist, aber die Schlusseinstellung suggeriert das Fegefeuer des schlechten Gewissens – und außerdem, dass alle illegalen Bemühungen letztlich umsonst waren. Fies.

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Die bis heute lebendige deutsche Fernsehkrimi-Tradition begann nicht erst mit DER KOMMISSAR. Schon vorher hatte es verschiedene Formate gegeben, von denen die von Jürgen Roland und Wolfgang Menger erdachte Serie STAHLNETZ möglicherweise die bekannteste war. Und Erik Ode, der in DER KOMMISSAR den Titelhelden Keller spielte, war zuvor schon einige Male in DAS KRIMINALMUSEUM zu sehen gewesen, der ersten vom ZDF produzierten Krimiserie. Wohl aber begann mit DER KOMMISSAR die Tradition der starken Ermittlerfiguren und, wenn man den TV-Historikern glauben mag, der Psychologisierung. Keller folgten der ebenfalls von Herbert Reinecker erdachte Stephan Derrick, Erwin Köster und seine Nachfolger in DER ALTE, aber auch die ARD-Produktion TATORT mit ihren wechselnden Ermittlern sowie Dutzende weiterer Kriminalbeamten und Detektive mit ihren Formaten, aber nur wenige von ihnen brannten sich als Figur so stark ein ins kollektive deutsche Gedächtnis wie Odes Keller, der Übervater der deutschen Nachkriegsgeneration, der Gerechtigkeit brachte, aber immer auch Verständnis für die Umstände, die ganz normale Menschen zu Mördern machte.

Während Stephan Derrick fünf Jahre später wie ein vom Staat geschickter Racheengel mit unnachgiebigem Ehrgeiz und dem Furor des Gerechten über die kleinen Sünder kam, da interpretierte Ode seinen Keller als freundlich-salomonischen Hirten, der dafür sorgte, dass seiner Herde kein Schaden wiederfuhr. Mit seinen Assistenten Grabert (Günther Schramm), Heines (Reinhard Glemnitz) und Klein (Fritz Wepper) verband ihn eine ebenson väterliche Beziehung, die Gattin, die ihm in einigen frühen Folgen Medizin ans Krankenbett brachte, das Essen zubereitete und ihm ein offenes Ohr schenkte, konnte bald weichen, weil dieser Keller sein Privatleben für die Bundesrepubik geopfert hatte und in seinem nach Linoleum duftenden Büro alles hatte, was er brauchte. Sein Berufsalltag mit den folgsam-fleißigen Assistenten erinnert ein bisschen an die frauenlose Heiterkeit der Cartwrights auf der Ponderosa. Man lacht gemeinsam, erfreut sich an der eigenen Gerissenheit, sagt zu Tabak und Alkohol niemals nein, weil das der Treibstoff ist, der nimmermüde Staatsdiener am Laufen hält. Frauen wie die alte Vorzimmerdame Rehbein (Helma Seitz) sind entweder zum Kaffeekochen da oder, im Falle der Polizistin Helga Lauer (Emely Reuer) bloßes Eye Candy für den Zuschauer, damit der nicht am Testosteronüberschuss verendet.

Die ersten Folgen – die meisten der in diesem Text enthaltenen – folgen einer zunächst fest gefügten Struktur. Die Episoden beginnen mit dem Fund einer Leiche. Danach fangen die Ermittlungen von Keller und seinen Männern an, die das Feld der Verdächtigen sondieren, bevor am Ende alle in einem Raum versammelt werden, in dem Keller im Stile alter Meisterdetektive den Mörder enttarnt. Der Ton ist heiterer und ausgelassener als bei DERRICK, weniger schadenfoh und zynisch, und das Schwarzweiß der Serie auch sonst programmatisch: Gut und Böse sind ziemlich klar auseinanderzuhalten, während es bei DERRICK in unzähligen Schattierungen von Braun, Beige, Grau und Grün ineinanderfließt.

Episode 01: Toter Herr im Regen (Wolfgang Becker, Deutschland 1969)

Ein wohlhabender Mann wird tot im Rinnstein einer schlechten Münchener Gegend aufgefunden. Bei den Ermittlungen finden Keller und Co. hinaus, dass es um Dr. Steiner handelt, einen Mann, der bei seinen erwachsenen Kindern verhasst ist und seiner Geliebten immer wieder mit sadistischen Streichen zusetzte. Im Haus, vor dem er ermordet wurde, lebt ein Teenagermädchen, mit der er seine Partnerin betrog. Eines von vielen Beispielen für Reineckers Drehbücher um hassenswerte Vaterfiguren. Eine Tradition, die im KOMMISSAR und auch in DERRICK weiterleben wird.

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Episode 02: Das Messer im Geldschrank (Wolfgang Becker, Deutschland 1969)

Die Putzfrau findet beim Saubermachen in einem Nachtclub ein totes Animiermädchen. Wer war ihr Mörder? Der Clubbesitzer Brandic (Lukas Ammann), der nur am Geld interessiert ist, sein gutaussehender, aber vorbestrafter Bruder Juri (Michael Maien), der Kellner Sommer (Wolfgang Völz), der sich mit seinem kargen Gehalt einen teuren Sportwagen leisten kann, der mysteriöse Pianist Benitz (Herbert Bötticher) oder die Mitbewohnerin und Kollegin des Opfers, die blonde Schöne Marion (Ann Smyrner)? Höhepunkt der Episode ist ein Spaziergang Kellers mit der jungen Blondine, der in den frühen Morgenstunden bei einem Schnäpschen in ihrem Appartement endet. Kellers melancholischer Blick scheint die romantischen Möglichkeiten, die sich bieten, zu spiegeln, aber natürlich bleibt er standhaft. Und scharfsinnig.

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Episode 03: Ratten der Großstadt (Wolfgang Becker, Deutschland 1969)

Der Wirt einer Pinte am Großmarkt wird tot aufgefunden. Zu den Verdächtigen zählt die Bande um Krass (Horst Frank): Der Säufer Bender (Gerd Baltus), Palle (Fred Haltiner), Krüger (Klaus Schwarzkopf) und der etwas irre Mozart (Werner Pochath) gingen in der Bierschwemme ein und aus. Grabert wird als Ex-Knacki in der Gang eingeschleust, um etwas herauszufinden. Irgendwann redet Bender und belastet Mozart. Doch Keller glaubt nicht an die Schuld des armen Tropfs. Baltus ist grandios als versoffener Asi Bender, Pochath brilliert in einer seiner vielen Außenseiterrollen. Wie ein Kind stolziert er in Badehose durch das Wasser der Isar, seine Kumpels wie ein Kind den Papa immer wieder um Aufmerksamkeit anbettelnd.

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Episode 04: Die Tote im Dornbusch (Georg Tressler, Deutschland 1969)

Diesmal führen die Mordermittlungen Keller und Co. in eine Raststätte: Die Gattin des Besitzers Panofsky (Paul Albert Krumm) wurde tot aufgefunden, an der Autobahn entsorgt von dem Lkw-Fahrer Wiegand (Arthur Brauss). Die Tote war nach etlichen Zeugenaussagen von loser Moral und unterhielt vor den Augen ihres Mannes zahllose Liebschaften. War es Mord aus Eifersucht? Lust und offen ausgelebte Sexualität sind Mysterien, die Keller und seine Männer, aber auch die gesamte deutsche Gesellschaft noch nicht wirklich verstehen. Es brodelt unter der Oberfläche, die mit der Extraportion Bleiche und Stärke blütenweiß und faltenfrei gehalten wird wie ein Leichentuch.

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Episode 05: Ein Mädchen meldet sich nicht mehr (Theodor Grädler, Deutschland 1969)

Es verschlägt Keller und Assistenten ins Studentenumfeld und die Drogenszene. Die Tote verkehrte in einschlägigen Lokalen – u. a. im Etablissment von Proschitz (Günther Ungeheuer) – und wollte ihren Freund Tanieff (Peter Chatel) vom Marihuana wegbringen, dem dieser rettungslos verfallen war. Die Episode ist ein einziges Absurdion, von Kellers Aussage „Die Intoxikation ist unverkennbar!“, als er einem Marihuana-„Süchtigen“ in die Augen schaut, über die Frage, ob Tanieff sein „Marichuana“ trinke oder esse, bis hin zur Vorführung eines Joints: einer kleinen Zigarette mit einer weißen Kapsel drin. Wer kifft, der ist nicht mehr zurechnungsfähig, ein armer Tropf, der orientierungslos in der Welt herumirrt, bösen Drogenhändlern für immer ausgeliefert. Und „Reefers“ (was ein bisschen wie „Reval“ klingt) kauft man natürlich auf dem Klo vom dubiosen Rudolf Schündler. Die Frage, die sich unweigerlich stellt: Hatte Reneicker wirklich keine Ahnung oder wollte er sein Publikum trollen? Besonders komisch ist die Merkbefreitheit der Tugendwächter, die über den Drogenabgrund schwadronieren, aber in einer Tour Cognac und Bier in sich hineinschütten und in einem Büro hocken, dessen Luft man schneiden kann.

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Episode 06: Die Pistole im Park (Wolfgang Becker, Deutschland 1969)

Auf dem ausladenden Grundstück des reichen Geschäftsmannes Wegener (Peter van Eyck) wird dessen junger Gärtner erschossen – kurz nachdem jemand versucht hat, Wegener zu erpressen. Alle verhalten sich überaus merkwürdig, nicht zuletzt die Sekretärin Wegeners, die attraktive Hannelore Krems (Marianne Koch). Nur die Küchenfrau Frau Hicks (Rose Reneé Roth) zeigt so etwas wie ein Gewissen und vertraut sich Heines an, der für die Ermittlung in der Villa bleibt. Eine eher unaufregende Episode, aber die Koch ist supersexy und van Eyck thront mit gewohnt preußischer Souveränität über allem.

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Episode 07: Keiner hörte den Schuss (Wolfgang Becker, Deutschland 1969)

Das Opfer ist diesmal ein Mann, der Rohdiamanten für den Juwelier de Croy (Wolf Rilla) transportieren sollte. Seine Ehefrau, das Modell Eva Kersky (Erika Pluhar) ist erstaunlich ungerührt ob der Todesnachricht. Was den Vater des Toten, den im Rollstuhl sitzenden Ernst Fritz Fürbringer, der die Schwiegertochter über alles hasst, überhaupt nicht wundert. Ist sie die Mörderin? Aber auch andere bieten sich als Tatverdächtige an, etwa der Vorbestrafte Blago (Michael Hinz), der von den Diamanten wusste. Highlight ist die bizarre Modenschau eines schwulen Designers, bei der auch Amanda Lear als Model mitwirkt. Und Erika Pluhar ist unfassbar sexy. Wie sie am Schluss nach der Enttarnung des Mörders kommentarlos  abzieht und die feine Patriarchengesellschaft keines Blickes mehr würdigt, ist unfassbar cool. Das muss sogar Keller würdigen, der liebe Onkel.

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Episode 08: Der Tod fährt 1. Klasse (Wolfgang Becker, Deutschland 1969)

Zum ersten Mal wird das Konzept gewandelt. Die Jagd nach einem Frauenmörder, der immer freitags im Zug von Dortmund nach München zuschlägt, gestaltet sich im Showdown überaus fiebrig. Grabert, Heines und Klein kämpfen an der Front, mit der langbeinigen Kollegin Lauer als Köder für die Bestie, aber es ist Keller, der die Identität des Killers aus der Distanz enttarnt. Beste Folge bis hierhin, mit toller Kameraarbeit im klaustrophobischen Finale, in dem geschickt mit Unschärfen gespielt wird. Und es gibt wieder einmal eine dysfunktionale Vater-Sohn-Beziehung. Deutschland nach dem Krieg. Die Papas kannten sich mit dem Vertuschen von dunklen Geheimnissen gut aus, die Söhne waren nur noch angeekelt.

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Episode 09: Geld von toten Kassierern (Georg Tressler, Deutschland 1969)

Bei einem Banküberfall wird der Direktor erschossen. Der Verdacht fällt sofort auf Kranz (Siegfried Lowitz), den Keller einst in den Bau brachte. Der ist erbost: Nie hatte er jemanden umgebracht. Die nächsten Banküberfälle folgen, immer auf Geldinstitute, die auf Kranz‘ einstiger Wunschliste standen. Wie schon in der DERRICK-Folge „Stiftungsfest“ beeindruckt Lowitz mit Berliner Schnauze als ehrenhafter Bankräuber. Die Szenen in seiner heruntergekommenen Wohnung, in der er seiner Minirock-tragenden Tochter Moralpredigten hält, bleiben im Gedächtnis, der Fall selbst ist nicht ganz so spannend.

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Episode 10: Schrei vor dem Fenster (Dietrich Haugk, Deutschland 1969)

Der Ehemann der Schauspielerin Irene Pauli (Maria Schell) wird erschossen aufgefunden. Der Hausmeister sieht noch den Sohn Berthold mit einer Waffe in der Hand wegrennen. Es entbrennt eine Jagd auf den Flüchtigen Mordverdächtigen, während die Pauli Keller und seine Männer verzweifelt von der Unschuld ihres Jungen überzeugen will. Für den Toten – einen Tyrann, den offensichtlich jeder hasste – interessiert sich hingegen kaum jemand. Das kennt man inzwischen. Die Folge, die in einer einzigen Nacht spielt und mit einer tollen handgehaltenen Einstellung beginnt, ist trotzdem eine der stärksten der ersten 10.

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Episode 042: Abendfrieden (Helmut Ashley, 1978)

Nach Episode 033, „Offene Rechnung“ verschlägt es Derrick und Klein für ihre Ermittlungen erneut in ein Seniorenheim. Der Großneffe einer Bewohnerin ist vor einer Weinstube überfahren worden, nachdem er von einem unbekannten Anrufer dort hinbestellt wurde. Eigentlich wollte er seiner Großtante die Nachricht einer Erbschaft überbringen, doch die beiden resoluten Heimleiterinnen, Helene (Inge Birkmann) und Margarete Schübel (Alice Treff) hatten ihn auf merkwürdige Art und Weise abgewimmelt. Das Aufeinandertreffen des Mannes mit den beiden Damen ist das Highlight dieser Episode, könnte fast aus einem Pete-Walker- oder einem französischen Horrorfilm der Siebzigerjahre stammen. Man weiß, dass die beiden Frauen ein Geheimnis haben, dass sich hinter ihrem freundlichen Tantenlächeln ein dunkles Geheimnis verbirgt sowie die grimme Entschlossenheit, dieses Geheimnis um jeden Preis zu wahren. Und so ist es ja dann auch. Die Auflösung ist nicht übermäßig überraschend, aber insofern interessant, dass hier zwei separate Fälle schicksalhaft zusammentreffen. Dem Sujet angemessen eher bedächtig erzählt, aber recht atmosphärisch: Zum Finale gibt es ein schwer melancholisches Violinenkonzert einer vornehm blassen Schönheit (Dietlinde Turban), während Derrick im Nebenraum wie einst Hercule Poirot die Verdächtigen versammelt.

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Bildschirmfoto 2015-04-03 um 15.54.55Episode 043: Ein Hinterhalt (Alfred Vohrer, Deutschland 1978)

Auf einer Landstraße verunglückt ein Autofahrer, weil jemand einen Baumstamm auf die Fahrbahn gezerrt hat. Da der Wagen der Ärztin Dr. Schwenn (Ruth Leuwerik) gehörte, vermuten Derrick und Klein, dass es sich um einen fehlgeschlagenen Mordanschlag handelt und die Frau immer noch in Lebensgefahr schwebt. Der Kriminalfall gestaltet sich eher als dröge, doch was diese Episode Vohrers über den Durchschnitt hebt, sind die Figuren der Ärztin Schwenn und ihres Neffen Bruno (Hans Georg Panczak). Sie ist eine irgendwie freudlose Person, nicht offen unsympathisch, aber auf so eine seriöse Art und Weise nondeskript, das niemand sie leiden mag, was ihre neutrale Haltung nur noch weiter bestärkt. Auch ihr Neffe macht keinen Hehl daraus, dass er nicht viel von ihr hält, sich nach eigener Aussage nichts in ihm gerührt hätte, wäre sie bei dem Anschlag ums Leben gekommen. Die Dialoge zwischen diesen beiden sind Dreh- und Angelpunkt der Folge, weil Vohrer die Spannung vor allem aus der Frage bezieht, ob Bruno der Attentäter war und ob er einen zweiten Versuch unternehmen wird. Auch die Ärztin wird ob seiner offen zur Schau gestellten Härte immer ängstlicher, seine Schadenfreude, seine sonst immer so sichere Tante nun zittern zu sehen, treibt ihn noch mehr an. Am Ende kommt alles ganz anders und „Ein Hinterhalt“ endet mit einer menschlichen Geste, die man in dieser Gefrierschrank-Episode ebenso wenig erwartet hat, wie Hansi „Pepe Nietnagel“ Kraus als bayerischen Bauernsohn mit Seppelhut und Schnurrbart.

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Episode 044: Steins Tochter (Wolfgang Becker, Deutschland 1978)

Eine eher unaufregende Episode, aber mit einer tolle Szene zu Beginn, die hängenbleibt. Wenn Cosima Stein (Katerina Jacob, später als Assistentin des „Bullen von Tölz“ zu TV-Prominenz gelangt) zu den Klängen der Santa-Esmeralda-Version des Klassikers „Don’t let me be misunderstood“ aus dem Sportwagen ihres Freundes springt, um im Münchener Nachtlicht zu tanzen, ist das einer der Momente, für die man diese deutschen Siebzigerjahre-Krimis ins Herz geschlossen hat. Auch danach wird es eigentlich immer toll, wenn Cosimas blasses, tränenüberströmtes Gesicht ins Bild gerückt wird, sie apathisch zwischen ihren Singles auf dem Boden ihres Schülerinnen-Zimmers hockt. Demgegenüber sind die Szenen um ihren Verehrer Betzky (Markus Boysen) ein bisschen anstrengend, weil der Schauspieler und Reineckers gewohnt gespreizte Dialoge keine so gute Mischung ergeben. Und Cosimas Papa, der Lehrer Stein (Thomas Holtzmann) ist einer dieser Hardcore-Spießer, die sogar töten würden, um ihre Brut vor dem Absturz ins moralische Verderben zu schützen. Die winterliche Atmosphäre ist ganz hübsch, aber sonst gibt es hier einfach zu wenig, was das Interesse wirklich wachhielte. Außer Cosimas Tanz natürlich.

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Episode 45: Klavierkonzert (Helmuth Ashley, Deutschland 1978)

Eine lustige Koinzidenz: In der zuletzt gesehenen DER KOMMISSAR-Episode „Keiner hörte den Schuss“ (Regie: Wolfgang Becker) spielte Peter Fricke den Mörder. Hier nun ist er der, den alle für den Mörder halten – und halten sollen. Er spielt den berühmten Pianisten Robert van Doom (großartiger Name!), der in einer Ehe mit der älteren Luisa van Doom (Maria Schell) gefangen ist, die ihm die Karriere mit ihrem Geld überhaupt erst ermöglichte. Jeder weiß, dass Robert eine junge Tänzerin (Iris Berben) als Geliebte hat und seine Ehe mehr als zerrüttet ist: Er will sich scheiden lassen, sie ihn nicht freigeben, schließlich hat sie in ihn „investiert“. Als die Haushälterin der van Dooms während eines von Roberts Konzerten erschossen wird – in einer offensichtlichen Verwechslung, denn es sollte Luisa treffen -, deutet alles darauf hin, dass der Musiker der Auftraggeber ist. Vor allem Luisa ist davon überzeugt und fest dazu entschlossen, ihn fertigzumachen …

„Klavierkonzert“ ist thematisch wieder überaus typisch: Es geht um die Dekadenz des Großbürgertums einerseits, um dessen Unfähigkeit, emotional-menschliche Probleme anders zu lösen als durch das Ausspielen von Macht andererseit. Helmuth Ashley, dem Sleaze nicht abhold, suhlt sich in einer Inszenierung, die die barocken Geschmacklosigkeiten und die Kälte eines leeren Wohlstands mit Genuss in den Fokus rückt. Das Haus der van Dooms ist ein Albtraum aus tannengrünen Tapeten, schweren Samtvorhängen und gebrauchsfeindlichen Antiquitäten. Der Pianist selbst ist ein zitternder Feigling, seine Frau – die Mutter der Nation, Maria Schell – ein herrisches Biest, alle Freunde und Verwandte sehen entweder tatenlos zu, versuchen den Konflikt aus eigenem Interesse kleinzuhalten oder befeuern ihn noch. Sky DuMont gibt den wunderbar blasierten Assistenten von van Dooms Agent Ostrow (Eric Pohlmann), Jutta Speidel die hilfsbereite Nichte der toten Haushelferin. Ashley gelingt das Kunststück, dass man fast jeden mal für den potenziellen Täter hält und eigentlich alle Personen gleichermaßen widerlich findet. Und irgendwie findet er dann auch noch die Gelegenheit, Derrick und Klein in einer McDonalds-Filiale einen Hamburger mampfen zu lassen.

Ich habe in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht, was diese deutschen Krimiserien auszeichnet, woher die Faszination kommt, die sie auf mich (und andere) heute ausüben. Für einen Spätgeborenen wie mich steckt natürlich nicht zuletzt der Reiz dahinter, in eine bundesrepublikanische Realität blicken zu können, die ich nur noch am Rande mitbekommen habe (1978 war ich zwei Jahre alt). Mit dem Abstand der Jahrzehnte zeigt sich einem da eine Welt, die seit dem zweiten Weltkrieg zwar zwei bis drei volle Jahrzehnte hinter sich gebracht, die Spätfolgen aber keinesfalls verarbeitet hat. Es zeigt sich da eine Welt, wo fast jeder eine Leiche im Keller hat – oder aber durch den geringsten Anstoß überaus bereitwillig zum Mörder wird. Und wo es immer wieder die Väter sind, die Unheil über ihre Kinder, Ehefrauen, Familien bringen. Da ist es durchaus als programmatisch zu verstehen, dass im Zentrum sowohl von DER KOMMISSAR als auch von DERRICK Väterfiguren ohne Familien stehen. (Interessant, wie bei beiden Figuren zu Beginn versucht wurde, sie durch Ehefrau und Geliebte zu vermenschlichen, die Idee bei beiden aber schnell wieder verworfen wird.) Sowohl Kommissar Keller als auch Oberinspsektor Derrick sind in allererster Instanz Staatsdiener, verbürokratisiertes Über-Ich gewissermaßen. Es fällt schwer, hier kein künstlerisches Programm zu vermuten: Vielleicht der Versuch einer verspäteten Wiedergutmachung des Autors, der als Kriegsberichterstatter in einer Propagandakompanie der Waffen-SS gedient hatte? Who knows.

Mal sehen, ob ich hier demnächst auch noch was über DER KOMMISSAR zum Besten geben werde. Gerade in Verbindung mit weiteren DERRICK-Sichtungen könnte das sehr interessant und aufschlussreich sein.

critic.de braucht hilfe!

Veröffentlicht: Dezember 22, 2016 in Film, Zum Lesen

Hin und wieder verlinke ich hier Texte, die ich für critic.de geschrieben habe. Es handelt sich um eine der wenigen deutschen Filmseiten, die noch echten, klassischen Filmjournalismus im Netz betreibt und dabei keine Berührungsängste hat. Der „Arthouse“-Hit hat hier genauso seinen Platz wie der Blockbuster, der vom deutschen Markt unbeachtete Autorenfilm aus Fernost oder der Exploitationhobel aus den Siebzigerjahren, die Filmrezension ist ebensso vertreten wie das Interview oder der filmpolitische Essay.

Leider geht es critic wie den meisten idealistisch geprägten Seiten: Die Einnahmen sinken, der Betrieb wird schwieriger zu finanzieren. Wir alle jammern immer wieder darüber wie der pöse Kapitalismus alles kaputt macht, was uns mal am Herzen lag. Plattenläden, Fußballvereine, Sexshops, Pornokinos. Hier bietet sich die einmalige Gelegenheit, mitzuhelfen, etwas zu bewahren. Lest den Artikel auf critic.de und überlegt euch, ob ihr einen Beitrag leisten möchtet, das Angebot der Seite zu retten.

Danke!

large_edjzjali1v5ps7dcmylt8cpf3dgDamals im Kino hatte Snake Plisskens gehauchtes „Nennen Sie mich Snake!“ schon für Begeisterungsstürme gereicht. Es war für mich, der altersbedingt nicht das Glück hatte, ESCAPE FROM NEW YORK im Kino sehen zu können, eines der schönsten Kinoerlebnisse überhaupt: Die damalige Kritik an ESCAPE FROM L.A. konnte ich zwar irgendwie nachvollziehen, aber gefühlt habe ich etwas anderes. Die gestrige Sichtung des Films auf Blu-ray, auf der er in den schönsten Farben erstrahlt, die famose Kameraarbeit von Gary B. Kibbe und die tolle Setdesigns zum Leuchten bringt, schloss direkt an die Kinoerfahrung von einst an und machte mir schlagartig wieder klar, wie toll dieses Sequel tatsächlich ist. John Carpenter ist damit meines Erachtens etwas ganz Besonderes gelungen: Er hat eine Fortsetzung geschaffen, die der seit dem Original vergangenen Zeit unverkennbar Rechnung trägt, ein Update, das der neuen Epoche angemessen und kein schnödes Retrogedöns ist, aber dabei dennoch vom selben Schrot und Korn. ESCAPE FROM L.A. ist bunter, witziger, bescheuerter und überdrehter als der Vorgänger, aber darunter schlägt immer noch das Herz des liberalen Zynikers, der mit Western aufgewachsen ist und das Genrekino liebt, der Autoritäten gegenüber skeptisch ist und mit dem Underdog mitfiebert.

ESCAPE FROM L.A. stellt inhaltlich eher eine Variation des Vorgängers dar als eine Fortsetzung, aber das Gefühl des „Been there, done that“, das damit einhergeht, unterstreicht noch einmal Carpenters Skeptizismus und Snakes Müdigkeit. Der Antiheld hat einfach nur die Schnauze voll von den immer gleichen Täuschungsmanövern und leeren Politikervrsprechungen. Der angry young man aus dem ersten Teil ist nun ein mit allen Abwassern gewaschener Veteran, seine Mission ein going through the motions. Was ihn am Laufen hält, ist sein Überlebenswille, insofern haben ihn seine Auftraggeber – Stacey Keach in der Lee-van-Cleef-, Cliff Robertson in der Donald-Pleasence-Rolle – genau richtig eingeschätzt, als sie ihm ein tödliche Injektion als Druckmittel verpasst haben. Plissken macht mit, aber eigentlich nur, um zu überleben, und seinen Peinigern am Ende vielleicht doch gepflegt in den Arsch treten zu können. Das Kriegsgebiet ist kein düsteres Loch mehr, sondern ein durch ein Erdbeben vom Rest der USA abgekoppeltes L.A., das nun als Exil für all jene fungiert, die gegen die Moral der neuen Spießernation verstoßen. Was man schon zwischen den Zeilen von ESCAPE FROM NEW YORK herauslesen konnte, das es Drinnen nämlich vielleicht besser ist als Draußen, wird hier zur Gewissheit und von einer Figur, der unglücksseligen Taslima (Valeria Golino), sogar expliziert – kurz bevor sie in der bittersten Szene des Films – einer Schlüsselszene – wie aus dem Nichts erschossen wird. Das L.A. aus Carpenters Film setzt dem spießigen Gottesstaat zwar eine kunterbunte Utopie voller durchgeknallter Individualisten entgegen, unter denen sich auch Hippie-Gottvater Peter Fonda als Surfer auf der Suche nach der ultimativen Welle wohl fühlt, aber die Kehrseite ist eine anarchische Gesellschaft, in der es keinerlei Rücksichtnahme mehr gibt und jedem Impuls nachgegeben wird – zum Beispiel jenem sich chrirgisch bsi zur Unkenttlichkeit zu verstümmeln. Am Ende kommt Plissken zum einzig logischen Schluss, nämlich dem, dass die Menschheit insgesamt keine Rettung verdient hat. Nach den Ereignissen der letzten Monate und Wochen muss man anerkennen, dass Carpenters Film 20 Jahre nach seinem Erscheinen erstaunlich zeitgemäß anmutet. Und dass, wo man ihn damals eigentlich schon zum Start als instantly dated diffamiert hat.

Grund waren nicht zuletzt die mäßig überzeugenden CGI und der Rückgriff Carpenters auf Mittel, die er schon zwanzig Jahre zuvor für sich genutzt hatte. ESCAPE FROM L.A. hat eine geradezu unverschämt dilettantisch animierte U-Boot-Fahrt komplett mit hektisch ins Bild schnappenden Riesenhaien zu bieten, dazu die schon im Original erprobte Ausleuchtung, die jeden Originalschauplatz in eine wunderbar künstlich aussehende Theaterkulisse verwandelt, herrlich übertriebene Matte Paintings und einen Actionshowdown, in dem die Helden an Seilen ins Bild geschwebt kommen und Rabatz machen. Schon erstaunlich dass man das in den Neunzigern, dem Jahrzehnt der Ironie und der bequemen Flucht auf sichere Metaebenen, nicht verstand, dem Film einen billigen Look unterstellte und Carpenters künstlerische Instinkte in Zweifel zog. Natürlich passt das alles wie Arsch auf Eimer und unterscheidet sich vom weithin geliebten Vorgänger nur oberflächlich. Klar, der war das logische Resultat einer Zeit gewesen, in der man sich vor dem Dritte Weltkrieg fürchtete, das unaufhaltsame Ansteigen urbanen Verbrechens beklagte und „No Future“ deklamierte, und dementsprechend düster. Bei ESCAPE FROM L.A. amüsiert man sich hingegen zu Tode: Das sieht etwas bunter aus, aber das Resultat ist dasselbe. Meiner bescheidenen Meinung nach ist dies Carpenters bester Film seit THEY LIVE und damit noch deutlich stärker als der gemeinhin überschätzte IN THE MOUTH OF MADNESS.

 

ghostbustersDie Diskussion über das viel gehasste Remake mit meinem Freund Frank führte zu der Entscheidung, mal wieder das Original anzuschauen: ein Film, den ich zwar mag, der in meiner Kindheit auch eine gewisse Bedeutung hatte, den ich aber bei Weitem nicht so toll finde wie diverse Fanboys im Netz, die gegen die neue Version mit dem Eifer islamistischer Fundamentalisten zu Felde gezogen sind. Die Luft war ja auch schon damals beim zweiten Teil raus, und alle Versuche Aykroyds, eine Neuauflage an den Start zu bekommen scheiterten trotz immer neuer Versprechen und Ankündigungen. Schaut man sich Aykroyds eher ernüchternde Karriere ab den späten Achtzigerjahren an, war sein Wille, die größte Cashcow seiner Laufbahn zu reanimieren, nur zu verständlich. Ich habe allerdings meine Zweifel, ob er der Welt mit jenem „echten“ dritten Teil, um den sich die Fans nun betrogen fühlen, einen großen Gefallen getan hätte.GHOSTBUSTERS ist für mich das Idealbeispiel eines Filmes, bei dem sich alles glücklich zusammenfügte: Ein Konzept, das einschlug wie eine Bombe, drei Hauptdarsteller auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, ein hervorragendes Design, ein Hitsong  – und natürlich die Tatsache, dass er mit seiner Idee auf ein begeisterungsfähiges Jungvolk stieß, in deren Filmsozialisation er eine Rolle spielen sollte, die seinen echten filmischen Wert weit übersteigt. GHOSTBUSTERS hat etwas, was sich nicht genau festmachen lässt, er ist mehr als die Summe seiner Teile und zweifellos deutlich besser als das umstrittene Remake, allein schon, weil er sich nicht auf irgendwelche Metaebenen flüchten muss, sondern seine Geistergeschichte ganz straight durchspielen kann, aber die ganz große Begeisterung löst er bei mir trotzdem nicht aus.

Das größte Problem, das ich mit ihm habe: Ich finde ihn nur mäßig komisch, ein Vorwurf, der ja auch gegen das Remake erhoben wurde. Schön und gut, Feigs Version ist gewiss nicht der Kulminationspunkt der Witzigkeit, aber wer meint, der Film habe keine Gags, der soll mir doch bitte mal sagen, wo genau diese denn hier eigentlich zu finden sind. Seinen ganzen Humor bezieht der Film aus Bill Murrays seitdem zur Masche verkommenem Arschlochtum, Harold Ramis stoischer Nerderei und Rick Moranis‘ Deppertheit, echte Gags, also entwickelte Pointen, gibt es meiner Meinung nach überhaupt nicht – sieht man mal von Venkmans Experiment ab, mit dem der Film beginnt. Was er hat, sind eben Typen, eine liebenswerte Underdog-Attitude, einen sense of place, eine funktionierende Dramaturgie und einen Spannungsbogen. Reitman nimmt seine Geschichte ernst und es steht etwas auf dem Spiel (auch wenn man natürlich weiß, das alles gut ausgehen wird), mitunter ist der Film – gewiss kein Schocker – sogar ein wenig unheimlich. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass GHOSTBUSTERS nicht sehr angenehme und sympathische Unterhaltung böte, und wer wie ich in den Achtzigern aufwuchs, der wird sehr wahrscheinlich etwas mit diesem Film verbinden, dass es einem nahezu unmöglich macht, ihn „einfach so“ zu schauen. Aber ich meine, man sollte auch in der Lage sein, zu erkennen, wo ein Film aufhört und die subjektive Verklärung beginnt. GHOSTBUSTERS ist ein schöner Eighties-Blockbuster, der seinen Platz in der Popkultur sicher und verdient hat, aber er ist kein RAIDERS OF THE LOST  ARK, kein TEMPLE OF DOOM, kein GREMLINS und auch kein BACK TO THE FUTURE. Meine Meinung.

arton9513Während des Films habe ich tierisch Lust auf Vodka bekommen. Bei jeder Gelegenheit werden diese charakteristischen Weißglas-Flaschen hervorgezaubert, der Kartoffelschnaps in Männer- und Frauenschlünde gekippt, dass es nur so eine Art hat, in den Aschenbechern türmen sich  Kippenberge, die ein bisschen an die unwirtliche Landschaft erinnern, in der die Geschichte von LEVIAFAN angesiedelt ist. Wenn die Protagonisten ungefähr zur Mitte des Films einen Ausflug unternehmen, den Geburtstag einer Nebenfigur an einem einsamen, zwischen zerklüfteten Felsen liegenden See feiern, was bedeutet, dass sie flaschenweise Wodka saufen, mit Gewehren herumballern, rauchen und von den Frauen zubereitete Schschlikspieße grillen, hat man das Gefühl, dass LEVIAFAN ganz bei sich ist. Es geht natürlich um viel mehr in diesem 150-Minüter, aber diese freudig-depressive russische Art, mit der das eigene Leid und die Absurdität des Daseins umarmt wird, fast so, als suche man nur einen Grund, sich mal wieder volllaufen zu lassen, ist schon ein wichtiger Bestandteil des Films.

Nikolay (Aleksey Serebryakov) lebt mit seinem Sohn Romka und seiner Partnerin Lilya (Elena Lyadova) in einem selbst gebauten Haus auf einem attraktiven Grundstück über einer Bucht der Barentssee. Schon sein Großvater lebte auf der Halbinsel,  doch nun ist Nikolay durch einen Gerichtsbeschluss enteignet worden. Der korrupte Bürgermeister Schelewjat (Roman Madyanov) will das Grundstück für sich: Als Entschädigung soll Nikolay einen geradezu lächerlichen Geldbetrag erhalten, der in der Stadt nur für eine heruntergekommene Bruchbude reicht. Zur Hilfe holt er sich seinen alten Freund Dmitryi (Vladimir Vdovichenko) aus Moskau, einen Anwalt, der auf dem Rechtsweg allerdings auch nicht viel ausrichten kann. Aber er hat eine Akte mit kompromittierendem Material gegen den Bürgermeister, von der er sich einiges verspricht. Genauso wie von der Affäre mit Lilya …

Der erwähnte Ausflug ist auch eine Zäsur im Film. Schon vorher sind die Protagonisten, die ihn bevölkern, nicht unbedingt zu beneiden – ihr Leben ist karg, ihre Arbeit – Lilya verdient ihr Geld in einer traurigen Fischfabrik – schäbig, Zerstreuung gibt es eigentlich gar nicht, das Wetter ist mies und man erwartet nicht mehr viel vom Leben -, aber es wird für sie irgendwie weitergehen, zumindest glauben sie das. Aber von diesem Moment der Unbeschwertheit (die nicht lange anhält, wohlgemerkt) an geht es konsequent bergab, ohne Atempause, mit beängstigender, unausweichlicher Konsequenz und schockierender Banalität. Dmitryis Plan, vorgetragen mit der naseweisen Großkotzigkeit des Städters, der meint, alles geblickt zu haben, scheitert jämmerlich, seine Epressungsversuche prallen an dem brutalen Bürgermeister einfach ab, aber nicht ohne, dass er den Aufmüpfigen mit einem saftigen Denkzettel nach Hause schickt. Die Zukunft von Nikolays Haus ist besiegelt, aber auch sonst wird ihm nichts bleiben, denn die Ereignisse bei jenem Ausflug ziehen bittere Folgen nach sich, ein Dominosteinchen nach dem anderen fällt, bis nichts mehr bleibt. Alles, was in LEVIAFAN bestand hat, sind die Macht von Kirche und Politik sowie die kalte Gleichgültigkeit der grauen Berge und der schwarzen See.

Nicht gerade fun stuff und ich weiß auch nicht genau, ob solch eine finstere Weltsicht wirklich produktiv ist. Ich kenne das Leben nicht, das die Menschen da oben leben, weiß nicht ob das Bild, das Zvyagintsev zeichnet, der Realität entspricht. Denkbar ist es schon und schaut man sich die maroden Settings an, die Bilder sterbender, zerfallender Städte, im Schlick steckender Schiffswracks und wettergegerbter, stumpf dreinblickender  Arbeiter, dann deutet das schon darauf hin, dass es für die Menschen an der Barentssee nicht viel zu Lachen und noch weniger Grund zur Hoffnung gibt. LEVIAFAN ist ein Schwanengesang auf eine einst große Nation – hier oben besiegte Alexander Newskij einst die Schweden -, deren Randprovinzen in Willkür und Depression versinken. Es sind die Menschen, die daran Schuld sind, ja, auch der Staat, aber vor allem weckt Zvyagintsev den Eindruck, dass sich hier einfach natürlicher Wille vollzieht. All things fall apart.

escape-from-new-york-posterIch beginne mit einer fürchterlich ketzerischen Aussage: Gemessen an dem, was ESCAPE FROM NEW YORK in den ersten Sekunden für eine Prämisse aufbaut, ist der Film eine fürchterliche Enttäuschung. Das Gefängnis Manhattan, laut Vorspann ein Kriegsgebiet, in dem sich der Abschaum der USA gegenseitig die Köpfe einschlägt, ist bis auf ein paar verdreckte Penner nahezu völlig entvölkert und Ghetto-Zaren wie der Duke laufen in den Blaxploitation-Filmen der Siebziger eigentlich in jeder amerikanischen Stadt herum. Carpenters hätte streng genommen ein deutlich größeres Budget gebraucht, um seine Vision adäqaut zum Leben zu erwecken. So konnte er es sich noch nicht einmal leisten, tatsächlich in New York zu drehen: Bis auf ganz wenige Szenen diente St. Louis als Stand-in für die Ostküstenmetropole. ESCAPE FROM NEW YORK wirkt klein und beengt, eine Low-Budget-Affäre, die deutlich mehr abbeißt, als sie kauen kann, wenn man so will.

Bevor ich jetzt aber vom aufgebrachten Internetmob zur Schlachtung freigegeben werde, sei gesagt, dass diese Mängel dem Film kein bisschen schaden.Im Gegenteil. ESCAPE FROM NEW YORK ist natürlich super, einer der besten Filme aller Zeiten, und er schafft das fast ausschließlich über die Etablierung einer schwer zu beschreibenden Atmosphäre und seines glorios abgefuckten Helden. Carpenter hat gleich in mehrerer Hinsicht einen ziemlich zynischen Kommentar zur präapokalyptischen Welt der Achtzigerjahre abgegeben: Der Staat hat vor dem amoklaufenden Verbrechen vollends kapituliert, eine seiner größten Städte aufgegeben, nun macht er das Schicksal der Menscheit auch noch von einem Mann abhängig, dem alles scheißegal ist. Lee van Cleef stattet seinen Hauk mit der adleräugigen Selbstsicherheit eines ehemaligen Revolverhelden aus, aber im Grunde genommen ist dieser Mann eine lame duck: Er kann noch so sehr den autoritären Macker raushängen lassen, er ist voll und ganz auf das commitment eines Mannes angewiesen, dem Loyalität rein gar nichts bedeutet.

Carpenter lässt nur wenig Zweifel daran, dass das Leben auf der Gefängnisinsel Manhattan dem da draußen eigentlich vorzuziehen ist. Es ist nicht zwingend besser, genau genommen sogar ziemlich jämmerlich, aber immerhin weiß man dort, was man zu erwarten hat. Wenn Hauk in einer eisigen Morgendämmerung auf der Mauer steht und nach Manhattan hinüberschaut, kann man fast Neid in seinen Blick hineinlesen. Die Welt da draußen, zumindest das, was man von ihr mitbekommt, macht in der Tat nur wenig Hoffnung: Der Präsident, der die Geschicke des Landes lenken soll, ist ein rückgratloser Wurm, es wird verraten und manipuliert, die Bevölkerung von oben herab in zwei Klassen geteilt, einer quasi das Lebensrecht abgesprochen. Snake Plissken passt eigentlich weder in die eine noch die andere: Das Leben als Knecht ist lohischerweise nichts für ihn, aber die albernen Spielchen, die da draußen gespielt werdem, noch viel weniger. Nun muss er bei einem dieser Spielchen mitmachen und der Missmut und Widerwille, mit der er seiner Mission nachgeht, trägt den Film. Über der Düsternis des Films vergisst man manchmal, dass er eigentlich saukomisch ist. Genauso wichtig ist Carpenters Geschick, eine Welt im Kopf des Betrachters entstehen zu lassen, mehr als im Bild. ESCAPE FROM NEW YORK verdankt seinen anhaltenden Kultstatus nicht nur Russells Snake, sondern vor allem der Tatsache, dass dieser Film wie nur wenige andere die Fantasie anregen. Dass das New York, das man hier sieht, vergleichsweise unspektakulär rüberkommt, gehört zwingend dazu. Bei aller Abgefucktheit: Es steckt eine Art kindlicher Naivität, Freude und Neugier in diesem Film, die in dieser Reinheit absolut einzigartig sind. ESCAPE FROM NEW YORK ist ein einziger Glücksfall, über den man entweder stundenlang sprechen muss oder aber genießerisch schweigen kann. Paradoxe Perfektion.

Ich glaube übrigens, unser damaliger Himmelhunde-Text war einer unserer besten.

10287_i_affiche20orfanatoWahrscheinlich hätte ich EL ORFANATO damals sehen sollen. Guillermo del Toro war nach einer ganzen Reihe von tollen Filmen so etwas wie der Hoffnungsträger für ein märchenhaftes, erwachsenes, aber nicht zynisches, im Gegenteil eher melancholisches Genrekino, und Spanien ein Fels in europäischer Brandung, auf dem immer wieder originelle Horrorfilme gediehen. EL ORFANATO kam kurz nach del Toros EL LABERINTO DEL FAUNO in die Kinos und profitierte ganz erheblich vom Namen des mit 42 Jahren auch nicht mehr ganz so jungen Wunderkinds. Man hörte eigentlich nur Gutes über das von del Toro produzierte Regiedebüt J. A. Bayonas, und ich weiß gar nicht mehr, warum es nie zu einer Sichtung kam. Ein paar mal hielt ich bei meinen Ausflügen nach Holland die DVD in der Hand, schon bereit zu Kauf, bevor mir dann einfiel, dass spanische Filme mit niederländischen Untertiteln nicht so das Gelbe vom Ei sind. Und irgendwann geriet EL ORFANATO in Vergessenheit.

Die nach fast zehn Jahren nachgeholte Sichtung war nun nicht unbedingt ernüchternd, aber doch etwas enttäuschend, weil ich deutlich mehr erwartet hatte. Ich will das gar nicht unbedingt dem Film ankreiden, denn ich fürchte, dass sich mein Geschmack in den letzten Jahren einfach in eine Richtung entwickelt hat, die EL ORFANATO diametral entgegengesetzt ist. Bayonas Debüt ist gediegenes Erzählkino, das mich mittlerweile eher langweilt oder – um es etwas freundlicher zu formulieren – kalt lässt. Unheimlich fand ich den Film überhaupt nicht, viel eher reichlich vorhersehbar, immer den Konventionen des Geisterfilms verpflichtet und daher viel zu leer und formelhaft, um richtig zu packen. Diese Mysteryfilme um Kinder, die irgendwelche Geister sehen, und ihre Eltern, die dem Verhalten der Bälger erst belustigt, dann immer ratloser gegenüberstehen, bevor sie schließlich erkennen müssen, dass die Welt weniger geordnet ist, als sie das angenommen haben, verlaufen immer nach dem gleichen Schema und so hatte EL ORFANATO mich eigentlich schon nach zehn Minuten verloren. Ja, das Schicksal des kleinen Simón ist tragisch und verfehlt seine Wirkung nicht, aber irgendwie wirkt das auch immer etwas kalkuliert: Wen würde der sinnlose Tod eines Kindes nicht mitnehmen?

Auf dem Weg zu diesem Finale gibt es leider keine einzige Überraschung oder auch nur einen wirklich spannende Szene, dafür etabliert Bayona eine heilige Ergriffenheit, die mich schon ein wenig genervt hat. Da wird ständig Bedeutungsschwere und Emotionalität vorgespielt – und ich glaube auch, dass Bayona das alles ernst meinte – und Hauptdarstellerin Belén Rueda hat vor lauter Leid tiefe Ringe unter den Augen, der Score schwelgt in Dramatik und Trauer, aber wenn davon einfach nichts bei einem ankommt, fühlt man sich unangenehm bevormundet. To make a long story short: EL ORFANATO hat bei mir einfach nicht funktioniert. So ist das manchmal.