Das Internet und sämtliche verfügbaren Nachschlagewerke sind sich einig, das BLOOD TIDE ein ziemlicher Heuler ist. Es ist schwer, ihnen da zu widersprechen. Die Story um einen Schatzsucher, der ein uraltes Monstrum aus seinem Schlaf weckt, ist wahrlich nicht der Stoff, aus dem die Superhits gemacht sind, und dass man besagtes Monster lediglich einmal ganz kurz sieht, in einer Szene, die nicht gerade angetan ist, einen vor Schrecken zusammensacken zu lassen, ist auch kein Argument für den Film, an dem immerhin Nico Mastorakis und Brian Trenchard-Smith sowie solche Akteure wie James Earl Jones und Jose Ferrer beteiligt waren. Aber es ist nicht zuletzt die mit diesen Personen verbundene Professionalität, die den Film über den Status des Billigschlocks hebt – und mich für BLOOD TIDE einnahm. Dass ich dem Film seit Jahrzehnten hinterherlaufe – der Verriss aus dem berüchtigten „Horror-Film-Lexikon“ von Hahn/Jansen hatte mich schon als Kind neugierig gemacht – hat sicher auch nicht geschadet.
Das Ehepaar Sherry (Mary Louise Weller) und Neil Grice (Martin Kove) segelt zu einer griechischen Insel, auf der Neil seine Schwester Madeline (Deborah Shelton) vermutet, eine Künstlerin. Vom verschwiegenen Bürgermeister Nereus (Jose Ferrer) werden sie alles andere als freundlich empfangen, offensichtlich mag er keine Eindringlinge auf der Insel. Kein Wunder, denn Madeline, eine Exzentrikerin, die sich der Aufgabe angenommen hat, alte Ikonen zu restaurieren und dabei in eine Art kultischer Exstase geraten ist, und Frye (James Earl Jones), ein versoffener Schatzsucher und ehemaliger Shakespeare-Darsteller, sind schon mehr als genug. Zumal Frye mit einer unterirdischen Sprengung ein Seeungeheuer aufweckt, das nach Menschenopfern verlangt.
Setting und Atmosphäre von BLOOD TIDE erinnern den Horrorfilm-Connoisseur natürlich unweigerlich an Joe D’Amatos Ägäis-Schocker ANTHROPOPHAGUS, was nicht die schlechteste Referenz ist. Jefferies Film ist dunkel, hypnotisch und langsam, dabei außerdem von seiner Wirkung überzeugt. Nie hat man den Eindruck, der Regisseur versuche nur das Beste aus seinen geringen Möglichkeiten zu machen. Dass man vergeblich auf das Monster wartet, ist ein bisschen schade, denn was könnte es cooleres geben als eine Auseinandersetzung mit einem Seeungeheuer, aber BLOOD TIDE lebt sowieso mehr von einer diffusen Bedrohung, von der Ahnung, dass da etwas Böses, Dunkles lauert, von dem Gefühl, dass wir Menschen viel, viel weniger wissen, als wir glauben, von der Macht, die Aberglauben und dunkle Mythen über uns haben. Und dieses dunkle Gefühl, dass sich tief unten in unserer Magengrube eingenistet hat, das fängt BLOOD TIDE meiner Meinung nach perfekt ein. Man muss sich nur darauf einlassen und sollte besser keinen spaßigen Monsterfilm erwarten. BLOOD TIDE schlafwandelt traumgleich an der Grenze zwischen Schlock und Kunst und wirft am Ende die Frage auf: Was war das denn? Filme, denen das gelingt, haben bei mir immer einen Stein im Brett.