Archiv für Januar, 2019

Gleich zu Beginn, macht Wyatt Earp (Henry Fonda) vor der imposanten Kulisse des Monument Valley mit dem vorbeireitenden Old Man Clanton (Walter Brennan) Bekanntschaft, der ihm das naheliegende Tombstone als „große, schöne, offene Stadt“ ans Herz legt. Zwei Dinge passieren während dieses kurzen Dialogs: Zum einen weiß der Zuschauer, der mit der von Legenden umrankten Geschichte Earps und der Schießerei am O.K. Corral vertraut ist, dass dieser Clanton mit seinem „Ausflugstipp“ nicht einfach nur nett zu dem Fremden ist. Schon wie dieser den sprechenden Namen „Tombstone“ ausspricht und Earp ihn dann arglos wiederholt, wird klar, dass hier jemand Böses im Schilde führt – was sich ja dann auch nur wenige Szenen später bestätigt. Zum anderen weckt seine Beschreibung der Stadt Erwartungen, die die Ansammlung von Häusern nicht im Geringsten zu erfüllen vermag. Tombstone ist (noch) nicht mehr als ein verzweifelter Versuchsballon für die Zivilisation: Schon wenige Minuten nach ihrem Eintreffen werden die drei Earp-Brüder beim Besuch des Barbiers fast erschossen, der Ort ist Anlaufstelle für Säufer, Ganoven, Glücksspieler, Huren und andere Verzweifelte. Das Eintreffen von Earp und später der titelgebenden Clementine Carter (Cathy Downs), einer Lehrerin aus Boston, markiert aber auch einen symbolischen Wendepunkt: Earp verkörpert Recht und Ordnung, Clementine Kultur und Bildung. Für die Clantons, aber auch für einen zerrissenen Charakter wie Doc Holliday (Victor Mature) und seine Freundin, die Prostituierte Chihuahua (Linda Darnell) ist kein Platz mehr. Sie müssen weichen, um den Weg für eine neue Weltordnung und die Idee der USA zu weichen.

Fords Verfilmung der Earp-Geschichte zählt zu den berühmtesten und bedeutendsten Western überhaupt, doch an einer Nacherzählung der historischen Ereignisse war der Regisseur, der damit seinen letzten Film für die Fox vorlegte, kaum interessiert. Die Freiheiten, die er (bzw. das Drehbuch) sich nahm, sind so groß, dass man fast den Eindruck haben kann, er wolle die Zuschauer darauf stoßen, dass es ihm nicht um eine Nacherzählung, sondern eine Mythologisierung ging. Dem stehen allerdings Aussagen gegenüber, in denen Ford behauptet, die Geschichte so authentisch wie möglich nachgeben zu wollen. Dabei sind die Abweichungen eklatant: Ford verlegte den Schauplatz der Geschichte ca. 500 Meilen nach Norden und ein Jahr nach hinten. Er machte aus dem Zahnarzt Doc Holliday einen Chirurgen und ließ ihn in der Schießerei am O.K. Corral den Opfertod sterben, statt ihn an der Tuberkulose verenden zu lassen. Auch bei den Earp-Brüdern und der Clanton-Familie nahm er es mit den Fakten nicht so genau. Und dass er aus Wyatt Earp, einem Falschspieler und Stammgast im Rotlichtmilieu einen tadellosen, rechtschaffenen Bürger machte, der der Zivilisation auf den Weg hilft, darf man beinahe als „whitewashing“ bezeichnen. Das klare Schwarz-Weiß des Films, das ihn nicht nur ästhetisch bestimmt, verursacht heute manchmal einen ideologischen Schluckauf: Speziell an der Figur der Chihuahua, die nicht nur sündige Prostituierte sondern auch noch ein Latino ist, lässt Ford kaum ein gutes Haar. Aber MY DARLING CLEMENTINE verfügt eben in anderer Hinsicht über solch zahlreiche Stärken, dass es relativ leicht fällt, darüber hinwegzusehen. Zumal es Ford eben, wie gesagt, nicht so sehr darum ging, Realitäten abzubilden, sondern überlebensgroße Mythen und archetypische Figuren zu schaffen.

Kritiker hoben an dem Film immer die poetische Kraft seiner Ruhepausen hervor: Auch wenn ich jetzt an die Sichtung zurückdenke, erinnere ich mich weniger an seine vereinzelten Action Set-Pieces oder den Showdown, sondern an diese ruhigen Momente der Introspektion: Earp, wie er im Stuhl wippend vor seinem Sheriff-Büro sitzt und seinen Gleichgewichtssinn austariert. Wie er die nahezu menschenleere Straße beobachtet, die sich durch Tombstone zieht – oder vielmehr daran vorbeiläuft, denn viel mehr als eine Häuserzeile ist da nicht. Dann der gemeinsame Tanz mit Clementine beim Richtfest einer Kirche, wie er seinen Hut wegwirft ihr den Arm reicht und sie dann zur Tanzfläche führt. Wie seinen Abraham Lincoln in YOUNG MR. LINCOLN versieht Fonda auch seinen Wyatt Earp mit einer unerschütterlichen inneren Ruhe und einem unstillbaren Verlangen nach dem, was hinter dem Horizont liegt. Zunächst angetrieben von dem einfachen Wunsch, den Mörder seines Bruders zur Strecke zu bringen, verwandelt sich sein Streben im Verlaufe des Films nahezu unmerklich. Der Kampf gegen die Clantons wird zu einem Kampf für die Zivilisation selbst, gegen die rohe Wildheit des Westens, die Tombstone zwar noch gefangen hält, deren Griff aber zu zittern beginnt. Beide Seelen kämpfen dann auch in Doc Holliday Brust: schwarz gewandeter Falschspieler, Revolverheld und Partner einer Prostituierten auf der einen, Ex-Verlobter der braven Clementine, Arzt und Literaturkenner auf der anderen. Es ist ein klassischer Western-Topos, dem Ford hier zu kristalliner Form verhilft: das Alte, das gehen muss, um dem Neuen Platz zu machen. Aber Ford zeichnet diesen Umbruch nicht als Zeit des Tumults, vielmehr vollzieht er sich mit der Gelassenheit und Ruhe, die das Voranschreiten der Zeit selbst auszeichnet. Earp Entschlossenheit gibt den Ausschlag, aber auch er scheint weniger ein Mann der großen Entscheidungen, als ein Katalysator, durch den sich der Willen der Geschichte vollzieht. Was für ein jämmerlicher Klecks ist Tombstone gegenüber der ungerührten Majestät der Naturdenkmäler des Monument Valley?

MY DARLING CLEMENTINE gilt heute als einer der besten Western aller Zeiten, als Meilenstein des amerikanischen Films und natürlich als einer von Fords wichtigsten Filmen, aber damals war man sich darüber keineswegs einig. Die Kritik war zwar wohlwollend, aber eher zurückhaltend, oft wurden der Mangel an Action, der introvertierte Ton und Fords „Naturfetischismus“ kritisiert. Dabei hatte Zanuck, dem Fords Stil „zu lässig“ war, den Film bereits kürzen und umschneiden lassen, dazu noch Szenen nachgedreht, was Ford erwartungsgemäß erzürnte. Zu den Änderungen gehörte u. a. der Kuss, den Earp Clementine am Ende statt des von Ford gedrehten Händedrucks gibt, sowie eine sehr kitschige Szene, die Earp am Grab seines Bruders zeigt. Glücklicherweise konnten auch solche Eingriffe in die Autonomie des Künstlers dem Film keinen bleibenden Schaden zufügen. Er steht heute noch genauso monumental da wie vor 80 Jahren.

Episode 182: Kein Ende in Wohlgefallen (Theodor Grädler, 1990)

Ralf Kargus (Michael Roll) hört auf dem Anrufbeantworter die verzweifelte Stimme seiner Schwester, die ihren Selbstmord ankündigt. Seine Hilfe kommt dennoch zu spät: Er findet nur noch ihre Leiche. Von ihrem Chef und Geliebten Tessinger (Jürgen Heinrich), dem Geschäftsführer einer Werbeagentur, für die Kargus‘ Schwester als Model arbeitete, erfährt er, dass sie bei einer Betriebsfeier von zwei wichtigen Kunden vergewaltigt worden sei. Wenig später ist der erste der beiden mutmaßlichen Täter tot …

Die Neunzigerjahre beginnen mit einer angestrengten Episode, die – wie so oft bei Reinecker – nur die äußere Form eines klassischen Krimis hat, eigentlich aber das Psychogramm eines ganz normalen Mannes sein will, der zum Mörder wird und daran letztlich zerbricht. Es ist ein Kunstgriff, den Reinecker nicht zum ersten Mal versucht, der hier aber gründlich in die Hose geht. „Kein Ende in Wohlgefallen“ ist fürchterlich angestrengt und theatralisch: Natürlich fängt Kargus an zu trinken (Whisky, was denn sonst?), entwickelt tiefe Ringe unter den Augen und eine Neigung für fatalistische Monologe mit leerem Blick in die Halbdistanz. Natürlich weiß Derrick sofort, dass es sich bei Kargus um den Mörder handelt, auch wenn jegliche handfesten Beweise fehlen. So weit, so bekannt, aber während Reinecker das Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Kriminalisten und dem Täter sonst spannend zu gestalten weiß, schlägt er hier lediglich Zeit tot. Am Ende wirft Kargus ganz einfach das Handtuch und gibt zu, was Derrick von Anfang an wusste. Wirklich hervorstechend ist hier nur die modische Geschmacksverirrung, die beweist, dass die späten Achtziger/frühen Neunziger einfach die Hölle waren. Vor allem Susanne Uhlen sieht aus, als habe sie sich zum Karneval verkleidet.

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Episode 183: Tödliches Patent (Horst Tappert, 1990)

Dr. Curtius (Peter Simonischek) ist Mitarbeiter im Patentamt. Eines Tages bekommt er von Dorn (Peter Bongartz), der im Auftrag des Unternehmers Kastrup (Karl Heinz Vosgerau) handelt, ein verlockendes Angebot: Details über das gerade von ihm bearbeitete Patent sind Kastrup eine Million DM wert. Curtius ist empört – und wird nur wenig später tot im Archiv des Patentamtes aufgefunden …

Tapperts fünfte Regiearbeit ist etwas eigenwillig konstruiert, aber nicht ohne Reiz: Der Mörder ist dem Zuschauer bekannt, auch sein Motiv bleibt nicht lang verborgen und die Aufklärung kostet Derrick kaum mehr als eine Viertelstunde Spielzeit. Die Episode bezieht ihren Reiz aus dem im Rahmen der Serie noch nicht ganz so totgetretenen Thema der Wirtschaftskriminalität, aus dem breiten Inventar involvierter Figuren und dann natürlich aus Peter Bongartz‘ Darstellung des gewissenlosen Halsabschneiders, dem mit Udo Vioffs verzweifeltem Dr. Spitz wieder einmal ein besonders jämmerlicher Charakter gegenübersteht. Dazu kommen einige inszenatorische Absonderlichkeiten, wie die nicht gerade an die Eleganz von Peckinpah oder Woo erinnernde Zeitlupenstudie des Mordes, die Idee, dass sich der tödlich Verwundete mit letzter Kraft auf ein Transportband für Dokumente schleppt, mit dem er dann durchs Archiv gefahren wird, und die Untermalung eines Leichenfundorts – ein Canyon-artiger Steinbruch – mit dem Krächzen einer Krähe. Am Schluss gibt es – ebenfalls nicht unüblich zu dieser Zeit – die grobe Moralkeule: Die Aussage von Curtius Vorgesetztem, dass der Konkurrenzkampf unter den Dächern der Unternehmen bisweilen über Leichen führe, wird von Derrick mit der rhetorischen Frage gekontert, ob sich diese Aussage nicht auf alle Dächer verallgemeinern lasse, woraufhin die Kamera suggestiv über München schwenkt. Nein, man kann wirklich nicht sagen, dass 16 Jahre DERRICK Reinecker gelassener gemacht haben. Die Serie wird von Staffel zu Staffel resignierter.

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Episode 184: Judith (Zbynek Brynych, 1990)

Die Pianistin Judith Loska (Evelyn Opela), die sich gerade auf Welttournee befindet, nimmt in New York einen Anruf ihrer Tochter (Svenja Pages) entgegen: Die weint ins Telefon, dass „sie“ sie umbringen wollten, weil sie ihnen gedroht habe, sie anzuzeigen, wenn sie ihr keinen Stoff beschaffen. Sie schließt mit der Frage „Warum hast du dich nicht um mich gekümmert, Mama?“ Die Mutter ist entsetzt, bricht ihre Tournee ab und reist sofort nach München, wo ihr Professor Laux (Klaus Herm), Lehrer und Vertrauter der Tochter, die traurige Nachricht von ihrem Tode überbringt: Sie verstarb auf der Toilette einer miesen Absteige an einer Überdosis. Die mit Schuldgefühlen ringende Musikerin erstattet Anzeige wegen Mordes und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln …

Eine wahrhaft unerhörte Folge, mit der Brynych der divenhaften Evelyn Opera ein Denkmal setzt. Ihr Abstieg in den Münchener Sündenpfuhl darf als das deutsche Fernsehäquivalent zu einem Ferrara-Film gelten, der darin kulminiert, dass die vornehme Dame sich sogar vom traurig-notgeilen Kellner Biber (Walter Renneisen) auf die schmuddelige Matratze seines ranzigen Appartements zerren lässt (nachdem sie mit ihm – na, was wohl? – Whisky aus schmutzigen Gläsern getrunken hat), um eine Information von ihm zu erhalten. Später wird sie dann noch von den Schergen des Drogendealers Niewald (Uli Krohm) in den Kofferraum eines Geländewagens und anschließend eine Böschung runtergeschmissen (Zeitlupe). Irgendwie drehen Reinecker und Brynych das aber so, dass der Abstieg von Judith Loska nicht sie beschmutzt, sondern den eigentlich ja ach so gutherzigen Loser Biber erhöht: Er beweist am Ende Rückgrat, als er Niewald mit seiner Aussage ans Messer liefert, bekommt dafür einen festen Händedruck von Derrick und ein tränenfeuchtes Lächeln der Musikerin. Sein geiles, lüsternes Keuchen, das ihm entweicht, als er die attraktive Milf in seiner Absteige begrüßen und sich dann schließlich auf sie werfen darf, hat man bei diesem „Happy End“ aber immer noch im Ohr und es terminiert den möglicherweise angestrebten Effekt nicht unwesentlich. Peter Kuiper spielt den Wirt besagter Pinte, Sabi Dorr mal wieder einen Drogenkriminellen, Holger Petzold den Drogenfahnder. Überraschender ist die Tatsache, dass Klaus Herm mal nicht den traurigen Hausmeister geben darf. Ja, und die Opela, die Meisterin der zitternden Stimme. Sie transzendiert diese Episode Brynychs zu einem Sleazemelodram allererster Güte. Epochal!

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Episode 185: Tossners Ende (Günter Gräwert, 1990)

Die dubiosen Praktiken des Immobilienhais Tossner (Günter Gräwert), der Häuser kauft und die Bewohner auf die Straße setzt, führen zum Selbstmord eine kleinen Jungen. Dessen Lehrer Kraus (Walter Plathe) versucht Tossner zur Rede zu stellen, wird aber ständig abgewimmelt und entwickelt darüber Hass und Mordgedanken: Allabendlich steht er vor dem Gittertor von Tossners Anwesen und überzieht den Kapitalisten mit Schmährufen und Morddrohungen, die er dann in seinen Träumen in die Tat umsetzt. Eine Tatsache, die er der Psychotherapeutin Anita Rolfs (Gaby Dom) gesteht und diese wiederum an ihren arbeitslosen Bruder Albert Thomas Fritsch) weitergibt. Der sieht nun seine Chance auf einen neuen lukrativen Job: Mit der Warnung vor einem Mordanschlag wird er bei Tossners Gattin Carola (Gila von Weitershausen) vorstellig. Was er nicht ahnt: Die will ihren Mann schon seit langem loswerden …

Man könnte die Handlung von „Tossners Ende“ als „konstruiert“ bezeichnen, zumindest ist sie ziemlich ehrgeizig für eine knapp einstündige Fernsehepisode. Das sieht man auch daran, dass deren Namensgeber, Kriminal-Oberinspektor Derrick erst nach der 30-Minuten-Marke seinen ersten Auftritt hat. Aber das ambitionierte Projekt gelingt, gerade weil Reineckers Drehbuch so viele Haken schlägt und Ideen für drei Episoden in eine packt. Was wie eine typische Rachegeschichte beginnt, verwandelt sich erst in die ebenfalls bekannte Story vom auf den eigenen Vorteil bedachten Emporkömmling, nur um dann in einer Paraphrase auf Fritz Langs DOUBLE INDEMNITY zu münden. Der Schlussgag ist für einen der Unglücksseligen richtig böse und zeugt wieder von Reineckers Verachtung für das Großbürgertum, das immer am längeren Hebel sitzt und über die finanziellen Möglichkeiten verfügt, sich von aller Schuld reinzuwaschen. Gila von Weitershausen ist wunderbar giftig als Münchener Variante der eiskalten Barbara Stanwyck, Thomas Fritsch hat bereits Erfahrung als schmieriger Egoist (komplett mit Telefon in Form eines Sportwagens), der sich für schlauer hält, als er tatsächlich ist, und Regisseur Günter Gräwert setzt seine mürrische Präsenz ebenfalls zu großem Effekt ein. Der melodramatische Aspekt um den Tod des kleinen Jungen ist das Schaumkrönchen obendrauf: Wenn der ergriffene Lehrer ein naives, simpel mit „Ich“ überschriebenes Selbstbildnis seines toten Schülers an seine Pinnwand heftet, surrt der Reinecker’sche Manipulationsmotor auf Hochtouren.

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Episode 186: Höllensturz (Günter Gräwert, 1990)

Der junge, etwas naive Azubi Benno Sebald (Philipp Moog) lernt auf einer Zugfahrt den charismatischen Betrüger Arnold Kiesing (Wolf Roth) kennen, der mit Druckplatten auf dem Weg nach München ist, um sich dort mit dem Falschmünzer Liebner (Hanno Pöschl) zu treffen. Als die beiden am Bahnhof auf eine Polizeikontrolle stoßen, übergibt Kiesing den Koffer mit dem wertvollen, aber illegalen Inhalt an Sebald, der dem Charme des Ganoven hoffnungslos erlegen ist. Doch dessen Vater alarmiert die Polizei, nachdem er die Geschichte des Sohnes gehört hat. Derrick, der gerade in einem Mordfall ermittelt, wird hellhörig, denn er findet heraus, dass der Tote ein alter Bekannter jenes Kiesings war, der nun so höchst dubios auffällig geworden ist. Doch der schmettert alle Verdächtigungen ab und beginnt in der Folge, den jungen Sebald und Liebners Schwester Kiwi (Jeannine Burch) mit seinem Geld zu verführen. Dahinter steckt eine Art philosophisches Experiment des Betrügers, der nur noch sechs Monate zu leben hat …

Das Erfolgsgeheimnis dieser Gräwert-Episode lässt sich in zwei Worte fassen: Wolf Roth. Der im deutschen Film leider sträflich unterbeschäftigte Schauspieler stellte sein endloses Schurkenpotenzial und diabolisch-schmieriges Charisma bereits in der Tappert-Folge „Entlassen Sie diesen Mann nicht!“ unter Beweis, wo er sich die Aufmerksamkeit allerdings noch mit Pinkas Brauns Psychopathen teilen musste. Hier steht er ganz und gar im Mittelpunkt und reißt mit seinem Spiel jede Szene an sich – allerdings ohne dafür auf prahlerische Taschenspielertricks zurückzugreifen. Vielmehr gelingt es ihm, jenes überbordende Selbstbewusstsein, den virilen Sex-Appeal, überlegene Intelligenz und nicht zuletzt jenen Style, gegen den Derrick und Klein einfach nicht anstinken können, zu verkörpern. Er erfüllt schon die kleinen Gesten und Aussagen mit einer immensen Autorität und zeichnet so höchst überzeugend einen Mann, der nichts dem Zufall überlassen mag, weil das Leben dafür zu kurz ist und er immer der Beste sein will. Die Moritat von der zum Bösen verführten Jugend wird durch seine Darbietung erst glaubwürdig: Es ist klar, dass Philipp Moog mit seinem Popperscheitel und Jeannine Burch mit ihrem Püppchengesicht und den Kulleräuglein keine Chance gegen ihn haben, und der Zuschauer weiß: In einer vergleichbaren Situation würde auch er den verführerischen Einflüsterungen dieses weltgewandten Herren hoffnungslos erliegen. Wenn Kiesing Derrick bei einem Ausflug in die Pinakothek philosophische Vorträge über das Wesen von Gut und Böse hält, ist es Roth, der Reineckers für eine Vorabendserie reichlich gespreiztem Einfall die Anmutung großen Kinos verleiht. Die Wendung mit der tödlichen Krankheit hätte es eigentlich nicht gebraucht und sie wirkt redundant, weil dieser Kiesing auch so jederzeit als neugieriger und experimentierfreudiger Spieler durchgeht, der Menschen nur aus Spaß und weil er es kann durch die Gegend schiebt wie Schachfiguren. Da erkennt man wieder Reineckers manchmal fehlgeleitetes Bedürfnis, allem einen existenzialistisch-pessimistischen Anstrich zu verleihen. Letztlich spielt das für den Erfolg von „Höllensturz“ aber keine Rolle. Nicht einmal eine Discoszene, in der Moog und Burch unbeholfen zum 89er-Sommerhit „Lambada“ schwofen, kann von Wolfs Leistung ablenken: Dessen Kiesing steht angenervt von der Mittelmäßigkeit seiner Spielzeuge an der Bar und kippt sich einen Drink rein. Es sei ihm gegönnt.

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Episode 187: Der Einzelgänger (Zbynek Brynych, 1990)

Weil der verdeckte Ermittler Ingo (Heiner Lauterbach) ein Date mit seiner Freundin (Katja Flint) hat, geht sein Freund und Partner Roth (Walter Platte) allein auf Ermittlungstour. In einer Kneipe stößt er auf Bollmann (Claude-Oliver Rudolph), der für den dubiosen Geschäftsmann Sundermann (Dirk Galuba) arbeitet – Mann, Mann, Mann – und Roth für eine illegale Lkw-Fahrt anheuert, von der der Cop jedoch nicht zurückkommt. Als seine Leiche zwei Tage später gefunden wird, ist Ingo außer sich. Gegen den Rat Derricks stellt er eigene Nachforschungen an und geht dazu eine Liaison mit der Kellnerin und Prostituierten Malikowa (Ute Willing) ein. Bald sucht Bollmann wieder einen Fahrer …

Seit den späten Siebzigern, in denen Lauterbach noch als Nebendarsteller in zwei DERRICK-Folgen aufgetaucht war („Ein Hinterhalt“ und „Anschlag auf Bruno“), war viel passiert: Mit Doris Dörries MÄNNER war der gebürtige Kölner zu einem der bekanntesten und beliebtesten deutschen Schauspieler aufgestiegen, der ein ganz anderes Prestige mitbrachte, wenn er in einer alteingesessenen Serie wie DERRICK auftauchte. Von daher ist es auch kein Wunder, dass Brynych sich hier sehr zurücknimmt und sich auf die Zugkraft seines Stars verlässt, der ja auch eine sympathische Darbietung abliefert. Seine Schuld ist es sicher nicht, dass „Der Einzelgänger“ am Ende trotz des großen Namens ein wenig nach Enttäuschung schmeckt: Die Story ist ein bisschen zu einfach gestrickt, die Bösen sind zu eindimensional und gesichtslos – auch wenn Claude-Oliver Rudolph als Gummibärchen essender Prolet mit Jackett und Halstuch schon ein Hingucker ist -, das große Finale ist trotz eifrig telegrafierter Hochspannung alles andere als nervenzerrend. Lediglich die Beziehung von Ingo zu Malikowa bringt etwas Leben in die klischierten Abläufe rein. Ute Willing ist dann auch die eigentliche Sympathiefigur und weil Reinecker das weiß, schreibt er ihr eines seiner manipulativ-zynischen Enden ins Drehbuch. Dieser Kniff lässt zwar noch einmal aufmerken, ist aber dann doch irgendwie durchschaubar und aufgesetzt.

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Episode 188: Des Menschen Feind (Günter Gräwert, 1990)

Die Obdachlose Lissy (Cornelia Froboess) wird erdrosselt am Bahnhof gefunden. Wessel (Otto Bolesch), ein Bekannter von ihr, berichtet Derrick, dass die Frau in den letzten Wochen regelmäßig prominenten Besuch hatte: Die alternde Schauspielerin Lotte Wegener (Ruth-Maria Kubitschek) suchte sie auf, um sich auf eine Filmrolle vorzubereiten …

Nach „Die Rolle seines Lebens“ ist „Des Menschen Feind“ schon die zweite im Filmgeschäft angesiedelte Episode, die ihr Potenzial leider nicht heben kann. Die Ursache ist in beiden Fällen die gleiche: Reinecker betrachtet Filmschaffende offensichtlich mit einigem Argwohn und ergeht sich deshalb in einer wahren Flut von überzogenen Klischees, über die man schmunzeln könnte, wenn da nicht seine beinahe heilige Ernsthaftigkeit und Herablassung wären, die sich nur schlecht mit unfreiwilligem Humor vertragen. Klar, wenn die von Ruth-Maria Kubitschek gespielte Diva da am laufenden Meter Spott, Demütigungen und Beleidigungen aus dem Mund des geckenhaften Regisseurs Kubik (Peter Sattmann) (und Harry!) über sich ergehen lassen muss – unter anderem wird über sie gesagt, dass sie durch keine Tür komme, die ihr nicht aufgehalten würde, dass sie „leer“ und „oberflächlich“ sei, eine „Nutte“ noch dazu -, ist das angesichts der immer etwas staatstragenden Aura, die die Kubitschek umweht, nicht ohne Reiz und Witz: Wenn mit jenem Regisseur zu diesem Zweck aber erst eine Figur konstruiert werden muss, in der wirklich alle Vorurteile, die der kleinbürgerliche Mob gegenüber Intellektuellen und Künstlern haben kann, vereint werden, ist der Preis dafür deutlich zu hoch. Auch davon abgesehen ist „Des Menschen Feind“ keine dichterische Glanzleistung Reineckers: Mit ihren ellenlangen Rückblenden ist die Geschichte ausgesprochen unelegant geschrieben und konstruiert. Die Episode ist steif und gemessen an dem haarsträubenden Unfug, der da verzapft wird, noch dazu übermäßig von ihrer eigenen Wichtigkeit überzeugt. Das ist zwar nicht ganz untypisch für die Episoden jener Zeit, in denen der Zeigefinger mit Nachdruck erhoben wird, fällt hier aber besonders unangenehm auf.

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Episode 189: Tod am Waldrand (Wolfgang Becker, 1990)

Robert Fischer (Stefan Reck) wurde von seiner Freundin Hetti (Mia Martin) verlassen und lässt sich deshalb volllaufen, bevor er auf die Idee kommt, ihr auf dem Heimweg vom Tanzunterricht nachzustellen. Wenig später kommt er völlig aufgelöst zu Hause an: Er habe Hetti umgebracht, wimmert er. Sein Vater (Traugott Buhre), ein Patriarch, wie er im Buche steht, trifft sofort Vorkehrungen, die Tat des Sohnes zu verschleiern. Dass der geistig behinderte Gärtner Manni (Rufus Beck) mit Hettis Fahrrad aufgegriffen wurde, passt ihm sehr gut ins Konzept …

„Tod am Waldrand“ ist mal wieder ein Rückgriff auf jene Episoden aus den Siebzigerjahren, in denen Reinecker das entitlement des Bürgertums, vor allem seiner stolzen Vaterfiguren, aufs Korn nahm, doch lässt er den Papa, der da vor Belastungszeugen mit dem Geld wedelt, um den Sohnemann vor dem Knast zu schützen, mit seiner Last-Minute-Auflösung vom Haken. Zwar liefert er mit dem mittelalten, notgeilen Tanzlehrer Fries (Volker Brandt in seinem traurigerweise einzigen DERRICK-Auftritt) einen anderen seiner Lieblings-Tätertypen ans Messer, aber das wirkt hier eher wie ein aus der Not geborener Drehbuch-Stunt, weil er sich nicht selbst kopieren wollte. Und die Inklusion des entrückten, in seiner eigenen Welt lebenden Naturburschen Manni mutet auch ein wenig zynisch an: Er ist nur dazu da, diese selbstsüchtigen Erfolgsmänner im Kontrast noch armseliger aussehen zu lassen, gerade weil sie in dem Behinderten gleich den unberechenbaren Psychopathen ausgemacht haben wollen. Ein paar kleine Details haben mir in dieser okayen Folge aber dennoch gefallen: So muss Harry den Fall allein lösen, weil Derrick wegen Kreislaufproblemen zu Hause weilt. Als er von seinem Schicksal erfährt, knickt er fast ein: „Wir brauchen dich! Die nehmen mir den Fall doch gleich weg!“ Wirklich traurig, dieses mangelnde Selbstbewusstsein, nach nun über 20 Jahren im Polizeidienst. Dann sind da die Szenen in der Tanzschule, bei denen kleinen Mädchen, die den Modetanz Lambada aufs Parkett legen, völlig enthemmt unter den Rock gefilmt wird: Das könnte man heute so definitiv nicht mehr bringen. Und dass zum Schluss „Shine on you crazy diamond“ von Pink Floyd erklingt, hätte ich auch nicht erwartet.

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Episode 190: Abgrund der Gefühle (Horst Tappert, 1990)

Ein Kellner wird auf offener Straße erdrosselt. Der zufällig vorbeikommende Arzt Dr. Schöne (Christian Kohlund) stellt den Tod fest und meldet sich fortan regelmäßig bei Derrick, um sich über den Fortschritt der Ermittlungen zu erkundigen und wertvolle Hinweise zu geben. Offensichtlich hatte der Tote gemeinsam mit zwei Partnern ein synthetisches Rauschmittel produziert …

Durchschnittsepisode, bei der Derrick und Harry viel zu spät auf die Idee kommen, dass der neugierige Helfer hinter den Morden stecken könnte. Reineckers Horrorfantasien über die Wunderdroge, die wie ein „Blitz“ ins Hirn schlägt und sofort alles auslöscht, wirken zudem wie die Wahnvorstellungen eines Ahnungslosen: In dem „Labor“, dass die Heisenbergs für Arme (Christoph Eichhorn und Christian Berkel) da im Keller aufgebaut haben, könnte man wahrscheinlich noch nicht einmal Placebos herstellen, geschweige denn eine sofort wahnsinnig machende Killerdroge. Der Besuch bei einem nur noch apathisch in die Gegend starrenden Drogenopfer endet in einem Schreikrampf und einer Attacke auf den Kriminaloberinspektor, die diesen sichtlich aus der Fassung bringt: Eine Szene, die Reinecker der deutlich besseren Episode „Der Todesengel“ entlehnt hat.

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Episode 191: Der Augenblick der Wahrheit (Alfred Weidenmann, 1990)

Der vorbestrafte Kurt Schenk (Jochen Horst) plant mit seinem Kumpan Hauk (Walter Renneisen) einen Bankraub, auf den er unbedingt seine Untermieterin und ihm hörige Geliebte Kati (Heike Faber) mitnehmen will. Doch dann geht alles schief: Erst ergreift die Freundin die Flucht, fällt dabei vor Zeugen auch ihr Name, dann erschießt Hauk einen zufällig Hinzugekommenen. Nicht der einzige ungute Zufall für die Täter: Katis Vater (Charles Brauer) ist Polizist, darüber hinaus mit Derrick bekannt und macht sich Sorgen um die Tochter, weil er weiß, dass sie mit einem Kriminellen zusammenlebt: Er ringt dem Kollegen den Gefallen ab, sich nach dem Wohlbefinden der Tochter zu erkundigen. Das tut Derrick und muss danach nur noch eins und eins zusammenzählen. Als Hauk davon erfährt, dass ein Polizist der Freundin des Partners nachschnüffelt, wird es gefährlich …

Die zentrale Verkettung von Zufällen muss man natürlich erst einmal schlucken, aber da Kunststück gelingt: Zum einen, weil Reinecker mit seinem Protagonisten selbst weiß, wie unwahrscheinlich das eigentlich ist, zum anderen, weil das moralphilosophische Meditieren Reineckers hier endlich einmal durch Plot und Charaktere getragen und nicht bloß über diese gestülpt wird. Im Zentrum steht Horsts Kurt Schenk: Der entpuppt sich im Verlauf der Folge immer mehr als skrupelloser Manipulator und Egoist, nachdem er in den ersten Szenen noch wie ein naiv-romantischer Träumer wirkte. Die Episode lebt wesentlich vom Spannungsverhältnis zwischen ihm und seiner Freundin sowie von der Frage, ob er bereit ist, einmal jemand anderen als sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Eine gut geschriebene Folge, die ohne die üblichen Reinecker’schen Manierismus auskommen darf und einfach läuft wie eine gut geölte Maschine. Schön. Auch die Szene, in der eine Figur offensichtlich ein Best-of von Wolfgang Fiereks Motorradszenen aus „Ein merkwürdiger Tag auf dem Lande“ im Fernsehen schaut.

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Episode 192: Beziehung abgebrochen (Zbynek Brynych, 1990)

Ilona Reichel (Evelyn Opela) hat mehrere Verhältnisse zu jüngeren Männern, unter anderem auch zu Gottlieb Kraus (Thomas Kretschmann), pikanterweise ein Student ihres Mannes, eines Philosophieprofessors (Michael Heltau). Als Gottlieb nur kurz nach einem Schäferstündchen mit der älteren Frau in seiner Wohnung erschossen wird, verdächtigt Ilona Reichel sofort ihren Gatten, zumal der einen Zettel mit den Namen ihrer Geliebten in der Schublade hat. Der überredet seinen Studenten Harald Bessemer (Stefan Reck), ihm ein Alibi zu geben …

Reinecker philosophiert mal wieder: Die Grenze zwischen seiner Verachtung für Herrenmenschen wie Reichel, die sich solchen banalen Dingen wie „Moral“ und „Rücksicht“ nicht länger verpflichtet fühlen, und seiner Faszination verwischt zusehends. Mit seinen selbstverliebten Ethikmonologen geht der Philosophieprofessor locker als Alter ego des Drehbuchautors durch, der kaum noch verhehlen kann, dass ihn das schnöde Krimigedöns eigentlich kaum noch interessiert. Bis zu seinem schönen, inspirierten Schlusstwist, der die allgemeine Hoffnungslosigkeit wie ein Lichtstrahl durchbricht, ist „Beziehung abgebrochen“ eher uninteressant, lebt einzig von seinem wirklich hassenswerten Antagonisten, dem Heltau eine arrogante Visage zum Reinschlagen verleiht, und der mal wieder theatralisch leidenden Gattin, gegeben von der unnachahmlichen Evelyn Opela.

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Episode 193: Solo für Vier (Franz Peter Wirth, 1990)

Die vier Rentner Steckel (Carl Raddatz), Larossa (Peter Pasetti), Koppel (Klaus Herm) und Labuch(Gisela Uhlen) haben keine Lust auf ein trauriges Leben im Altersheim. Also beschließen sie, einen Bruch zu begehen: Koppel kundschaftet seinen alten Arbeitgeber aus, die von Steckel beschafften Profis Kessler (Ralph Herforth) und Steiner (Michael Diekmann) setzen in die Tat um. Blöderweise funkt ihnen ein Wachmann dazwischen und wird von ihnen erschossen. Derrick kommt den Rentnern schnell auf die Spur …

Mal wieder eine Rentnerfolge, deren dank des gutgelaunten Spiels der alten Herrschaften – vor allem Raddatz und Pasetti haben sichtlich Freude an ihren saftigen Parts als Ex-Cop bzw. Ex-Bühnenstar – über weite Strecken beschwingter Ton von Reineckers Philosophiererei erfolgreich torpediert wird. Sogar Harry verliert angesichts dieses ständigen Gelabers über das Wesen des Menschen langsam die Nerven: Als Derrick anfängt, darüber zu schwadronieren, dass die Rentner „den Endpunkt“ erreicht hätten – einen Zustand, in dem sich der Mensch von jeder Moral verabschiedet -, entgegnet Harry nur: „Ich glaube, du spinnst!“ Und da hat er ja auch wirklich Recht. Ich war richtig stolz auf den ewigen Hiwi.

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Episode 194: Caprese in der Stadt (Alfred Weidenmann, 1991)

Nein, hier geht es nicht um vergiftete italienische Antipasti: Familie Runold (Gerd Anthoff und Esther Hausmann) wird vom Mafiosi Caprese (Reno Remotti) bedroht, dem Großvater der Runold-Tochter. Er möchte das Kind zu sich holen, weil er sich seit dem Tod ihres leiblichen Vaters einsam fühlt. Gaug (Wolf Roth) und ein Anwalt (Hans Korte) fungieren als seine Handlanger vor Ort.

„Caprese in der Stadt“ hat das Pech, zu einem Zeitpunkt entstanden zu sein, als Reinecker offensichtlich unter dem Einfluss von zu viel Rotwein und nur halbverstandener Nietzsche-Lektüre stand. Statt geiler Mafia-Action gibt es also einen TV-Auftritt Derricks, in dem dieser über den Zustand der Menschheit und der Zivilisation schwadroniert, und den Waschlappen Gerd Anthoff, der die ganze Episode über rumjammert und am Ende sogar ernsthaft überlegt, ob es die Stieftochter beim Mafia-Opa wirklich so schlecht hätte. Wolf Roth wird total verschenkt und der einsame „Höhepunkt“ ist der peinliche Auftritt einer angeblich sizilianischen Popgruppe, die gerade mächtig die Szene aufmischt, was angesichts ihres lahmen Valium-Pops kein gutes Licht auf das Kulturangebot im München der frühen Neunziger wirft. Das Ende soll bewegend sein, ist aber ziemlich ekelhaft.

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Episode 195: Gefährlicher Weg durch die Nacht (Günter Gräwert, 1991)

Auf dem Heimweg wird Benno Hauke (Rufus Beck) Zeuge, wie Jürgen Klose (Christian Berkel) von zwei Männern attackiert und angeschossen wird. Der Sterbende schleppt sich mit Bennos Hilfe in eine Telefonzelle, von der aus er einen gewissen Dr. Schöler (Gerd Baltus) anruft und diesem schildert, der Koffer, den er bei sich trage, sei ihm abgenommen worden. Anschließend übergibt er ihn dem jungen Mann mit der Ergänzung, dass es sich bei dem darin enthaltenen Geld um Drogengeld handele, mit dem er machen solle, was er will. Benno nimmt den Koffer mit nach Hause und meldet den Mord dann der Polizei – den Koffer erwähnt er vorerst nicht …

Nette Episode, die kommt und geht, ohne große Spuren zu hinterlassen. Nett ist, dass der Protagonist angesichts des zum Greifen nahen Reichtums nicht alle Überzeugungen über Bord wirft, sondern die Beute benutzt, um die Schurken in die Falle zu locken. Nach all den Folgen voller bedeutungsschwangerem Moral-Geraune ist es sehr wohltuend, diesmal davon verschont zu bleiben.

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Episode 196: Das Penthaus (Theodor Grädler, 1991)

Anna Dehmel (Andrea Schober), Bewohnerin eines schicken Penthauses, wollte eigentlich nur ihr Auto ins Parkhaus fahren, da wird sie im Aufzug ermordet. Da nichts gestohlen wurde, ist für Derrick klar: Der Täter muss sich unter den Mietern befinden. Es bietet sich eine Reihe von Verdächtigen an, zuvorderst der Philosophie-Professor Schönfelder (Ernst Schröder), der einem beeindruckend negativen Menschenbild anhängt und der Meinung ist, jeder sei zu einem Mord fähig. Als „Belohnung“ hatte er kurz vor dem Mord 5000 DM in seinem offenen Briefkasten deponiert …

Reinecker befindet sich ganz offenkundig in einem solipstischen Wurmloch. Folge um Folge kreist er um die immer gleichen Ideen und reproduziert fröhlich seine eigenen Ideen. „Penthaus“ ist mit seinem wahnhaften Philosophen und seinem sozialen Experiment das gespuckte Ebenbild der Episode „Kein Risiko“ von 1988, lediglich gehüllt in das Gewand eines klassischen Whodunits, das er kurz zuvor bereits für „Die Stimme des Mörders“ und „Schrei in der Nacht“ (in der auch schon Christine Buchegger mitwirkte) erfolgreich bemüht hatte. Die Hoffnungen, er thematisiere hier vielleicht eine lesbische Beziehung – das Mordopfer lebt mit einer Freundin (Irina Wanka) in nicht näher expliziertem Verhältnis zusammen – oder aber wie Cronenberg in SHIVERS das Penthaus-Gebäude mit seinen zahlreichen kommerziellen Angeboten und Vorzügen, zerschlagen sich schnell. Die Enttäuschung hält sich in Grenzen, weil Grädler seine Story in angemessenem Tempo erzählt, die Auflösung – oder vielmehr die Enttarnung des Täters – ist allerdings extradämlich.

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Episode 197: Wer bist du, Vater? (Helmuth Ashley, 1991) 

Der Polizist Hauser (Manfred Spies) wird erschossen im Zimmer eines zwielichtigen Etablissements aufgefunden, nachdem er Derrick am Telefon von einem thailändischen Mordopfer berichtet hatte. Es stellt sich heraus, dass Hauser ein Verhältnis mit einer asiatischen Prostituierten hatte: Wie hängen die beiden Tode zusammen? In die Ermittlungen mischt sich auch Hausers Tochter Ariane (Birgit Doll) ein, die kein allzu gutes Bild von ihrem Vater hat …

Mit dem Abstieg ins Rotlicht-Milieu und der Einbindung eines Vater-Tochter-Dramas geht zwar eine leichte Qualitätssteigerung einher, die im Titel angedeuteten melodramatischen Gipfel erklimmt Ashley mit diese Episode dennoch nicht: zu lahm und selbstgefällig sind die Scripts von Reinecker in dieser Phase, zu lethargisch und routiniert das Spiel der beiden Hauptakteure und des Ensembles um sie herum, die meist ebenfalls bereits über eine DERRICK-Geschichte verfügen. Da taucht Sissy Höfferer in einem Minipart als Prostituierte auf, die ihr Töchterchen während ihrer Arbeit auf die Treppe der miesen Absteige schick, die sie bewohnt. Eigentlich ein wunderbarer Anknüpfungspunkt, der in den Siebzigern noch weidlich ausgeschlachtet worden wäre, hier aber ebenso von der Vorabend-Betulichkeit befallen ist wie Horst Tappert. Man muss „Wer bist du, Vater?“ nur mal mit einer Milieufolge wie „Tote Vögel singen nicht“ vergleichen, um den Niveauverlust und die Müdigkeit zu bemerken. (Wobei das natürlich etwas unfair ist, denn Vohrers Beitrag ist einer der besten zur gesamten Serie.) Trotzdem: Der Ausflug in ein trauriges Striplokal und Birgit Dolls engagiertes Spiel reißen es einigermaßen raus. Dass Reinecker hier mal auf seine moralphilosophischen Vorträge verzichtet (ein kleines Nietzsche-Zitat darf dennoch nicht fehlen), ist ebenfalls als Pluspunkt zu verbuchen. Also: Tendenz steigend, aber das liegt auch daran, dass die letzten Folgen allesamt nur mäßig interessant waren.

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Episode 198: Verlorene Würde (Theodor Grädler, 1991)

Bei der Beschattung des Drogendealers Sonst (Will Dann) wird der junge Polizist Gerhard Kühner (Philipp Moog) in einer Kneipe erstochen. Sein Vater (Peter Ehrlich), ein ehemaliger Polizist und Ex-Kollege von Derrick, ist erschüttert. Soost streitet jede Schuld ab und auch Lubich (Claude-Oliver Rudolph), der Wirt der einschlägig bekannten Kneipe, will nichts damit zu tun haben. Was wissen die beiden Drogenabhängigen Holger (Ulrich Matthes) und Dina (Jessica Kosmalla), die zur Tatzeit vor Ort waren?

Judas Priest („Painkiller“) und Pantera („Cowboys from Hell“) scheppern vom Soundtrack und aus dem Kassettendeck der beiden Junkies und versetzen Nachbarn wie Vermieter (Klaus Herm mal wieder als lüsterner Schmierlappen) in Aufruhr: Der Auftakt ist gut und die Anwesenheit von Rudolph und Ehrlich auch immer ein Grund zur Freude. Leider gibt es sonst nichts Positives zu vermelden. Reineckers Script ist ultraschnarchig und moralinsauer, mehr als um die Aufklärung des Mordes geht es ihm darum, die beiden Junkies auf den Pfad der Tugend zurückzuführen, was Derrick mit eindringlich-väterlichen Ansprachen zu bewerkstelligen versucht, die dem Zuschauer bald schon genauso auf die Nerven gehen wie den Adressaten. Allerdings wecken die mit ihrer trauerklößigen Art auch nicht gerade das Bedürfnis, ihnen zur Seite zu stehen. Die coolste Socke ist Claude-Oliver, der aber kaum etwas zu tun bekommt. Einsamer Höhepunkt ist seine hingeworfene Handgeste, mit der er drei Schläger dazu auffordert, Papa Kühner aufs Maul zu hauen. Die Auflösung ist so lazy, dass ich sie eigentlich nicht so nennen möchte. Das Format „Krimi“, das merkt man in dieser Phase in jeder Sekunde, interessierte Reinecker nicht nur nicht mehr, es langweilte ihn. Dumm nur, dass das, was er lieber machen wollte, noch dröger war.

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Episode 199: Offener Fall (Zbynek Brynych, 1991)

Der alternde Säufer Walter Bolitz (Günter Mack) wird von Kurt Kubian (Edwin Noel) in einer Kneipe aufgegriffen. Zu Hause gesteht Kubian dem verdutzten Trinker, dass er einen Mordauftrag und 10.000 DM für dessen Erfüllung erhalten habe. Er überlässt Bolitz einen Anteil und schickt ihn nach Hause, wo der Mann seiner Tochter, der Journalistin Manuela (Maja Maranow), von seiner Begegnung berichtet. Die sucht Derrick auf, der Kubian allerdings tot vorfindet: erschossen. Weitere Ermittlungen erhärten den Verdacht, dass der Chemieunternehmer Nessler (Thomas Holzmann) das Opfer des Anschlags werden sollte …

Der Titel der Episode nimmt das Novum bereits vorweg: Es ist, wenn ich mich richtig erinnere, die bislang erste Folge, die nicht mit der Verhaftung (oder Erschießung) des Täters endet. Da es wieder einmal um internationale Verwicklungen und Industriespionage geht, sprich um eiskalte Profis, hat Derrick am Schluss keine Handhabe, auch wenn er weiß, auf wessen Konto der Mord an Kubian geht. Eine ebenfalls schöne Abwechslung stellt der Verzicht auf die zu dieser Zeit inflationär zum Einsatz kommenden Moralpredigten dar. Dennoch lässt „Offener Fall“ innere Spannung weitestgehend vermissen. Es gibt ein paar schöne Momente, etwa wenn Derrick den blasierten Großbürgern im Verhör gegenübertritt und diese sich auf geradezu aufreizende Art und Weise decken. Eine seltsame Liebesgeschichte gibt es auch wieder, aber sie wirkt im Unterschied zu anderen Brynych-Episoden wie angeklebt, wird nicht weiter entwickelt. Ein Schritt in die richtige Richtung, aber insgesamt doch zu verschnarcht.

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Episode 200: Der Tote spielt fast keine Rolle (Horst Tappert, 1991)

Der Juwelier Kaminski (Peter Fricke) lädt die schöne Andrea Zoller (Michéle Marian) mit eindeutigen Absichten zu einem seiner Galaempfänge ein. In der Hotelsuite, indem sie ihn empfangen soll, entdeckt sie aber einen Toten. Kaminski lässt die Leiche verschwinden – und muss sich später Derrick stellen …

Viele Ansätze, die nirgends hinführen. Fricke, der mich immer an Howard Carpendale erinnert, schaut manisch und mit aufgerissenen Augen in die Kamera. Peter J. Behrendt gibt den in Selbstmitleid versinkenden Ehemann der Schönen, der noch dazu mit dem HIV-Virus infiziert ist. Am Ende war mal wieder Jacques Breuer der Mörder.

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Episode 201: Störungen in der Lust zu leben (Theodor Grädler, 1991)

Im Auftrag des Immobilienhais Karau (Hanns Zischler) mischen Kinser (Richy Müller) und Marder (Torsten Münchow) eine Kneipe auf. Der Wirt (Hannes Kaetner) verstirbt an den Folgen der Auseinandersetzung. Auf der Flucht läuft Kinser seiner alten Bekannten Magda (Liane Hielscher) in die Arme. Um sich ihres Schweigens zu versichern, beginnt er eine Liebesbeziehung mit ihr. Auch als sie von dem Mord erfährt, hält sie dicht, sehr zum Missfallen ihrer Tochter (Katja Amberger) …

Endlich geht es etwas aufwärts: Richy Müller bringt Energie in die vorherrschende Bräsigkeit, die sich vor allem im unmöglichen Titel widerspiegelt. Ihm ein Verhältnis mit Liane Hielscher anzudichten, ist mutig, aber auch irgendwie passend und trägt nicht unwesentlich zum Gelingen bei. Nur Derrick selbst gefällt sich weiterhin darin, seinen Gesprächspartnern mit Trauermiene ins Gewissen zu reden. Wo ist er nur geblieben, der gerissene Fuchs, der seine Opfer genüsslich in die Ecke treibt und dann zappeln lässt?

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Episode 202: Ein Tod auf dem Hinterhof (Zbynek Brynych, 1991)

Eine Prostituierte wird ermordet. In die Ermittlungen mischt sich immer wieder die Krimiautorin Doris Mundt (Hannelore Hoger) ein, die Derrick gesteht, den Fall in ihrem nächsten Roman verarbeiten zu wollen …

Einigermaßen interessant, auch wenn man Reinecker den Vorwurf machen muss, sich hier gnadenlos selbst zu kopieren. Die Geschichte erinnert frappierend an Episode 190, „Abgrund der Gefühle“ (s. o.), in der ebenfalls Christian Kohlund mitwirkte. Hier trägt er fast ständig einen Bademantel über seiner Schrankwand-Figur. Und Christian Berkel, der einen schmierigen Zuhälter gibt, hört Patrick Swayzes „She’s like the Wind“.

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Episode 203: Der Schrei (Helmuth Ashley, 1991

Kaum ist der Raubmörder Simon Krüger (Wolf Roth) aus der Haft entlassen, empfängt ihn Harry. Der hatte damals die Befragung Krügers durchgeführt und es dabei nicht geschafft, dem Mann den Namen des Partners zu entlocken. Ein Versäumnis, dass ihn auch zehn Jahre später noch wurmt. Aber Krüger hat kein Interesse daran, heute auszupacken. Wenn nur dieser Schrei nicht wäre, der ihn seit jener Nacht verfolgt …

Wolf Roth und Rolf Zacher in einer Episode, letzterer auch noch als öliger Rotlicht-Impresario: Was kann da schief gehen? Richtig, nichts. Auch die Tatsache, dass diesmal Harry im Mittelpunkt steht, tut sehr gut, wird man aus diesem Grund doch mit langweiligen Ethik-Monologen aus dem katholischen Mädchenpensionat verschont. Wie er Krüger nachstellt, erinnert nicht wenig an die Strategie seines Vorgesetzten aus alten Zeiten, nur dass er eine menschlichere Komponente einbringt. Der Schluss ist vorhersehbar, aber hübsch. Nur dass es Derrick sein muss, der die Festnahme durchführt, ist irgendwie krass ungerecht. Er erinnert dabei an den egoistischen Stürmer, der den Ball, der auch so über die Linie gerollt wäre, noch einmal anzutippen, damit das Tor auf sein Konto geht. Kann er den Harry nicht einfach mal machen lassen?

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Episode 204: Das Lächeln des Doktor Bloch (Günter Gräwert, 1991)

Derricks Hausarzt Dr. Bloch (Hans-Michael Rehberg) ist erschüttert, als seine Gattin (Evelyn Opela) ihn zugunsten ihres Liebhabers Brunner (Peter Sattmann) verlässt. Doch der hat gar keine Lust auf eine feste Beziehung und setzt die Frau mit ihren Taschen und Koffern auf die Straße. In Tränen aufgelöst ruft sie ihren Mann an, dann setzt sie sich in den Wagen und fährt gegen einen Brückenpfeiler. Selbstmord. Nur Bloch sieht das anders und er will Brunner zur Strecke bringen.

Die Episode ist gut, weil das impertinente Intrigenspiel Blochs und die zunehmende Entnervtheit Brunners ausreichend Stoff für spannende Vorabendunterhaltung bieten. Der finale Gag lässt sogar zu, Reinecker gar als Vorläufer des modernen Plottwists zu adeln. Ein bisschen erinnert das an Finchers SEVEN, auch wenn Gräwerts Episode erwartungsgemäß nicht ganz so düster ist. Was mit dem Kopf schütteln lässt, ist hingegen mal wieder das Geschwafel Derricks: Wie kann man jemandem, der den Selbstmord der Gattin zum Mord umdeuten will und damit offenkundig eine Art Absolution sucht, entgegenkommen, indem man sagt, es handele sich um einen „Mord im übertragenen Sinne“? Wie kann man dem Drangsalierten nicht empfehlen, sich mittels einer Unterlassungsklage gegen die Nötigungen zu wehren? Derrick lässt alles auf die Katastrophe zulaufen, nur um dann am Ende bedröppelt in die Gegend zu schauen, weil das zementierte Menschenbild mal wieder bestätigt wurde. Außerdem: Der finale „Mord“, der dem Täter laut Harry zehn bis 15 Jahre einbringen wird, ist meines Erachtens auch eher Totschlag. Aber mit solchen Petitessen wollen wir uns nicht aufhalten.

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Episode 205: Isoldes tote Freunde (Helmuth Ashley, 1991)

Isolde (Juliane Rautenberg) ist eine hochbegabte Pianistin, der der Lehrer Sudhoff (Volkert Kraeft) eine güldene Zukunft voraussagt, so sie immer gut behütet wird. Das hat sich ein Mensch besonders zu Herzen genommen, denn zwei junge Männer, mit denen Isolde ein Verhältnis hat, werden erschossen …

Endlich mal wieder etwas Abgründig-Schmieriges! Es sind die Zeichnung der Isolde als nymphenhaftes Naturwesen, das sich ohne jede Scheu vor ihren zahlreichen Bewunderern entblättert, und das Spiel der nur bei DERRICK und den WICHERTS VON NEBENAN in Erscheinung getretenen Rautenberg, die hier mehr als einmal zucken lassen. Als Isolde blickt sie gern wie unter Drogen ins Leere oder scheint ihr Gegenüber mit ihren Reizen zu provozieren. Interessant daran ist vor allem, dass ihre durch und durch seltsame Art nicht ein einziges Mal im Dialog thematisiert wird. Für mich ist sie ein klares Missbrauchsopfer, aber Reinecker lässt dieses Fass fest verschlossen und begnügt sich mit der Mär von der Durchschnittsfamilie, die die Prinzessin in ihrer Mitte um jeden Preis schützen will. Chance vertan, ja, aber trotzdem eine Superfolge.

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Die Tagline um die 23 personalities, die ein Kevin da in sich vereine, lässt im Zusammenhang mit dem Namen des Regisseurs Böses vermuten: Shyamalans längst verflogener Ruhm gründete zumindest in den Augen des durchschnittlichen Kinogängers auf diese unerhört unvorhersehbaren Plot Twists und narrativen Gimmicks, die seinen Erfolgsfilm THE SIXTH SENSE und dessen direkte Nachfolger zumindest auf den ersten Blick auszeichneten. Als Shyamalan sich mit THE LADY IN THE WATER weigerte, diese Masche weiter zu bedienen (streng genommen waren schon Filme wie UNBREAKABLE, SIGNS und THE VILLAGE nicht mehr allzu sehr an schnöden Taschenspielertricks interessiert und das Interessante an THE SIXTH SENSE nicht seine Auflösung, sondern wie es ihm gelang, deutliche Hinweise zu verschleiern), mit dem wahlweise avantgardistischen oder katastrophalen THE HAPPENING sogar noch einen draufsetzte und anschließend mit THE LEGND OF AANG und AFTER EARTH die nächsten Totalflops zu verantworten hatte, war die Traumkarriere erst einmal vorbei. Der ohne große Tamtam veröffentlichte Low-Budget-Schocker THE VISIT war eine schöne Überraschung, der man die Erleichterung des Regisseurs, nicht mehr die Verantwortung für eine Multimillionen-Dollar-Prestige-Produktion tragen zu müssen, in jeder Sekunde anmerkte. SPLIT ist nur unwesentlich teurer als der Vorgänger gewesen, kommt aber zunächst mit dem Ruch des stunts daher: Hauptdarsteller James McAvoy spielt einen Mann mit multipler Persönlichkeitsstörung und laut Poster sollen es eben nicht weniger als 23 Charaktere sein, die er in sich vereint. Man sieht ihn schon vor sich, den ganz in seiner Mission aufgehenden method actor, der 23 verschiedene Akzente, Tics, Kostüme und Arten, sich an der Nase zu kratzen, erlernt hat und so jede Szene zur aufmerksamkeitsheischenden One-Man-Show verkommen lässt, aber zum Glück bleibt einem das erspart. Letztlich spielen nur drei, vier Persönlichkeiten eine Rolle und weit mehr als auf irgendwelche marketingtechnischen Tricks setzt Shyamalan hier auf wunderschön komponierte symmetrische Bilder, einen ruhigen, beinahe träumerischen Erzählfluss und eine wohltuend unaufgeregte Thematisierung von sexuellem Missbrauch.

Mehr als alle narrativen Kniffe ist es diese kontemplative Ruhe sowohl des Blicks, den er als Regisseur auf seine Charaktere, die Räume, die sie bewohnen, und ihre Gewohnheiten wirft, als auch der Aussagen, die er über sie macht. Wobei „Aussagen“ es schon nicht trifft: Shyamalan hat weniger eine Meinung über seine Figuren als erst einmal nur ein unstillbares Interesse an ihnen und dieses Interesse möchte er mit seinen Zuschauern teilen, mehr als ihnen irgendetwas zu erklären oder vorzubeten. Nur deshalb konnte er einen Endzeitfilm drehen, in dem seine Protagonisten – und er! – beinahe sehnsüchtig auf das Wogen der Bäume im Wind starrten, als lauerte dort die Antwort auf alle Fragen, eine Antwort, die es nicht gab: die denkbar größte Katastrophe, die sich der verzweifelt an das Kausalitätsmodell klammernde Mensch überhaupt vorstellen kann. SPLIT ist, betrachtet man nur seine Story, typischer Serienmörder-Thriller: Es gibt drei attraktive, junge weibliche Opfer, einen hoch intelligenten, hochgradig gestörten Täter und seine Psychotherapeutin, die ihm bald auf die Spur kommt, aber wie Shyamalan diese Geschichte erzählt, hat mit den gängigen Mechanismen und Klischees nur wenig zu tun.

Das „Monster“ bekommt bei ihm ein sehr menschliches Gesicht und das volle Mitgefühl des Regisseurs, ohne dass dies zulasten seiner „Opfer“ ginge. Als eines der drei Mädchen die Überwältigung ihres Peinigers mit vereinten Kräften vorschlägt, weist die in sich gekehrte Casey (Anya Taylor-Joy) diese Idee als idiotisch zurück – sie hätten keine Chance gegen diesen Kraftprotz. Ihr insgeheim ausgearbeiteter Plan, die kleine Hedwig, eine der vielen Persönlichkeiten des Täters und wahrscheinlich die schwächste, zu manipulieren, erweist sich nicht nur als die intelligentere, sondern auch als respektvollere Strategie. Und sie kommt nicht umsonst von der als etwas sonderbar eingeführten Casey, die ahnt, das solcher Wahn wie der des manischen Kidnappers nur die Ursache einer tiefen seelischen Verletzung sein kann. Shyamalan ist fasziniert von der Resilienz unseres Geistes und der Konsequenz, mit der unser Gehirn diese Ersatzcharaktere zu unserem Schutz erst entwirft, mit völlig individuellen Eigenschaften ausstattet und dann gegen seinen biologischen „Eigentümer“ verteidigt. Fast könnte man sagen, er betrachte diesen Kevin als besonders avanciertes Exemplar einer raren Tiergattung mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, aber seine Faszination gleitet nie in den Voyeurismus ab, ins Aufgeilen am Pathologischen oder in den Exotismus. Nein, dahinter stecken Empathie und der Zorn über eine Welt, die solche Verletzungen zulässt und ihre Opfer dann als perverse Monstren diffamiert. Was der nüchternen Anerkennung, dass diese Geschädigten ihrerseits zu unbeschreiblichen Gräueltaten fähig sind, nicht im Weg steht. Exemplarisch sei hier der Tod der Therapeutin genannt. Ihr Gesichtsausdruck im Moment der Erkenntnis ist herzzerreißend, weil sich in ihm sowohl die Trauer darüber spiegeln, dass der Mensch, dem sie immer nur helfen wollte, ihr Mörder werden wird, als auch das Wissen, immer richtig gehandelt zu haben.

SPLIT wählt nicht ohne Grund ein Tiergleichnis, um das Phänomen seines wichtigsten Charakters zu verdeutlichen: Der Tierpfleger kann seiner Arbeit mit größter Sorgfalt, Liebe und Respekt nachgehen, es bewahrt ihn nicht davor, möglicherweise doch zerrissen zu werden. Das macht das Tier nicht zu etwas Bösem: Es kann einfach nicht anders.

 

THEY WERE EXPENDABLE ist John Fords erster Spielfilm seit HOW GREEN WAS MY VALLEY von 1941 und er folgte einer Zeit, in der der Regisseur selbst im Zweiten Weltkrieg aktiv war. Als Filmemacher war er auch in dieser Phase natürlich nicht ganz untätig gewesen: So hattte er während des Krieges unter anderem die beiden Oscar-prämierten Dokumentationen THE BATTLE OF MIDWAY (1942) und DECEMBER 7TH (1943) gedreht. Als Navy-Soldat war er mit den in THEY WERE EXPENDABLE dargestellten Vorgängen vertraut: Der zugrunde liegende Bestseller von William Lindsay White basierte seinerseits auf den Erlebnissen des hochdekorierten Marine-Offiziers John D. Bulkeley (im Film „John Brickley“), den Ford während seiner Zeit bei der Navy selbst kennengelernt hatte, und so war es keine große Überraschung, dass MGM ihn als Regisseur haben wollte. Auf dem Papier ist THEY WERE EXPENDABLE ein typischer Vertreter seiner Zunft: Man könnte ihn als Propaganda, als Mutmach- und Durchhaltefilm bezeichnen, wie sie in der letzten Phase des Weltkrieges entstanden, um die letzten Reserven zu mobilisieren. Im Kontrast zu den realen Vorgängen, bei denen sich das Blatt trotz der verheerenden Niederlage im Pazifik längst zugunsten der Alliierten gewendet hatte, sind die Filme dieser Zeit aber nicht etwa ein Spiegel des greifbaren Triumphes, vielmehr zeichnen sie sich durch eine melancholische, resignative Weltsicht aus. Sie sind bereits durchzogen von der Gewissheit, dass dem „Sieg“ eine lange Leere, geprägt von der Trauer um die Gefallenen und der schweren – vielleicht unmöglichen? – Rückkehr in den Alltag, folgen wird. Fords THEY WERE EXPENDABLE entspricht diesen Charakteristika, verstärkt diesen melancholisch-resignativen Zug aber noch und thematisiert nicht etwa den Sieg, sondern handelt eben von einer der vielen Niederlagen, die dorthin führten. Zwischen den aufwändigen Schlachtszenen zeichnet er sich vor allem durch einen warmen, intimen und aufrichtigen Blick auf seine Protagonisten aus, die er nicht in Momenten des Heldentums einfängt, sondern eben als ganz normale Menschen in einer Extremsituation. Mein erster Eindruck während und nach der Sichtung war eher der eines technisch und logistisch beeindruckenden, inhaltlich aber „leeren“ Kriegsfilms: ein Urteil, das man auf zahlreiche dieser „Propagandafilme“ anwenden kann. Erst im Nachgang und nachdem ich einige Texte gelesen hatte, wurde mir klar, dass diese Einschätzung dem Film nicht gerecht wird. Ganz überraschend ist der Fehlschluss nicht: Das Herz von THEY WERE EXPENDABLE liegt nicht in seiner Story oder in seinen großen Set-Pieces, sondern in den flüchtigen Blicken, die Ford auf Nebenfiguren und Statisten wirft, im kameradschaftlichen Miteinander der porträtierten Marine-Soldaten, in den Gefühlen, die sie in ihrem Mienenspiel, in ihren Gesten und Dialogzeilen offenbaren. Glaubt man einigen Berichten, war Ford ein noch deutlich leiserer Film vorgeschwebt, aber das passte seinen Geldgebern nicht in den Kram: Vor allem mithilfe der pathetischen Musikuntermalung und der finalen Texteinblendung „They shall return!“ betonte das Studio den Heroismus der amerikanischen Soldaten, sehr zum Missfallen des Regisseurs, der sich wohl auch entsprechend äußerte. Auch John Wayne hatte es dem Vernehmen nach nicht einfach am Set und wurde von seinem Regisseur besonders harsch behandelt: Der Star war einer der wenigen am Set, die über keinerlei Armee-Erfahrung verfügten. Ausnahmslos gute Erinnerungen dürfte indessen Robert Montgomery mit THEY WERE EXPENDABLE verbunden haben, der Ford hinter der Kamera ersetzte, als dieser wegen eines Beinbruchs ausfiel, und dabei einigen Gefallen an dieser Tätigkeit fand: Zwischen 1945 und 1960 drehte er fünf Filme, darunter die Noirs LADY IN THE LAKE und RIDE THE PINK HORSE.

THEY WERE EXPENDABLE handelt von einer auf den Philippinen stationierten, von Lieutenant John „Brick“ Brickley (Robert Montgomery) kommandierten Schnellboot-Flotte. Brickleys Männer, darunter seine rechte Hand Lieutenant „Rusty“ Ryan (John Wayne), müssen mit den Vorurteilen der Generäle kämpfen, die die neuen schnellen, wendigen, aber nur wenig widerstandsfähigen Boote konsequent unterschätzen, lieber auf die Feuerkraft von Zerstörern setzen und Brick und Konsorten mit läppischen Botenaufträgen abspeisen. Vor allem Rusty ist genervt und hat sein Abberufungsgesuch schon in der Schublade. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor wendet sich das Blatt: Die Schnellboote können sich im Kampfeinsatz beweisen, allerdings ohne Zutun von Rusty, der wegen einer Blutvergiftung im Lazarett weilt, wo er die Krankenschwester Sandy Davyss (Donna Reed) kennen und lieben lernt. Doch die Freude ist nur von kurzer Dauer: Unter den Angriffen der Japaner wird der Rückzug angeordnet. Brick und Rusty erhalten den Befehl, den „General“ – hinter dem sich unverkennbar der Kriegsheld General Douglas MacArthur verbirgt – und seine Familie in Sicherheit zu bringen. Nach erfolgreicher Mission werden die beiden in die Heimat zurückbeordert, wo sie als Ausbilder die Schlagkraft einer neuen Schnellboot-Flotte sicherstellen sollen, während viele ihrer Kameraden vor Ort einer ungewissen Zukunft – Tod, Gefangenschaft – entgegensehen …

Wie der schöne und umfangreiche Eintrag zum Film auf der Seite TV Tropes zeigt und wie ich oben schon angedeutet habe, ist THEY WERE EXPENDABLE in vielerlei Hinsicht ein „typischer“ Film seiner Gattung: Ford greift auf zahlreiche damals bereits bestehende und zum Teil bis heute gültige dramaturgische und inszenatorische Kniffe und Klischees zurück, die man als Zuschauer kennt, sofern man mehr als einen Kriegsfilm gesehen hat: Da gibt es den verschworenen Soldaten-Haufen, der wie die US-Bevölkerung einen bunten Querschnitt durch unterschiedliche Ethnien darstellt (ein Schwarzer fehlt allerdings), gibt es etwa den nie um einen Spruch verlegenen Koch, eine schwarze Katze, die als Glücksbringer fungiert, ausgelassene Saufgelage, gemeinsam intonierte Seemannslieder, von Sterbenden oder Zurückbleibenden weitergegebene Briefe für die Angehörigen zu Hause, den Konflikt zwischen den realitätsfernen Generälen und den Frontkämpfern, eine romantische Liebesgeschichte, ernüchtert gesprochene Abschiedsworte, den alten Zausel, der sich weigert, vor dem Feind zu fliehen, die Jungspunde, die manchen groben Scherz über sich ergehen lassen müssen, aber sich auch auf die väterliche Unterstützung der alten Hasen verlassen können, und natürlich die ausufernden Szenen, in denen die Überlegenheit der Kriegstechnik in dynamische, explosive Bilder verpackt wird. Es sind bezeichnenderweise letztere, bei denen mein Interesse immer wieder erlahmte, auch wenn der betriebene Aufwand immens gewesen sein dürfte und Ford tatsächlich den Eindruck vermittelt, „mittendrin“ zu sein, wenn da Torpedos durchs Wasser schießen, Explosionen die Luft zerreißen oder das Wasser hochspritzen lassen, japanische Kampfflieger vom Himmel stürzen und Schiffe in gewaltigen Feuerbällen und Rauchsäulen aufgehen. Immer, wenn das menschliche Element aus dem Fokus gerät, wird THEY WERE EXPENDABLE etwas austauschbar und beliebig, was nicht zuletzt daran liegt, dass Ford „den Feind“ komplett ausblendet. Der Zuschauer bekommt keinen einzigen Japaner zu Gesicht, es gibt keine einzige direkte Konfrontation zwischen einem Amerikaner und einem Japaner, es wird noch nicht einmal über ihn geredet. Das Augenmerk liegt ganz auf den amerikanischen Marinesoldaten, gleichwohl geht damit nicht der Vorwurf einher, Ford entindividualisiere den Gegner. Es ist vielmehr völlig klar, dass der Krieg als Gesamtunternehmung ein grausames Spiel ist, mit Opfern und Tätern auf beiden Seiten und den gleichen tragischen Geschichten hier wie dort.

Es sind dann eben auch vor allem die kleinen, intimeren Momente, in denen das deutlich wird: Etwa in dem ängstlich-schockierten Blick einer philippinischen Sängerin, als diese erfährt, dass Amerikaner und Japaner nun offiziell im Kriegszustand sind. In Bricks Erklärung, dass es nicht die Aufgabe ihrer Flotte sei, einen „Homerun“ zu schlagen, sondern durch ihr eigenes Opfer einem „Teamkameraden“ zum Punkt zu verhelfen. In Rustys Telefonat mit seiner Geliebten, der er vor seiner letzten Mission nur mitteilt, dass er nicht weiß, ob sie sich jemals wiedersehen werden, bevor die Verbindung unterbrochen wird. Im Schicksal zweier Offiziere, die das Glück haben, via Warteliste einen Platz im Flieger gen Heimat zu erhalten, nur um dann doch zwei gerade noch rechtzeitig ankommenden Nachzüglern weichen zu müssen und schnell noch Briefe an ihre Familien abgeben. In dem Gesicht des jungen Rekruten, der bei einem zünftigen Gelage aufgrund seines Alters nur mit Milch anstoßen darf. In den kurzen Verabschiedungsritualen der Männer, die entweder nach Hause fahren dürfen oder aber zurückbleiben müssen. In dem munteren, verspielten und vertrauten Miteinander der Männer zwischen den Einsätzen. Besonders rührend ist die Szene, in der Sandy ihren Rusty besucht und mit seinen engsten Vertrauten ein Abendessen einnimmt, bevor sich die Männer zurückziehen und dem Pärchen einen Moment der Zweisamkeit gönnen. Da sieht man den Figuren in jeder Faser an, wie kostbar diese Momente des Friedens und des unbeschwerten Zusammenseins sind, was es auch bedeutet, eine Frau in der Mitte zu haben. Nur mit viel Boshaftigkeit könnte man den Vorwurf erheben, dass Ford den Militärdienst verharmlose und glorifiziere: Immer wieder ist von den übermenschlichen Entbehrungen die Rede, von der Aufopferung für das Heimatland und die damit verbundenen Werte. Er hinterfragt die Richtigkeit dieser Überzeugung nicht, aber er zeigt, dass da Menschen ihr Leben für etwas aufs Spiel setzten, was sie für größer als sich selbst halten, ohne wirklich zu wissen, worauf sie sich einließen. Auffällig ist auch, dass nie gejammert oder geklagt wird: Das eigene Schicksal wird mit großer Tapferkeit, Verantwortungsbewusstsein und einem gesunden Maß an Galgenhumor getragen. So gelingt es Ford auf eindrucksvolle Art und Weise, ein Denkmal für die Menschlichkeit zu errichten, ohne jemals explizit Partei zu ergreifen. Es gibt keine erklärenden Monologe oder mit Inbrunst vorgetragene Reden. Selbst das kurze Gedicht, das Rusty für zwei gefallene Kameraden hält, zeichnet sich durch seine emotionale Zurückhaltung aus. „Würdevoll“ ist wahrscheinlich der richtige Ausdruck dafür. Der Krieg erscheint bei Ford als großer Gleichmacher: Nichts zeigt das deutlicher als die Degradierung Waynes, schon damals ein strahlender Leinwandheld, Fleisch gewordener Mythos, der ins zweite Glied hinter dem optisch durchschnittlichen Montgomery zurücktritt und noch nicht einmal die Frau bekommt. Im Krieg wird auch der größte Held auf Maß gestutzt.

 

 

 

35 mm # 30

Veröffentlicht: Januar 4, 2019 in Film, Zum Lesen
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Die Ausgabe 30 des 35 mm Retrofilmmagazins ist ab sofort erhältlich. Für meine Noir-Kolumne habe ich mir diesmal Norman Fosters von Russell Metty meisterlich fotografierten KISS THE BLOOD OFF MY HANDS vorgenommen, mit Burt Lancaster als gewalttätigem Kriegsversehrten und Joan Fontaine als verzweifelter Krankenschwester. Schwerpunkt des Heftes ist das Thema „Cine Espanol“ mit Texten u. a. über den spanischen Film Noir und Jess Franco, daneben gibt es ausführliche Berichte über die Filmfestivals in Braunschweg und Bielefeld. Kaufen kann man das reich und farbig bebilderte Magazin wie immer hier: http://35mm-retrofilmmagazin.de/produkt/35-millimeter-30-dez-jan-18-19/

Episode 171: Wie kriegen wir Bodetzki? (Horst Tappert, 1988)

Ein Mann namens Loss wird mittels einer heimtückischen Zyankali-Injektion getötet. Die vermeintlichen Mörder nehmen wenig später Kontakt zum Vater des Toten auf, einem in einem Altersheim lebenden Greis (Paul Hoffmann), um sich mit ihm zu treffen, doch der alte Mann erliegt vorher einem Herzanfall. Derrick rekrutiert daraufhin den aus dem Dienst geschiedenen Ex-Kollegen und Trinker Jonas Velden (Hans Putz) als Ersatz: Der bekommt es mit einer Gruppe von Naturwissenschaftlern – Tubeck (Volker Lechtenbrink), Korte (Hans Georg Panczak) und Brandeck (Helmut Staus) – zu tun, die beteuern, dass ein gewisser Bodetzki (Gert Haucke) Loss auf dem Gewissen habe. Es handele sich bei diesem um einen ostdeutschen Agenten, der dafür verantwortlich sei, dass Tubecks Vater wegen Fluchthilfe in einem ostdeutschen Gefängnis inhaftiert ist …

Der Versuch einer Inhaltsangabe macht schon deutlich, dass es sich bei Tapperts vierter Regiearbeit zumindest storytechnisch nicht um eine konventionelle DERRICK-Folge handelt. Reinecker bewegt sich mit seinem Drehbuch mal wieder auf das Terrain des Agententhrillers, das ihn zwar nicht allzu oft, aber in den vergangenen 14 Jahren dann doch einige Male lockte. So richtig kommen seine Talente vor dem Hintergrund politischer Verwirrung nicht zum Tragen: Wenn es um Konflikte auf solch abstrakter Ebene geht, sind Fragen nach individueller Moral und Verantwortung irgendwie deplatziert. Oder besser: Sie werden von anderen überlagert, von denen er sich nicht freimachen konnte. Wie dem auch sei: Die Folge kommt nicht richtig in die Gänge und ist mit dem Tod des Vaters und dem daraufhin engagierten Ersatz äußerst umständlich konstruiert, vor allem, wenn man dann sieht, dass Velden im letzten Drittel, nachdem er seine Schuldigkeit getan hat, völlig aus der Geschichte verschwindet. Diese gespreizte Konstruktion ist auch deshalb ärgerlich, weil mit Haucke – 13 Jahre nach seinem unvergesslichen Auftritt in Brynychs Hammerfolge „Alarm auf Revier 12“ – ein erstklassiger Schurke am Start ist, der mit seinem Zyankali-Injektionsring inszeniert wird wie einer der henchmen, mit denen es James Bond auf dem Weg zum Oberbschurken immer zu tun bekommt. Man hätte gern mehr von ihm gesehen, aber so hat er kaum etwas zu tun. Stattdessen wieder einmal Volker Lechtenbrink, dessen goldblonder Dreidollarhaarschnitt mich noch aus jeder Episode, in der auftauchte, rausschmeißt. Schade auch, dass die Ost-West-Thematik für kaum mehr als einen Aufhänger genutzt wird. Generell muss man sich darüber wundern, dass die Teilung nie thematisiert, im Gegenteil fast peinlich beschämt totgeschwiegen wurde. Ob es ein Zufall ist, dass Reinecker nur ein Jahr vor dem Mauerfall plötzlich auf die Idee kommt, eine Geschichte mit Fluchthilfe und Stasi-Agenten aufzutischen oder ob er die Zeichen der Zeit gewittert hatte, kann ich natürlich nicht beurteilen. Es ist in jedem Fall eine auffällige Koinzidenz.

Abseits solcher Meta-Überlegungen zeigt „Wie kriegen wir Bodetzki?“ einige putzige Marotten, über die man sich aber wahrscheinlich nur freuen kann, wenn man die Serie von vorn bis hinten durchguckt und den Blick daher zwangsläufig auf Minidetails lenkt, wenn es denn sonst nicht viel zu bestaunen gibt: Zum einen fällt die Rückkehr zum Alkoholismus der Bier- und Cognac-getränkten Siebziger auf, die die Serie nach Jahren der ostentativ zur Schau getragenen Abstinenz durchmacht. Plötzlich wird wieder zu jeder Gelegenheit „Wiski“ angeboten und verköstigt, wahrscheinlich, weil mit der bloßen Nennung des Gesöffs der Anschluss an die großen Hardboiled-Vorbilder aus Übersee geknüpft wird. Ein guter Korn? Fehlanzeige, es muss „Wiski“ sein, dessen Name einerseits intoniert wird, als handle es sich dabei um einen wahren Wundertrank, der seinen Konsumenten Schönheit und Intelligenz verleiht, der aber andererseits immer in Reichweite ist und auch von solchen Leuten getrunken wird, die mit genannten Eigenschaften gerade nicht im Übermaß ausgestattet sind. Dann prahlt Derrick am Anfang einmal völlig aus dem Zusammenhang gerissen von einem Kriminalmuseum, das er mal besucht habe, in Rom oder Paris, er wisse es nicht mehr, es sei aber auch egal. Nun, nicht egal genug, um nicht eine Dialogzeile darauf zu verschwenden. Und Derricks fixe Idee, der Mord könne mit einem speziellen Siegelring verübt worden sein, erweist sich natürlich als Faktum: Er weiß sogar genau, welche Form und Gestalt der Ring haben muss – weil er eben mal einen in einem Kriminalmuseum gesehen habe, in Paris oder Rom, weiß er nicht mehr so genau, ist aber auch egal. Wunderbar auch eine Szene, in der sich Derrick und Harry mit gezückten Pistolen und gut sitzenden getönten Sonnenbrillen in ein Haus schleichen wie eine hüftsteife, maximal uncoole Version von Crockett und Tubbs. Überhaupt hat man bei Harry in dieser Phase immer das Gefühl, er versuche auf Gedeih und Verderb genauso zu werden wie sein Vorgesetzter: Allein es reicht nicht, er sieht immer aus, wie der Trittbrettfahrer, der im Windschatten des großen Vorbilds nun einmal bestenfalls wie der arg bemühte Abklatsch wirkt. Man möchte ihn immer in den Arm nehmen und ihm auf die Schulter klopfen oder ihm über den Schopf streichen. Er wird nie aus dem Schatten seines Vorgesetzten treten. Wäre er am Ende vielleicht doch lieber bei Kommissar Keller geblieben? Ich denke, er fühlte sich ganz wohl bei Stephan Derrick. Und der scheint ja auch ein echt netter Chef zu sein.

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Episode 172: Kisslers Mörder (Wolfgang Becker, Deutschland 1989)

Rudolf Kissler (Peter Bongartz) betreibt ein exklusives Bordell und Irene Stubach (Evelyn Opela) ist nicht nur seine Geliebte, sondern auch das beste Pferd im Stall. Das passt ihrem Sohn Ralf (Maximilian Held) überhaupt nicht und auch sein Opa (Hans Caninenberg) ist vom Engagement seiner Tochter alles andere als begeistert. Als Kissler erschossen vor seinem Haus aufgefunden wird, muss Derrick nach Verdächtigen nicht lang suchen: Ralf steht ganz oben auf seiner Liste, zumal der mit seiner Clique ja sogar mit Schießübungen auffällig geworden ist …

Ein Knaller, das wird schon in den ersten Sekunden klar, wenn die lustigen Ballereien von Ralfs Clique in einer Kiesgrube mit Prince‘ „Alphabet Street“ unterlegt werden. (Im weiteren Verlauf heizen neben weiteren Tracks vom „Lovesexy“-Album auch die damaligen Ethnopop-Größen Mory Kanté mit „Yeke Yeke“ und Ofra Haza mit „Im nin‘ alu“ ein.) Abseits solcher Oberflächenreize entspinnt sich ein stark ödipal angehauchtes Mutter-Sohn-Drama mit einer verzweifelten Evelyn Opela, der Ava Gardner des deutschen Fernsehkrimis, dem ihr tränennass am divenhaften Busen hängenden Maximilian Held und Hans Caninenberg, dem deutschen Bruder von Paul Kersey, zumindest wenn es nach Herbert Reinecker geht, der dem alten Herren nun schon zum dritten oder vierte Mal selbstjustiziale Tendenzen anhängt. Die Ausflüge in den mit unerträglichem Eighties-Pomp ausgestatteten Edelpuff, in dem Hackfresse Uli Krohm seinen Dienst verrichtet und mit Pommeslocken ausgestattete Damen barbusig der Arbeit nachgehen, fungieren als Stimmungsaufheller in einer Geschichte, die Reinecker mit seiner unnachahmlichen Bedeutungsschwere ausstattet. Wie in „Die Nacht in der Ronda starb“ besteht Ralfs Clique wieder einmal aus hintersinnig grübelnden Umstürzlern, die die Welt am liebsten von allem Unrat befreien würden und dabei eine unangenehme Intensität entwickeln. Zwischen dem militaristischen Intellektuello von Christoph Mainusch und dem jugendlichen Wutbürger von Robinson Reichel ist auch noch Platz für Janna Marangosoff, die mit süßem Schmollmund um die Gunst des schönen Ralf buhlt. Ich sage nichts Neues: Der Kriminalfall ist so lala, aber das ganze Drumherum lässt frohlocken. Evelyn Opela!

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Episode 173: Der zweite Mord (Zbynek Brynych, 1989)

Aus dem Jugendheim entlassen stolpert Ursula Kieler (Esther Hausmann) dem kriminellen Hans Seelmann (Claude-Oliver Rudolph) in die Arme. Der plant am Abend einen großen Deal: Er will ein Kilo Heroin an Hans Landrut (Ulli Kinalzik) und dessen Partner, den drogenabhängigen Rolf Hauser (Frank Hessenland), verkaufen und nimmt Ursula in weiser Voraussicht als Zeugin mit. Es kommt, wie es kommen muss: Der panische Rolf schießt Hans nieder, wie vom Donner gerührt bleibt Ursula zurück. Sie gerät ins Fadenkreuz der Hausers, die ihren Spross um jeden Preis vor dem Gefängnis bewahren wollen. Zu diesem Zweck macht sich Rolfs Bruder Bruno (Philipp Moog) an Ursula ran …

Eine Folge mit dem jungen Claude-Oliver Rudolph kann unmöglich schlecht sein, schon gar nicht, wenn sie von Brynych inszeniert wurde. Zwar muss der „beste Bösewicht der Welt“ (BamS) und Promi-Box-Versager nach dem ersten Akt weichen, aber er nutzt die ihm gegebene Zeit auf seine ihm eigene Art. „Der zweite Mord“ ist nicht wahnsinnig spektakulär, aber zum einen hat sie mit den Hausers mal wieder eine dieser Bürgertums-Familien, deren Entitlement einem die Galle hoch treibt – der graue Patriarch (Stefan Wigger) wird dabei von einer besonders biestigen Gattin (Ursula Dirichs) gestützt. Ein Hauch von“Romeo und Julia“ durchweht die sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen Ursula und Bruno – sie führt hier allerdings nicht zum Doppel- sondern nur zum Einzelselbstmord. Das treibt Derrick richtiggehend auf die Palme, denn er entwickelt starke väterliche Gefühle für die völlig auf sich allein gestellte Jugendliche – für die die damals gut 30 Jahre alte Darstellerin Esther Hausmann deutlich zu alt war. Reinecker DERRICK und die Jugend: Das ging selten zusammen. Sehr zum Wohle des Zuschauers, der sich über eine weitere seltsame Episode freuen darf.

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Episode 174: Blaue Rose (Zbynek Brynych, 1989)

Auf der Flucht vor der Polizei dringt der Drogendealer Oswald (Sabi Dorr) in die Wohnung der Rentnerin Frau Hässler (Brigitte Mira) ein und erschlägt sie. Sie kann noch ihren Enkel Jürgen (Jochen Horst) verständigen und teilt ihm mit, dass ihr Mörder eine blaue Rose auf das Handgelenk tätowiert hat. Der begibt sich kurzerhand selbst auf Mörderjagd – und lernt in einem Nachtclub die vergnügungssüchtige Rubina (Sissy Höfferer) kennen. Was er nicht weiß: Sie ist die Schwester von Oswald …

Gute, wenn auch nicht herausragende Folge, aus der die geilen Discoszenen mit der aufgebrezelten Höfferer herausstechen. In einer Szene wirft sie eine Mark in einen Arcade-Automaten, um eine Runde des Flugzeug-Shooters „Afterburner“ zu spielen, wofür Derrick nur ein gelangweiltes Augenrollen übrig hat. Dann rastet sie auf der Tanzfläche ihrer Diskothek völlig aus, ein wilder Wirbel aus toupierten Locken, mit Glitzersteinen besetzten, fingerlosen Lederhandschuhen, Stirnband, Minirock und High-Heel-Boots im Trockeneis-Nebel. Derrick guckt nur durch seine getönte Sonnenbrille, wie ein uralter Gott, dem die menschlichen Irrungen und Wirrungen fremd sind.

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Episode 175: Die Stimme des Mörders (Theodor Grädler, 1989)

Ein Bankräuber zwingt zwei Frauen – Mutter (Lotte Ledl) und Tochter (Lena Stolze) – ihn nach vollbrachter Tat im Auto mitzunehmen. Die Mutter erkennt den Täter an der Stimme, was sie ihm auch mitteilt: Er erschießt sie und verwundet die Tochter schwer. Der einzige Hinweis, den Derrick hat: Die Mutter kannte den Täter vermutlich aus einem Gasthaus, in dem sie sich oft aufhielt. Dort stehen neben dem Wirt (Henry van Lyck) auch der Handelsvertreter Erich Kugler (Uwe Friedrichsen), der vorbestrafte Pianist Ruge (Hans Peter Hallwachs) sowie einige Bedienstete (Gert Burkard, Werner Asam, Ernst Hannawald) als Verdächtige zur Verfügung …

Mal wieder ein klassischer Whodunit, der von den herausragenden Darstellern getragen wird. Das Wirtshaus, in dem sich Derrick und Harry zur Ermittlung einfinden, ist ein dumpfbraune Stube deutscher Tristheit, die auch die Beziehung der unfallgeschädigten Tochter erfasst: Als deren Verlobter erfährt, dass seine Zukünftige möglicherweise für den Rest ihres Lebens eine Krücke (!) brauchen wird, nimmt er ob dieser Aussicht sofort Reißaus, Das Drehbuch kann den Verdacht, dass Reinecker diese leichte Gehbehinderung tatsächlich für einen massiven Einschnitt hält, nicht gänzlich entkräften. Ansonsten bezieht die Episode ihren nicht unbeträchtlichen Reiz aus den Akteuren, von denen vor allem Friedrichsen eine echte Schau ist. Er scheint mit seinem Kugler wirklich Spaß gehabt zu haben und auch Hallwachs ist – hier mal in einer sympathischeren Rolle – eine Bank.

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Episode 176: Rachefeldzug (Theodor Grädler, 1989)

Auf Derrick wird geschossen, er entgeht dem Attentat nur knapp. Sein Verdacht fällt auf den Geschäftsmann Renzi (Günther Ungeheuer), der ihm am selben Tag die Todesanzeige seines Sohnes geschickt hatte: Jener hatte sich in seiner Gefängniszelle, in die ihn einst Derrick gebracht hatte, erhängt.

Der Titel „Rachefeldzug“ verspricht Action, eisigen Thrill und brutale Gewalt: Ist es wirklich eine Überraschung, dass Reinecker diese Erwartungshaltung krass unterläuft? DERRICK war nie bekannt für seine Geschwindigkeit, Körperlichkeit und zupackende Härte, aber hier ist das Missverhältnis zwischen dem, was der Titel verspricht und dem, was Grädler dann liefert, schon besonders eklatant. Die Folge ist endlos geschwätzig, der Täter von Anfang an mehr oder weniger bekannt und womit da eigentlich die Spielzeit gefüllt wird, reichlich rätselhaft. Symptomatisch ist eine Szene, in der Derrick und Harry ins Auto steigen und einen panischen Warnruf von Kollege Willi (Willy Schäfer) erhalten: Unter gar keinen Umständen sollen sie den Wagen starten, denn es sei eine Bombe darin. Die beiden steigen aus, die Bombenentschärfer kommen und teilen den beiden nach getaner Arbeit mit, dass der Timer auf eine halbe Stunde gestellt war. Man kann noch nicht einmal sagen, dass diese potenziell spannende Szene an der Umsetzung gescheitert sei: Reinecker hat vielmehr gar nicht versucht, so etwas wie Suspense zu erzeugen. So kaut man sich als Betrachter nicht etwa auf den Nägeln, weil man mit dem Ermittler bangen würde, sondern vielmehr weil dessen Seelenruhe und die „Ich sage nichts“-Stoik des Täters an den Nerven zerrt. Meine Lieblingsszene ist die, in der Derrick seinen Gehilfen Harry dazu auffordert, seine „berühmten“ Spaghetti zu kochen: Mich hat die Intensität, mit der Harrys Künste gelobt werden, an die Kaffee-Szenen aus PULP FICTION oder TWIN PEAKS erinnert. Gleichzeitig wirkt es einfach nur niedlich, wie Derrick den Hiwi abfeiert und dieser dabei einen gefühlten Meter größer wird. Insgesamt habe ich „Rachefeldzug“ als einen Tiefpunkt der Serie empfunden, aber dann ist dieser Verschnarchtheit auch wieder höchst faszinierend. Einem guten Reißer alle Zähne ziehen: Das konnte nur Reinecker so formvollendet.

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Episode 177: Schrei in der Nacht (Günter Gräwert, 1989)

Eine Prostituierte wird tot im Englische Garten aufgefunden. Die Spur des Mörders führt zu einem Mietshaus mit mehreren Verdächtigen: der Vermieterin Dr. Kolbe (Christine Buchegger), die den Tod ihres Mannes betrauert, dem Studenten Hessler (Horst-Günther Marx), der seltsamen Law-and-Order-Fantasien nachhängt, dem Pornohefte lesenden Hausmeister (Klaus Herm), dem Kaufmann Bracht (Jürgen Schmidt), der seine Ehefrau „nicht in Anspruch nimmt“, wie er selbst sagt, und dem hysterischen Krimiautoren Wickrt (Udo Vioff). Weil auch die Freundin (Roswitha Schreiner) der Toten nicht den entscheidenden Hinweis geben kann, schleust Derrick eine Undercover-Agentin (Svenja Pages) dort ein …

Wie schon kurz zuvor „Die Stimme des Mörders“ ein klassischer Whodunit mit schönem Giallo-Einschlag. Die Besetzung ist vielleicht nicht ganz so spektakulär, aber dennoch erlesen: Klaus Herm wurde für dirty old man im Hauskittel gewissermaßen geboren (seine mit Geschmacklosigkeiten und Tittenheften zugepflasterte Kellerwohnung ist ein feuchter Ausstattungstraum), Udo Vioff ist toll als wahnhafter Dichter mit Edgar-Allan-Poe-Porträt an der Wand, dem in der Erregung die Stimme entgleitet, Jürgen Schmidt eh ein unsung hero der deutschen Krimiserie: Wie er beschwipst Svenja Pages (hinreißend!) anschmachtet, sich gerade noch eine Dummheit verkneift, das ist einfach großartig in seiner ganzen bemitleidenswerten Jämmerlichkeit. Die Auflösung kommt dann mit einer für Reinecker eher ungewohnten Annäherung an den Zeitgeist, während die Studentenfigur mit ihren Herrenmenschen-Ambitionen mittlerweile Tradition hat. Die Folge bleibt vor allem im Gedächtnis, weil sie so schön schlüpfrig ist, Tappert reichlich Gelegenheit bietet, mit den Augen zu rollen, und die süße Roswitha Schreiner als Bordsteinschwalbe mit Schaftstiefeln und Minirock aufbietet. Titelsong von Dieter Bohlen.

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Episode 178: Die Kälte des Lebens (Helmuth Ashley, 1989)

Der kleine Zuhälter Rossner (Claude-Oliver Rudolph) wird auf der Herrentoilette eines Nachtclubs ermordet, der zum Revier seines Konkurrenten Badeck (Winfried Glatzeder) gehört, weil er es gewagt hatte, mit seinen beiden Nutten Rosa (Ursela Monn) und Libeta (Tushka Bergen) dort aufzutauchen. Libeta war ganz in der Nähe, hat die Mörder aber nicht gesehen. Gegenüber Derrick behauptet sie etwas anderes: Sie sehnt sich nach der Nähe eines Mannes, der sich wirklich um sie kümmert. Mit ihrer Aussage zieht sie allerdings Gefahr auf sich …

Ashleys Folge reizt das sich früh andeutende Potenzial leider nicht ganz aus, muss aber trotzdem als gelungen bezeichnet werden. Wie häufiger in dieser Zeit, zieht sich ein resignativer, pessimistischer Ton durch die Episode, der sich ja auch schon im Titel niederschlägt. Und wieder einmal baut Derrick eine Beziehung zu einer Zeugin auf, was für rare Momente der Wärme sorgt, die sich aber am Ende als wertlos erweisen. Rudolph ist mal wieder super als größenwahnsinniger Kleinganove mit Rockabilly-Koteletten, Ursela Monn sehr überzeugend als erfahrene, sich keine Ilusionen mehr machende Nutte. Lotte Ledl gibt die barsche Vermieterin, die schon beim Frühstück ihre erste Schachtel Kippen aufraucht und Glatzeder überzeugt als Schwerverbrecher ebenfalls auf ganzer Linie. Dazu gibt’s einen stilechten Frank-Duval-Themesong und fertig ist ein trübes Glanzlicht der späten Achtziger.

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Episode 179: Mozart und der Tod (Zbynek Brynych, 1989)

Die Geigenspielerin Marion Scholz (Heike Faber) und ihr Lehrer Justus Roth (Christoph Eichhorn) werden nach einer Geigenstunde überfallen, die junge Frau vergewaltigt. Mithilfe des Spitzels Eckler (Hermann Lause) werden die drei Täter ausfindig gemacht. Doch aus Angst behaupten die Opfer bei der Gegenüberstellung, niemanden zu erkennen …

Ich mag Brynychs Zeichnung des traurigen Milieu-Pärchens Eckler und seiner Nachbarin, der Prostituierten Wanda (Monika Baumgartner), und die Gegenüberstellung mit den beiden Hochkultur-Kindern, aber insgesamt fehlt etwas zum großen Glück. An Reineckers Moralvorstellungen, die mal wieder schwer zu verteidigen sind, sind nicht Schuld daran: Er spielt die beiden Pärchen hart gegeneinander aus und schlägt sich dabei natürlich auf die Seiten der Unterprivilegierten, auch wenn Marion und Justus ja gar nix dafür können, dass sie auf der Sonnenseite des Lebens geboren wurden – was das Mädchen immerhin auch nicht davor bewahrt, brutal vergewaltigt zu werden. Nein, der Kriminalfall selbst ist ein bisschen öde und die Bösen (Jürgen Schornagel, Volker Bogdan und Hans Zander) kaum mehr als Pappkameraden, allerdings besonders verachtenswerte. Egal, ich mag diese Milieufolgen, in denen Derrick immer besonders angeekelt ist.

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Episode 180: Ein kleiner Gauner (Helmuth Ashley, 1989)

Alfred Kochem (Oliver Rohrbeck) lebt in einem Zelt auf dem Campingplatz und versucht sich eher erfolglos als Taschendieb. Sein Nachbar, der Ex-Einbrecher Düsberg (Kurt Sowinetz), setzt ihm einen Frosch ins Ohr und schlägt ihm vor, in eine der im Sommer leerstehenden Villen einzusteigen. Gesagt, getan, doch vor Ort wird Kochem von drei Männern überrascht, die den Mord an einem Physiker (Hans Quest) besprechen. Kochem fährt zum vereinbarten Ort des Geschehens, doch kann er den Mord nicht verhindern. Dafür wird er selbst gesehen und gilt nun als einer der Verdächtigen. Doch Derrick glaubt seiner haarsträubenden Geschichte …

Eine relativ leichte, sommerlich Episode, die ohne große moralphilosophische Diskurse oder Trauermiene von Derrick auskommen muss. Das ist mal sehr angenehm, auch wenn Reinecker andere Mittel und Wege hat, allzu gute Laune zu verhindern. Sein Protagonist Kochem ist jedenfalls ein ziemlich passiv-aggressiver Stinkstiefel und braucht eine halbe Ewigkeit, bevor er sich anderen gegenüber mal normal benimmt. Die Schurken fallen kaum ins Gewicht, genauso wenig wie Christiane Krüger in ihrem vorletzten von neun DERRICK-Auftritten.

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Episode 181: Diebachs Frau (Alfred Weidenmann, 1989)

Karl Diebach (Gerd Anthoff) wird von seiner Ehefrau Maria (Irene Clarin) mit dem wohlhabenden Haffner (Hanns Zischler) betrogen. Beistand in der Krise leisten ihm Pfarrer Bohl (Werner Schnitzer) und sein Sohn Herrmann (Stefan Reck). Wenig später ist Haffner tot und Maria kehrt zu ihrem Gatten zurück …

Mal wieder eine Folge, in der ein waschlappiger Ehemann von seiner Gattin auf geradezu boshaft offenherzige Art und Weise betrogen wird: Anthoff spielt fast exakt denselben Charakter, den er schon in „Ende einer Illusion“ gegeben hatte. Wenn man sich daran erinnert, ist die Auflösung auch nicht mehr so überraschend. Okayer Standard mit melodramatischem Einschlag.

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Episode 182: Ein merkwürdiger Tag auf dem Lande (Wolfgang Becker, 1989)

Der Bankräuber Jobst Huber (Wolfgang Fierek) verschwindet, nachdem er aus einem Dorf aus seinen Bruder (Michael Fitz) angerufen hat. Gemeinsam mit seiner Schwägerin (Svenja Pages) versucht er, seine Spur aufzunehmen. Vor Ort stoßen sie aber nur auf Ablehnung – und finden den Motorradhelm des Verschollenen. Ein fürchterlicher Verdacht drängt sich ihnen auf: Gemeinsam mit Derrick kehren sie in das Dorf zurück …

Die Achtzigerjahre enden mit einer Spitzenfolge von Wolfgang Becker, einer bayrischen Vorabendvariante von 2000 MANIACS, in der Reinecker mal wieder die Gier der kleinen Leute thematisiert, die sie alle moralischen Grundsätze vergessen lässt. Tappert, der damals bereits stramm auf die 70 zuging und nicht mehr den Enthusiasmus der ersten DERRICK-Jahrgänge an den Tag legte, dreht hier noch einmal auf, genießt es mit Haifischgrinsen, die verlogene Kleinbürgerbrut in die Enge zu treiben: Wie er sie sich vorknöpft und mit seinen Suggestivfragen löchert, ist einfach eine helle Freude. Ihm steht aber auch ein tolles Schurkenensemble gegenüber: Martin Semmelrogge tritt alles los, Gerd Baltus gibt den Wortführer, DERRICK-Regulars Karl Renar, Toni Berger und Willy Schultes vervollständigen den Reigen. Wolfgang Fierek ist unerwartet perfekt als freundlicher Bankräuber auf dem Motorrad, der mit der feinen Gesellschaft ein Saufgelage lostritt, das er nicht überlebt. Über allem scheint die Sonne und zwitschern die Vögel. Toll!

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