Dr. George Bull (Will Rogers) lebt in einer amerikanischen Kleinstadt, in der auf den ersten Blick nur wenig passiert: Aus dem durchfahrenden Zug steigt nie jemand aus, in der Milchbar lassen sich die jungen Mädels ihre Malted Milk ausschenken, während die Männer Zeitung lesen und Kaffee schlürfen, am Sonntag geht es in die Kirche, wo man stolz vorführt, was man in der Woche während der Chorprobe gelernt hat. Im Mittelpunkt steht der gutmütige, etwas grummelige Arzt, der die kleinen Zipperlein der Bürger versorgt, Babys zur Welt bringt, Kühe behandelt, ein offenes Ohr für die Sorgen seiner Mitmenschen und stets einen guten Ratschlag hat und sich außerdem rührend um Joe Tupping (Howard Lally) kümmert, den Mann der hübschen Telefonistin May (Marian Nixon), der der Aussage der Stadtärzte zufolge unheilbar gelähmt ist. Aber unter der Oberfläche der Picket-Fence-Idylle brodelt es und es ist ausgerechnet der aufopferungsvoll seiner Tätigkeit nachgehende Dr. Bull, der zur Zielscheibe des gehässigen Tratsches wird: Seine Beziehung zur Witwe Cardmaker (Vera Allen) ist den scheinheiligen Bedenkenträgern nicht genehm, und als dann auch noch eine Typhus-Epidemie ausbricht, macht der Stadtrat gegen den unbeugsamen Bull mobil …
DOCTOR BULL greift einige der Elemente von Fords Arzt- und Wissenschaftlerfilm ARROWSMITH auf: Auch dort praktizierte der Protagonist in einer Kleinstadt (wenn auch nur vorübergehend), therapierte dort sowohl Menschen wie Kühe und entwickelte wie sein älterer Kollege im späteren Film gar ein sensationelles Heilmittel. Die Tätigkeit stellt sich aufgrund der großen Nähe zu den Patienten in beiden Filmen als emotional aufreibend dar, doch beide Ärzte gehen ganz anders damit um: Während der eher kalte Stadtmensch Arrowsmith bald die sterilen Labors einer Forschungsstelle in der Großstadt der mühsamen Arbeit im direkten Kontakt mit den Menschen vorzieht, ist Bull ein echtes „Original“, tief verwurzelt in der Gemeinschaft seines Heimatortes, wo er jedes Geheimnis, jede Marotte der Einwohner kennt. Beim Besuch im Labor des Kollegen Dr. Verney (Ralph Morgan) beäugt er die modernen Gerätschaften (und die fesche Assistentin) mit den großen Augen eines neugierigen, aber auch etwas skeptischen Jungen: Er bewundert die intellektuellen Höhen, in die sich die Wissenschaft im Idealfall emporschwingt, aber er hat sich den Glauben an das Wunder bewahrt. Verney sieht keinerlei Hoffnung für den jungen Tupping, wissenschaftlich betrachtet ist sein Schicksal besiegelt, aber Bull weiß, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die die Lehrbücher nicht erfassen.
Bull ist ein Praktiker, weshalb er den Vorwürfen, der Typhus-Epidemie nicht frühzeitig Einhalt geboten zu haben – die Wasserverschmutzung durch die Fabriken des Unternehmers Banning (Berton Churchill) hätte ihm auffallen müssen, so seine Gegner -, nur entgegnet, dass er alle Hände voll damit zu tun habe, sich um die Menschen zu kümmern, und nicht auch noch prophylaktische Wasserproben entnehmen könne. Aber es geht eh um etwas anderes bei der Kampagne gegen ihn: Bull ist den Menschen suspekt, weil er seine eigene Meinung hat, diese auch zu vertreten weiß, und sich weigert, die albernen Gesellschaftsspielchen mitzuspielen, nur um sich beliebt zu machen. Als man ihm das Vertrauen aufkündigt, wehrt er sich nicht lang dagegen. Dass Joe Tupping dank seiner Beharrlichkeit wieder laufen kann, ist eine mehr als deutliche Antwort. Fraglich, ob man noch einmal einen wie ihn finden wird.
DOCTOR BULL ist zunächst eine Komödie, die vor allem von der Darbietung des schrulligen Will Rogers lebt, 1933 schon ein Nationalheiligtum, zudem ein absoluter Hollywood-Superstar und der angeblich bestbezahlte Schauspieler seiner Zeit. Rogers kam ursprünglich vom Vaudeville, hatte sich neben seiner Tätigkeit als Schauspieler aber nicht zuletzt als Kolumnist und Humorist einen Namen gemacht: Für die New York Times war er von 1922 bis zu seinem Tod 1935 im Alter von nur 56 Jahren tätig, zunächst mit einer wöchentlichen Kolumne, ab 1926 dann sogar täglich. Er kommentierte das aktuelle Tagesgeschehen und kritisierte die Prominenten und Mächtigen mit Humor und Biss, aber auch mit Wärme und Menschlichkeit, was ihm die Achtung, Wertschätzung und Vertrauen von Politikern und Präsidenten einbrachte. Heute bezeichnet man ihn in den USA als wichtigsten politischen Humoristen seiner Zeit und als legitimen Nachfolger eines Mark Twain. Man erkennt viel von dieser Persönlichkeit in seinem Doctor Bull, der zwar auf deutlich kleinerer Bühne aktiv, aber in seinem Dorf ähnlich engagiert ist. Er bezieht gegen die Scheinheiligen deutlich Position, aber er verurteilt sie nicht von oben herab: Ein Demokrat wie er im Buche steht. Wieder einmal singt Ford ein Loblied auf den „kleinen Mann“, der mit dem täglichen Einsatz in seiner Kommune das Rückgrat der Nation stärkt, auch wenn es ihm nicht wirklich gedankt wird. Bull lebt in Bescheidenheit mit seiner greisen Tante, die ihn immer mit dem Namen ihres toten Sohnes anspricht, und als er das teure Auto von Dr. Verney bestaunt und sich danach zu seiner Rostlaube umdreht, da fährt ihm förmlich ein Schreck durch die Glieder. Rogers erweckt seinen Protagonisten gerade mit solchen kleinen Details zum Leben.
Ford erzählt seine Geschichte in einer – zumindest bei der ersten Sichtung – sehr locker und entspannt anmutenden Form, ganz dem verschlafenen Alltag in dem kleinen Städtchen angemessen, springt von einem Haus zum nächsten und wartet dort auf die Ankunft des umtriebigen Arztes oder trifft ihn dort bereits an. Die einzelnen Plotstränge werden durch Bull und die Dorfgemeinschaft zusammengehalten, wie die Telefonistin schaltet Ford kunstvoll, aber immer ökonomisch und unaufdringlich zwischen ihnen hin und her. Wie stringent der Film erzählt ist, bemerkt man eigentlich gar nicht, weil immer wieder kleine Nebenepisoden für Ablenkung sorgen. Wunderschön etwa die Szene, in der Dr. Bull das Baby italienischer Immigranten zur Welt bringt. Bitter eine andere, in der er den Tod eines jungen Hausmädchens feststellen muss: Nur subtile Details in den Dialogen und Bulls strafender Blick am Ende lassen erkennen, dass es sich um eine Schwarze gehandelt haben muss, die nicht gerade unter den besten Bedingungen lebte. So entsteht der Handlungsort in knapp 80 Minuten als lebendes Biotop vor dem Zuschauer, eine Miniatur der USA gewissermaßen. Ein Ort, den man lieben und hassen kann und muss, so wunderschön und widerwärtig wie das Leben.
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