Das wäre mal ein interessantes Thema für ein Buch: „Filme, die grotesk irreführend vermarktet wurden“. THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA dürfte darin einen prominenten Platz einnehmen, zumal diese Vermarktung auch noch funktioniert hat, wenn auch anders, als von den Machern wahrscheinlich intendiert: In Großbritannien landete der Titel auf der Liste der berüchtigten „Video Nasties“ – und das, obwohl er sich zwischen prominenten Kollegen wie Fulcis ZOMBI 2, ANTHROPOPHAGUS, CANNIBAL HOLOCAUST, I SPIT ON YOUR GRAVE oder Sadiconazista wie LA BESTIA IN CALORE ausnehmen musste wie ein empfindliches, fragiles Pflänzchen. Was dachte der eingefleischte Gorebauer wohl, als er THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA zu Dosenbier und den Kartoffelchips verköstigte, eine sensenschwingende Amazone erwartete, die Männern die Köpfe vom Leib schnitt, stattdessen aber mit einem ruhigen, zärtlichen Psychogramm über sexuellen Missbrauch und schwerste Traumatisierung konfrontiert wurde?
Fulci-Experte Stephen Thrower stellt den Irrtum richtig und beschreibt den Film in seiner kleinen Einführung auf der Arrow-Bluray als „nicht plot-getriebenes“, „enigmatisches“, „elliptisches“ und „traumgleiches“ Charakterdrama. Was meines Erachtens aber auch nicht ganz präzise ist, denn THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA ist in seiner Bildwelt eigentlich erdrückend profan. Gedreht wurde am Strand von Malibu, in Santa Monica und am Venice Beach, aber statt von kalifornischer Sonne beschienen zu werden, durchzieht den Film ein diesiger, herbstlich-grauer Dunst. Die Settings sind eng, dunkel, staubig und unaufgeräumt. Die Mordszenen sind beinahe antiklimaktisch inszeniert. Die Charakteristika, welche man für gewöhnlich mit Filmen assoziiert, die auf dem schmalen Grat zwischen Realität und Wahnsinn wandeln – Surrealismus, grelle Effekte, filmische Verfremdungstechniken – sind hier nahezu vollständig abwesend. Trotzdem trifft Thrower den Nagel mit seiner Diagnose auf den Kopf, was beweist, wie geschickt Cimbers Inszenierung ist, wie sensibel Robert Thoms Script und wie subtil Dean Cundeys Fotografie. Auch wenn THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA nie ganz abtaucht in die Seelen- und Gedankenwelten seiner Protagonistin, ist er dennoch voll und ganz von ihrer Disposition ergriffen. Er hat einen eigenen Rhythmus, eine eigene Sensibilität, eine eigene Sprache. Es ist schwer, zu erklären, was es ist, was den Film so einzigartig macht. Aber das Gefühl ist da.
Molly (Millie Perkins) ist eine mittelalte, attraktive und sympathische Frau, die sich als Kellnerin über Wasser hält, diverse flüchtige Liebschaften hat, unter anderem mit Long John (Lonny Chapman), dem Wirt der Kneipe, in der sie arbeitet, den beiden jungen Söhnen ihrer Schwester Cathy (Vanessa Brown) verklärende Geschichten iüber den angeblich auf See verschollenen Vater erzählt – und nebenbei ein Alkoholproblem kultiviert. Schon früh zeichnet sich ab, dass mit ihr etwas nicht stimmt: Cathy teilt die liebevolle Erinnerung Mollys an den gemeinsamen Vater überhaupt nicht, bezeichnet ihn als Schwein und scheint etwas über ihre Schwester zu wissen, was diese selbst verdrängt hat. Die Flucht in die Scheinwelt des Fernsehprogramms gründet für Molly auf weit mehr als auf dem Wunsch nach Ablenkung von einem tristen Alltag – und es dauert nicht lange, da offenbart sich ihre tiefe seelische Zerrüttung und das schreckliche Geheimnis ihrer Vergangenheit.
Inhaltlich fügt sich THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA nahtlos in das Genre des Serienmörderfilms als Psychogramm, aber seine Herangehensweise ist doch eine ganz eigene. Weder betrachtet Cimber seine Protagonistin mit der nüchternen Distanz eines Wissenschaftlers, noch macht er sich ihre Sicht auf die Welt ganz zu eigen. Seine Perspektive ist vielmehr von Empathie, Menschlichkeit und dem Wunsch, zu verstehen, geprägt. Seine Mörderin – Opfer väterlichen sexuellen Missbrauchs – ist kein blutgieriges Monster, aber durchaus ein Rätsel, nicht zuletzt für sich selbst. Wenn Molly zur Mörderin wird, sie sich für die erlittenen Verletzungen an den Männern rächt, ist sie ein anderer Mensch: An ihre Taten hat sie danach keine Erinnerung mehr, es ist, als erwache sie aus traumlosem Schlaf. In ihrem „normalen“ Leben ist sie hingegen zärtlich, mitfühlend, liebevoll – vielleicht ein bisschen zu in sich gekehrt, zu sorglos, zu zufrieden mit einem Leben, in dem eigentlich fast nichts stimmt. Diese Kluft durchmisst der Film auch stilistisch: Cimber lässt seine Charaktere keinen „authentischen“, aus dem Leben gegriffenen Smalltalk führen: Die Dialoge sind sehr geschrieben, poetisch mitunter und sie sorgen im Verbund mit Cundeys Bildern dafür, dass THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA wie durch einen Nebel zu einem spricht. Der Film ist enigmatisch, wie Thrower sagt, aber vor allem deshalb, weil er trotz aller bildlichen Klarheit seltsam entrückt scheint. Wie eine Erinnerung, von der man nicht genau weiß, ob sie nicht doch nur ein Traumfragment ist.
Das Script schrieb Robert Thom, der damalige Ehemann von Hauptdarstellerin Millie Perkins aus akuter Geldnot und griff dafür auf (auto)biografische Details aus seiner und Perkins‘ Familie zurück. Aus seiner feder stammen auch die Drehbücher zu Paul Bartels DEATH RACE 2000, Roger Cormans BLOODY MAMA und Robert Aldrichs superbizarrem THE LEGEND OF LYLAH CLARE, was in der Schnittmenge tatsächlich einen guten Eindruck von THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA vermittelt. Millie Perkins‘ Filmkarriere wiederum begann 1959 im Alter von 21 Jahren mit der Hauptrolle in George Stevens‘ THE DIARY OF ANNE FRANK, die sie ohne jede Schauspielausbildung ergatterte. Man prophezeite ihr eine große Karriere, doch das Studiosystem war nicht das rechte Umfeld für sie: Sie fiel in Ungnade und landete schnell bei B-Film und Fernsehen. Sie lebt immer noch und ist mittlerweile 82 Jahre alt. Matt Cimbers claim to fame ist zum einen die Tatsache, dass er der letzte Ehemann von Jayne Mansfield war, zum anderen der Skandalfilm BUTTERFLY, eine Verfilmung von James M. Cains gleichnamigem Hardboiled-Roman, in dem die damals bereits fast 30-jährige Sängerin Pia Zadora ein minderjähriges Mädchen spielt, das ein Verhältnis mit seinem Vater (Stacy Keach) beginnt. Der Film wurde von der Kritik einhellig verrissen und großzügig mit Raspberry Awards und Nominierungen in allen wichtigen Kategorien bedacht. Seine Filmografie, die auch die Blaxploiter THE BLACK SIX, LADY COCOA und THE CANDY TANGERINE MAN, den Barbarinnen-Film HUNDRA umfasst, klingt demnach ziemlich spannend. THE WITCH WHO CAME FROM THE SEA ist in jedem Fall ein Ausnahmewerk, das in einer gerechten Welt als Klassiker in einem Atemzug mit Titel wie REPULSION, PSYCHO oder THE COLLECTOR genannt werden würde, um jetzt nur mal drei naheliegende Referenztitel zu nennen.