Archiv für Dezember, 2014

poster_zoomL’HOMME DE RIO, Philppe de Brocas zweite Zusammenarbeit mit Jean-Paul Belmondo nach dem Mantel-und-Degen-Film CARTOUCHE, ist eine jener für die Sechzigerjahre so typischen Abenteuerkomödien – und natürlich die Fingerübung, die nötig war, um mit LES TRIBULATIONS D’UN CHINOIS EN CHINE ein handfestes Meisterwerk des Genres abzuliefern. Mit diesem verbindet L’HOMME DE RIO ein glänzend aufgelegter Belmondo, der seiner Vorliebe für waghalsige Stunts nachgeht, ein romantischer Subplot um die nicht ganz so kurvenreiche, dafür Beschützerinstinkte weckende Françoise Dorléac, sonnig-exotische Schauplätze im Minutentakt, die atemlose Aneinanderreihung von spektakulären Set Pieces und die locker-flockige Leichtigkeit, mit der das Ganze bei größter inszenatorischer Sicherheit vorgetragen wird. Was hier zum ganz großen Glück fehlt, ist die Vielzahl zündender Gags und vor allem eine Story, die nicht bloß Prämisse ist. Auch wenn LES TRIBULATIONS D’UN CHINOIS EN CHINE ganz bestimmt keine philosophische Abhandlung zum Thema „Glück“ ist, so bringt die Disposition seines Protagonisten doch eine gewisse Fallhöhe mit sich, verleiht der Abfolge von Slapstick-Einlagen und Actionszenen einen über diese hinausweisenden Sinn. De Broca begnügt sich bei L’HOMME DE RIO gewissermaßen damit, irgendeine Schnur zu haben, an der er die einzelnen Szenen und Sequenzen auffädeln kann. Wenn man mag, und das tue ich, kann man diesen Minimalismus natürlich auch als Stärke begreifen: Dann ist dieser Film noch näher dran am „Kino der Attraktionen“, mit dem die Filmgeschichte ihren Anfang nahm, und eine beachtliche Willensleistung überdies. Mit einer Laufzeit von knapp zwei Stunden ist L’HOMME DE RIO ein funkelndes Perpetuum Mobile, das nur um sich selbst kreist.

Man kann de Brocas Film – der von der Jagd nach einer seltenen Statue handelt, die mit zwei anderen zusammen eine Art Schatzkarte ergibt – auf eine ganz basale Idee zurückführen: Belmondos Protagonist Adrien Dufourquet ist ein französischer Soldat, den es in seinem Kurzurlaub unerwartet und spontan nach Brasilien verschlägt, wohin seine Freundin entführt wurde. Die Zeit drängt, denn wenn er nicht binnen acht Tagen zurück in Paris ist, droht ihm eine Verurteilung als Deserteur. Der Film endet nach haarsträubenden Turbulenzen tatsächlich rechtzeitig am Bahnsteig des Pariser Bahnhofs, wo Dufourquets in letzter Sekunde eintreffender Kamerad von dem Verkehrschaos auf dem Weg berichtet, einem Abenteuer, von dem sich Adrien keinerlei Vorstellungen machen könne. Und Adrien, den es innerhalb weniger Tage von Rio nach Brasilia und in den Amazonas verschlagen hat, antwortet mit Kenntnis des Pariser Verkehrs, dass das in der Tat kein Zuckerschlecken gewesen sein könne. Oft sind solche Filme, die im Prinzip auf einem einzigen kleinen Witz basieren, die allerbesten.

Doch mehr als alles andere ist es hier diese unendlich entspannte Stimmung, die den Film auszeichnet, die Haltung, dass es manchmal lohnt, das für unmöglich Gehaltene möglich zu machen, nicht zu viel über Fürs und Widers nachzudenken, sondern die Dinge einfach zu tun, unreflektiert, spontan, impulsiv. L’HOMME DE RIO ist ja auch eine wunderschöne Utopie, eine, in der sämtliche denkbaren Barrieren, seien es politische, wirtschaftliche, ethische oder physische, durchlässig geworden sind. Hauptantrieb ist die Liebe und die kennt eben, es ist keinesfalls so banal wie es die Wiederholung in 100.000 Schlagern und Schnulzen suggeriert, keine Grenzen, lässt sie im Gegenteil dahinbröckeln. Die Überzeugungskraft und Selbstverständlichkeit, mit der de Broca diese „Message“ transportiert, scheint heute indes kaum noch möglich: Die Freundschaft zwischen Adrien und einem kleinen brasilianischen Straßenjungen müsste etwa wahrscheinlich dutzendfach abgesichert und somit ihrer so befreienden Reinheit entledigt werden, um Vorwürfen von Rassismus und Kulturimperialismus vorzubeugen. (Aber man muss gar nicht in gesellschaftspolitische Details vordringen, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen: Schon wie sich Adrien ins Flugzeug nach Brasilien schummelt, wäre so heute nicht mehr denkbar.) Die lichtdurchfluteten Bilder, die de Broca mithilfe von Kameramann Edmond Séchan malt, sind natürlich das ideale Medium für diese Geschichte, in der Zeit und Raum auf die Größe eines Stecknadelkopfes zusammenschrumpfen, die Welt ein Dorf ist oder aber Kulisse für die Liebesspielchen von Adrien und Agnés. Besonders hervorzuheben ist hier die Sequenz in der damals gerade in der Entstehung begriffenen neuen brasilianischen Hauptstadt Brasilia, einer Ansammlung halbfertiger hochmoderner Wolkenkratzer inmitten einer rotsandigen Baustelle: So seltsam es klingen mag, aber hier nimmt L’HOMME DE RIO die Verträumtheit der Thailand-Sequenz von LES TRIBULATIONS D’UN CHINOIS EN CHINE vorweg. Zum ganz, ganz großen Glück fehlten für meinen Geschmack nur ein paar mehr echter Gags. Aber auch das fällt nicht allzu schwer ins Gewicht, wenn man diese eine Szene hat, in der Aolfo Celi – synchronisiert vom unvergesslichen Arnold Marquis – seiner geschmackvoller Klassik lauschenden Gattin barsch entgegenkläfft: „Ich kann diese barbarische Musik nicht ertragen!“. Ein Filmmoment für die Ewigkeit.

Wie schade, dass ich diesen Film gestern zum ersten Mal gesehen habe. Hätte ich ihn bereits als Kind gesehen, wäre er mir heute, nach Dutzenden via VHS-Tape zelebrierter Sichtungen unweigerlich in jede Pore gedrungen. Die freie Adaption eines Jules-Verne-Romans bringt ja alles mit, was Jungsherzen in den Achtzigerjahren höher schlagen ließ: einen umwerfenden, unwiderstehlichen Bebel auf dem Gipfel seiner Spitzbübischkeit, eine atemberaubend kurvenreiche Ursula Andress, farbenprächtige exotische Kulissen, trottelige Sidekicks und finstere Finstermänner, ausufernde Verfolgungsjagden, spektakuläre Slapstick-Choreografien, freche Sprüche und das alle in einer nicht abreißenden, stattdessen immer rasanter werdenden Folge. Auch mein 38-jähriges Selbst war schlichtweg begeistert von diesem herrlichen Sonntagnachmittags-Film, dem unnachahmlichen Sechzigerjahre-Flair und de Brocas spritziger Inszenierung, die in ihrer Verbindung von wüstem Körperhumor, anarchischer Actionsequenzen, jugendlicher Romantik und humanistisch geprägter Poesie auch heute noch nur wenig Konkurrenz hat. Doch trotz dieser Begeisterung werde ich mit LES TRIBULATIONS D’UN CHINOIS EN CHINE niemals diese Erinnerungen verbinden, die Kindheitslieblingen erst diese mystische Aura verleihen, die auch Jahrzehnte später noch in der Lage ist, ganz konkrete Sinneseindrücke zu reaktivieren und einen wie eine Zeitmaschine in die Vergangenheit zu schicken. Ich möchte Philippe de Brocas Film nicht nur kennen, mögen, lieben: Ich möchte ihn in meinem Blut, meiner DNA haben. Ich will, dass er ein Teil von mir ist. Es ist so ein Film, von dem man sich das wünscht.

Für den Zuschauer im 21. Jahrhundert kommt LES TRIBULATIONS D’UN CHINOIS EN CHINE sowieso mit einer verschreibungspflichtigen Dosis Nostalgie daher, auch wenn man noch keine autobiografische Verbindung zu ihm hat. Die Zeit für solche ausschweifenden Technicolor-Abenteuerfilme, die demjenigen, der die Kinokarte löste, gewissermaßen die totale Entertainment-Rundumversorgung lieferten, ist genauso lange vorbei wie die von Belmondo, der seinen Kollegen aus Hollywood problemlos von Europa aus die Stirn bot, bevorzugt in solchen französisch-italienischen Wunderwerken, die mit Stolz und Traditionsbewusstsein auf ein langes filmisches Erbe zurückblickten – und ihrerseits ihren Einfluss hinterließen. Man kann mir jedenfalls nicht erzählen, dass Peter Bogdanovich bei WHAT’S UP DOC? im Hinterkopf nicht auch ein bisschen an Philippe de Brocas Film dachte: Die traditionellen chinesischen Verkleidungen, in denen Bebels Arthur und seine Alexandrine (Ursula Andress) irgendwann rumlaufen, die einer Lawine gleichende Handlungsstruktur, die immer mehr Figuren fortreißt, die Gegenüberstellung der unangepassten, abenteuerlustigen Striptease-Tänzerin und der langweiligen Verlobten findet man jedenfalls auch in Bogdanovichs Masterpiece.

Wie jenes fasziniert LES TRIBULATIONS D’UN CHINOIS EN CHINE mit seiner nahtlosen In-Eins-Setzung von Anarchie, Spontaneität und Kontrollverlust auf der einen, erzählerischer Ökonomie, punktgenauem Timing und allzeitiger inszenatorischer Kontrolle auf der anderen Seite. Aus Hongkong begibt sich der Film nach Indien und auf den Himalaja, zurück nach Hongkong, auf ein Schiff, an die malerische Küste Thailands und in den Urwald, ohne jemals seine Linie zu verlieren. Die Killer, die Arthur vermeintlich den Garaus machen wollen, entpuppen sich als wohlmeinende, aber tolpatschige Angestellte der Versicherung – neben Bebels beachtlichem Talent für körperliche Verrenkungen sind sie es, die die direkte Verbindungslinie zu den chaotischen Slapstickeinlagen der Marx Brothers knüpfen (und vielleicht sogar die Comicfiguren Clever & Smart inspirierten?) –, und die Kunde, dass Arthur mitnichten in akuter Lebensgefahr schwebt, veranlasst sogleich seine Schwiegermutter ihm ein paar gedungene Mörder auf den Hals zu hetzen. Die sich ergebende Hatz kulminiert in einer turbulenten Verfolgungsjagd und dann in der Zerstörung einer alten Festungsanlage. Erst kurz vor Schluss kehrt an den malerischen Stränden von Thailand etwas Ruhe ein. Ein fast surreales Element hält nun Einzug (diese Musik!) und der Film verwandelt sich in eine handfeste Liebesutopie, jenseits von Raum und Zeit in einem Zustand der Schwerelosigkeit suspendiert, bevor das Chaos wieder losbricht. Es ist schwer, über LES TRIBULATIONS D’UN CHINOIS EN CHINE zu schreiben, ohne dabei in uferlose Aufzählungen zu verfallen, weil de Brocas Film vor witzigen Figuren und Episoden, Eindrücken, Ideen, Bildern, hingeworfenen One-Linern, losen Enden und potenziellen Anfängen nur so überläuft, ohne dabei jedoch zur bloßen Nummernrevue zu verkommen – ein unerklärliches Wunder. In Arthurs selbstverliebter Haartolle kommt der Film ganz zu sich: Ein eigentlich überflüssiger Manierismus, immer da, selten bedeutsam, aber durchweg charaktervoll, stets exzentrisch-verspielt und deshalb unvergesslich. Wenn LES TRIBULATIONS D’UN CHINOIS EN CHINE nach 105 übervollen Minuten sein Ende findet, wird die Trauer darüber durch die Rückkehr dieser Haartolle, derer Arthur sich zu Beginn seines Abenteuers entledigt hatte, erheblich geschmälert.

Auch wenn Duccio Tessaris UNA FARFALLA CON LE ALI INSANGUINATE zahlreiche Merkmale des Giallos aufweist, so passt er in diese Schublade doch nur, wenn man den Begriff im ursprünglichen, weiteren Sinne eben schlicht als „Krimi“ versteht. Der Titel wartet mit der im Giallo beliebten Kombination von Tier (hier: Schmetterling) und rotem Lebenssaft auf, die Handlung wird mir dem Messermord an einer hübschen Studentin im Park losgetreten, dem dann die Enthüllungen sexueller Ausschweifung, Ehebruch und diverser psychischer Dispositionen sowie natürlich weitere Morde folgen. Dazu liefert die lombardische Stadt Bergamo die pittoreske Kulisse und Komponist Gianni Ferrio einen eindrucksvollen Score zwischen Jazz, Beat und Klassik, der Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1 als  Ausgangspunkt für Improvisation und Interpretation nimmt. So weit, so Giallo. Während aber viele Giallo-Regisseure die Schablone des Whodunit lediglich zum Schein verwendeten, das konservative Genre vielmehr einer krassen Postmodernisierung und Dekonstruktion unterzogen, da orientiert sich Tessari – wie schon im zuletzt hier besprochenen L’UOMO SENZA MEMORIA – an den Altmeistern des meist US-amerikanischen Krimis und Thrillers, hier etwa Alfred Hitchcock oder dem Billy Wilder von WITNESS FOR THE PROSECUTION.

Im Mittelpunkt der Handlung stehen zunächst der ermittelnde Inspektor Berardi (Silvano Tranquilli), der im Stile eines Police Procedurals die verschiedenen Zeugen vernimmt und Beweise sammelt, dann schließlich der Hauptverdächtige, der Sportmoderator Alessandro Marchi (Giancarlo Sbragia), und sein Anwalt Giulio Cordaro (Günther Stoll), dem es tatsächlich gelingt, seinen Klienten trotz erdrückender Beweislast zu schützen. Die Gerichtsverhandlung nimmt einen beträchtlichen Teil der ersten Hälfte des Films ein, da die Vorträge von Anwalt, Staatsanwalt und Zeugen immer wieder mit entsprechendem Bildmaterial unterfüttert werden. Ganz im Stile von „Perspektivenfilmen“ à la RASHOMON oder Bavas QUANTE VOLTE … QUELLA NOTTE erhält der Zuschauer so verschiedene Variationen ein und desselben Sachverhalts, ohne dass Tessari eine als die richtige, wahre herausstellen würde. Es wird früh klar, dass es hier nicht so sehr um die Wahrheit geht, als vielmehr um die Durchsetzung unterschiedlicher Interessen. Nur liegen die längst nicht so offen zu Tage wie es die Rollen der Protagonisten suggerieren. Als ausgerechnet seine Geliebte, jene Zeugin, die ihn eigentlich entlasten sollte, Marchi ins Gefängnis bringt, macht es sich Cordaro mit Marchis Ehefrau Maria (Ida Galli) gemütlich. Das Gefühl, dass es den Falschen erwischt hat, erhärtet sich mit dem Auftauchen weiterer Leichen. Und auch die Frage nach der Rolle des neurotischen Klavierspielers Giorgi (Helmut Berger), der eine sanfte Liebesbeziehung mit Marchis Tochter Sarah (Wendy D’Olive) unterhält, harrt einer Beantwortung.

Duccio Tessari zeigt hier einmal mehr, warum sein Name Freunden des Italokinos zwar durchaus ein anerkennendes Zungeschnalzen entlockt, aber darüber hinaus nur selten hymnisch besungen wird: UNA FARFALLA CON LE ALI INSANGUINATE lässt die Wildheit, die Expressivität oder auch die Schundigkeit anderer Giallos vermissen, er springt den Betrachter nicht um Aufmerksamkeit heischend an, glänzt dafür aber mit Subtilität. Die emotionale Durchschlagskraft der Geschichte wird nicht mit dem Holzhammer vermittelt, entfaltet sich vielmehr erst nach Ende des Films. Es sind vor allem die kleinen Details, die den Film zum Leben erwecken, wo andere Giallos sonst oft in Formelhaftigkeit und Ästhetizismus erstarren. Wunderbar ist die Chemie zwischen Tranquilli und Peter Shepherd, der Berardis Assistenten spielt. Ein Running Gag des Films besteht darin, dass letzterer seinem Vorgesetzten immer wieder einen Kaffee bringt, den dieser aus den unterschiedlichsten Gründen ablehnt. Sehr clever und eines der vielen kleinen Geheimnisse, die Tessari nie wirklich aufklärt, ist das Wiederkehren von blutigen Handverletzungen, die Marchi bei verschiedenen Leuten behandelt und sich so einen verräterischen Blutfleck eingehandelt haben soll. Selbst am Schluss, wenn der Mordfall seine drastische „Lösung“ erfährt, ist es somit alles andere als sicher, dass es den (bzw. die) Richtigen erwischt hat. Ein schöner, nicht allzu laut besungener Vertreter seines Genres und unerlässlich, wenn man sich einen Eindruck von seiner Vielfalt machen möchte.


Marie, die Tochter des französischen Firmenchefs Alexandre Bens (Michel Robin) verschwindet während ihres Mexiko-Urlaubs spurlos. Weil der mit der Sucher beauftragte Privatdetektiv Campana (Gérard Depardieu) keinen Erfolg hat, kommt ein Berater Bens‘ auf eine außergewöhnliche Idee: Marie war ein ausgesprochener Pechvogel, und ein ebensolcher ist Bens‘ Angestellter François Perrin (Pierre Richard), ein braver Mann, der sich unter 20 leeren Stühlen mit furchteinflößender Sicherheit genau jenen aussucht, der kaputt ist. Wenn man nun den Pechvogel auf die Spur des Pechvogels ansetzt, dann muss der zweifelsohne in dieselben Fettnäpfchen treten und so zum Ziel gelangen. Campana ist sichtbar begeistert und dass der ebenso ahnungslose wie unfähige Perrin beginnt, sich in der Rolle des Spürhunds zu gefallen, macht die Sache nicht eben leichter …

Unter ihrem Fernsehtitel EIN TOLPATSCH KOMMT SELTEN ALLEIN avancierte diese Komödie in meiner Kindheit zu einem Evergreen, das ich damals wahrscheinlich ein dutzend Mal gesehen habe und auch heute noch nahezu auswendig kenne. Im Kino unter dem ungleich blöderen Titel DER HORNOCHSE UND SEIN ZUGPFERD gelaufen und mit einer Rainer-Brandt-Synchro versehen, die er gar nicht nötig hat, überlässt es die Fernsehvertonung ganz den beiden hervorragend harmonierenden Hauptdarstellern dem geneigten Zuschauer das Zwerchfell zu perforieren. Pierre Richard ist grandios als bemitleidenswerter Pechvogel, der gar nicht bemerkt, wie hart ihm das Schicksal eigentlich mitspielt. Der Optimismus, der ihn von einem Fettnäpfchen zum nächsten treibt, nötigt einen gewissen Respekt ab und überhöht den Clown zum tragischen existenzialistischen Helden. Ihm gegenüber hat Depardieu als straight man die eigentlich undankbarere Rolle: Er ist das stand-in des Zuschauers, Augenzeuge von Perrins Unzulänglichkeit und mit seinem Gesichtsausdruck irgendwo zwischen entgeisterter Fassungslosigkeit, schadenfroher Faszination und bloßer Genervtheit die ideale Wand, an der Richard seine komödiantischen Volleys abprallen lassen kann. Aber Veber belässt es nicht dabei, Slapstick-Einlagen für Richard bereitzustellen und sie von Depardieu quittieren zu lassen. Er ringt seinem Stoff eine gewisse moralphilosophische Dimension ab, indem er Campana immer wieder in Versuchung führt, dem Pechvogel den entscheidenden Schubs zu geben, nicht nur, um dem Ermittlungsziel ein Stück näher zu kommen, sondern auch zur eigenen Belustigung. Und schließlich färbt das Pech Perrins dann auf den bulligen Privatdetektiv ab, der sich in Gesellschaft des armen Trottels zu lang in Sicherheit gewogen hat und mit dessen Überlegenheit es plötzlich vorbei ist. Eine Szene fungiert als Idealbeispiel für das Spannungsfeld, das Veber mithilfe seine beiden kongenialen Hauptdarsteller aufspannt: Die beiden sind bei ihren Ermittlungen in einem mexikanischen Knast gelandet. Folter steht auf dem Plan und auf Campanas Gesicht spiegelt sich eine Mischung aus Mitleid mit Perrin, den es seiner Erfahrung nach treffen muss, aber auch aus unverhohlener Schadenfreude und einer gewissen Überlegenheit, die besagt: „Mir kann hier gar nichts passieren.“ Sein Blick, als er aufgerufen und mitgeschleppt wird, ist mit Geld nicht zu bezahlen.

Neben den urkomischen Pointen – die Episode am Flughafen, Perrins amouröse Ambitionen, seine Wespenallergie – sind es die kleinen Details, die LA CHÈVRE von der reinen Gagparade zu einem rundum mitreißenden Erlebnis machen. Wie Pierre Richard felsenfest davon überzeugt ist, der eigentliche Boss zu sein, wie er Campana diesen gönnerhaften Knuff mit der Faust verpasst, wie er in einer zwielichtigen Spelunke mit einem Batzen Bargeld wedelt und wie Campana es einfach nicht fassen kann, das ist ganz großes Kino und schweißt einem diese beiden Figuren unauflöslich ans Herz. Ohne Frage eine der begnadetsten Komödien, die ich kenne.

Der kanadische Metalfan und Anthropologe Sam Dunn reist zu Beantwortung der Frage, was Metal als Musik auszeichnet, was Fans an der Musik schätzen und was es mit ihren Eigenheiten genau auf sich hat, auf Weltreise, landet beim größten Metalfestival in Wacken, begibt sich nach Norwegen zu fundamentalistischen Black Metallern und plaudert mit Metalgrößen wie Bruce Dickinson, Ronnie James Dio, Tony Iommi, Lemmy Kilmister, Alice Cooper, Geddy Lee, Vince Neil, Dee Snider, Rob Zombie, Tom Araya und Kerry King sowie diversen Wissenschaftlern, Plattenfirmen-Funktionären und natürlich Fans.

Das ist über 90 Minuten durchweg schwungvoll, unterhaltsam und leidenschaftlich, bleibt aber angesichts des enormen Pensums, das sich Dunn vorgenommen hat, auch sehr oberflächlich. Wer sich mit Metal auskennt, lernt hier kaum etwas Neues, bekommt lediglich Altbekanntes neu aufbereitet. Dass Metal den Bombast von Klassik mit der Aggressivität von Punk verbindet, dass es eine männlich dominierte Musik ist, in der es um Dominanzgebaren und „Power“ geht, dass sie sich mit Religion, Tod und Gewalt auseinandersetzt, dass ihre Fans ein hohes Maß an Fanatismus mitbringen, sind Allgemeinplätze, die kaum noch Informationswert besitzen. Dunn buhlt um Akzeptanz, widerlegt mithilfe von amüsantem Bildmaterial von Dee Sniders Auftritt vor dem Ausschuss von Tipper Gores PMRC das Vorurteil vom Metaller als dumpfem Hornochsen, lässt zahlreiche Soziologen und Musikwissenschaftler von der gesellschaftlichen Relevanz seiner Lieblingsmusik künden, ringt einem ehemaligen Groupie die Aussage ab, sie würde sich für ihrer Tochter ein ganz ähnliches Leben wüschen, und zeigt bei der Auseinandersetzung mit norwegischem Black Metal und seinen kriminellen Auswüchsen in den frühen Neunzigerjahren das gebotene kritische Bewusstsein. Das bleibt alles sehr im Rahmen des Erwartbaren und bei aller Kurzweil war ich doch etwas enttäuscht darüber, dass Dunn die Einladung, hier und da auch mal nachzuhaken, zugunsten der Zufriedenheit mit dem Naheliegenden ablehnt.

Die Frage, warum eine Musik, die von Outcasts für Outcasts gemacht wird, in den Achtzigerjahren zur populärsten Musik der Welt avancieren konnte, stellt er nicht. Den impliziten Chauvinismus, der mit dem erwähnten (männlichen) Dominanzgebaren einhergeht, tut er recht oberflächlich als emanzipatorisch ab, Zensoren als Spießbürger ohne Kunstverständnis. So sehr man ihm vor allem beim letzteren Punkt zustimmen mag: Dass eine Musik, der die Aufmüpfigkeit und das Aufbegehren gegen den Status quo quasi in die DNA eingeschrieben ist, diese Zensoren, die Protestbewegungen und die elterliche Empörung benötigt, scheint ihm gar nicht aufgefallen zu sein.

Neben Berlin, Hamburg, vielleicht noch Frankfurt, war Köln in den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren die deutsche Verbrechenshochburg: Es gab eine florierende Unterwelt, Prostitution und Drogenkriminalität, die die Polizei auf Trab hielt, aber eben auch auf diese spezielle Kölsche Art provinziell und familiär geprägt war (für ein fiktives Protokoll jener Zeit siehe auch Hofbauers HEISSES PFLASTER KÖLN). Zumindest ist das der Eindruck, der sich bei der Sichtung der knapp 90-minütigen Dokumentation WIR WAREN DAS MILJÖ einstellt, für die Regisseur Peter F. Müller einstige Nachtweltgrößen vom Zuhälter über den Rausschmeißer bis hin zum betuchten Freier „Professor Liebeskummer“, aber auch ehemalige Prostituierte und Polizeibeamte vor die Kamera geholt hat und ihnen eine Plattform bietet, ganz ungefiltert über die damalige Zeit zu reden. Ein bisschen unheimlich ist das zum Teil schon, wie die mittlerweile zu Großvätern gealterten Herrschaften da über ihre damalige Profession reden, ohne jedes Schuldbewusstsein, es war halt so, was will man machen, irgendwie ist man da so reingeschlittert und es war schon eine tolle Zeit. Aber, und das ist dann die Kehrseite, man glaubt es ihnen, und zieht diese intellektuell vielleicht etwas minderbemittelten, aber dann doch auch sehr ehrlich wirkenden Typen heutigen Vertretern der Zunft jederzeit vor. Selbst ihr Gegenspieler, der Kriminalbeamte, der das Casino-Imperium als Undercover-Agent einst zum bröckeln brachte, kann nicht anders, als zu beteuern, dass ein Handschlag im „Miljö“ damals mehr wert war als jeder Vertrag heute. Es ist dann auch vor allem die Naivität, mit der ein paar einfache Jungs damals ein Millionengeschäft aufzogen, ihre Knete für Rolex-Uhren, protzige Autos, Häuser und Pelzmäntel verprassten, das Bargeld in selbstgemauerten Vogelhäuschen im Garten bunkerten, die staunen lässt. Wie erschreckend unprofessionell das alles im Grunde genommen war, wie wenig Weit- und Umsicht die Protagonisten an den Tag legten und ihre Millionenvermögen schlicht verballerten, ohne auch nur einen Gedanken an das Morgen zu verschwenden.

Wahrscheinlich ist es auch das, was bei Sichtung von WIR WAREN DAS MILJÖ ein wenig melancholisch stimmt – auch wenn man immer mal wieder durchblitzt, dass es, etwas anders als von den versammelten Luden mit den putzigen Namen suggeriert, durchaus Opfer gab (die Prostituierte jedenfalls kann keine Goldkettchen mehr zu Schau stellen, anders als ihre einstigen „Arbeitgeber“): Dass hier ein Bild von Verbrechen gezeichnet wird, das noch deutlich mehr mit alten Räuberpistolen und Wildwest-Romantik zu tun hat, als die Nadelstreifen-Gangster von heute, die nicht mehr mit Faust und Klappmesser, sondern mit Taschenrechner und Anwalt aus der Sicherheit „sauberer“ Wirtschaftsbetriebe heraus operieren. Den Männern hier hört man gern zu, könnte ihnen stundenlang zuhören, wie sie da in Kölscher Mundart und mit zigarrenrauchgeschwängerter Stimme in Erinnerungen schwelgen, ihre furchigen, verlebten Gesichter und die kantigen Züge Ausweis eines Lebens, in dem es ordentlich zur Sache ging. Aber man ist ihnen auch ein Stück dankbar dafür, dass sie die Illusion durch das Verschweigen der besonders finsteren Kapitel ihrer Biografie aufrechterhalten. Die Leute, die die damalige Zeit anders in Erinnerung haben als sie hier dargestellt wird, können ihre Sicht der Dinge möglicherweise einfach nur nicht mehr zum Besten geben.

the children (tom shankland, großbritannien 2008)

Veröffentlicht: Dezember 20, 2014 in Film

Bevor zum ersten Mal seit Eröffnung dieses Blogs ein Monat ohne einen einzigen Eintrag verstreicht – ich schaue derzeit ausschließlich BREAKING BAD, feiere ein freudig-nostalgisches Wiedersehen mit MARRIED WITH CHILDREN und übe mich vor dem in Kürze anstehenden 14. Hofbauer-Kongress in Verzicht (aber vielleicht klappt’s über die kommenden Feiertag auch noch mit dem ein oder anderen Film) – verweise ich an dieser Stelle auf einen Text, den ich für die Reihe „Blutige Weihnachten“ auf critic.de geschrieben habe. Es geht dort, wie man dem Titel der Reihe unschwer entnehmen kann, um subversive Weihnachtsfilme und ich habe mich zu diesem Anlass Tom Shanklands großartigem THE CHILDREN gewidmet, der mich vor Jahren schon auf dem Fantasy Filmfest begeistert hatte. Schön festzustellen, dass er das auch heute noch tut.