Was hat wohl Jonathan Kaplan gedacht, als er nebenstehenden Posterentwurf für seinen Film gesehen hat? Selbst wenn das Finale von OVER THE EDGE nicht gänzlich frei von den Mitteln des Kintopps ist – da explodieren dann Autos, wenn sie irgendwo gegenfahren oder mit dem Luftgewehr beschossen werden -, so stehen seine hehren Intentionen doch nie in Frage, ist er vom Vorwurf der sensationalistischen Ausbeutung seines Stoffes gänzlich freizusprechen. Das ist beim Thema „Jugendkriminalität“ keinesfalls selbstverständlich: In den Fünfzigerjahren gab es eine echte Welle von Filmen um Halbstarke, die mit Klappmessern fuchtelten, Haschgift spritzten, verrohenden Rock’n’Roll hörten, ihren Samen wild in der Gegend verteilten oder sich freimütig schwängern ließen. Diese Filme zielten längst nicht nur auf ein jugendliches Publikum ab, das sich von den Protagonisten auf der Leinwand repräsentiert sah, sondern natürlich auch auf Erwachsene, die ihre Vorurteile über die Jugend von Heute bestätigt sehen oder aber unter dem Deckmantel der Aufklärung unbehelligt Sex and Crime bestaunen wollten. Kaplans Film teilt mit dem Juvenile-Delinquency-Film viele Gemeinsamkeiten, geht aber sehr behutsam mit dem Thema um und lässt keinen Zweifel daran, dass ihm seine jugendlichen Charaktere sowie ihre Sorgen und Nöte wirklich am Herzen liegen. Der weit überwiegende Eindruck ist dann auch einer von echter Sympathie und Verständnis. Kein Vergleich zu den „Vorbildern“, die ein oftmals unfrewillig komisches Bild von Jugend und Jugendkultur zeichneten und nie verbergen konnten, dass sie von Außenseitern erdacht worden waren.
OVER THE EDGE beruft sich mit einer Texteinblendung auf die eskalierende Jugendkriminalität in den USA der Siebzigerjahre und wurde von Ereignissen aus dem Jahr 1973 inspiriert. Die Drehbuchautoren Charles S. Haas und Tim Hunter (der später den ebenfalls fantastischen Jugendkriminalitätsfilm RIVER’S EDGE drehte) verfassten ihr Script laut eigenen Aussagen nach der Lektüre eines Zeitungsartikels über vandalisierende Jugendliche in einer Vorstadtgemeinde in Kalifornien. Der Grund für die Gewalt wird gleich zu Beginn des Films identifiziert: In der ins Nichts von Arizona gebauten Kleinstadt New Granada gibt es keinerlei Zerstreuung für die Heranwachsenden außer einem traurigen Jugendcenter, das längst unter ständiger Beobachtung der Polizei steht. Die Kinder konsumieren Drogen, weil sie sonst nichts zu tun haben, oder stellen irgendwelchen Unfug an: Die Erwachsenen sehen lediglich die schöne Ordnung ihres Vorstadtidylls gefährdet und reagieren mit Unverständnis und Repressalien, anstatt jemals nachzufragen, was ihre Brut denn eigentlich vermisst. Je mehr einer aus der Reihe tanzt, umso größer der Widerstand, umso heftiger wiederum die Gegenreaktion: eine gefährliche Spirale, die einmal in Gang gesetzt kaum mehr zu stoppen ist. So passiert, was passieren muss: Ein dummer Scherz endet mit der Erschießung des aufmüpfigen Richie (Matt Dillon), der den Fehler macht, eine (ungeladene) Pistole gegen den übermotivierten Polizisten Doberman (Harry Northup) zu heben. Während sich die Eltern infolge des Unglücks in der Schule versammeln, um zu überlegen, mit welchen Maßnahmen sie die Rebellen belegen können, versammeln diese sich vor dem Gebäude und hauen die Autos der Eltern zu Klump …
Kaplans Film lebt von der wüstenhaften Tristesse des wie vom Rest der Welt vergessenen Neubau-Albtraums in der brennenden Sonne, von seinen jugendlichen Darstellern, die angenehm authentisch agieren, und dem träge und ziellos wie der Alltag der Protagonisten mäandernden Plot. Auch wenn OVER THE EDGE merklich auf eine Katastrophe zusteuert, unterwirft er sich nicht krampfhaft einer geschliffenen Spannungsdramaturgie. Tatsächlich bleibt das alles bis zum Finale immer in einem realistischen Rahmen, selbst die Erschießung Richies vollzieht sich überaus lapidar und unspektakulär, eben so, wie solche Unglücksfälle immer passieren: Nicht mit schwellenden Streichern im Hintergrund und als punktgenau getimter Höhepunkt einer minutiös orchestrierten Kettenreaktion, sondern einfach so, dumm, unnötig, tragisch. Eben war er noch da, jetzt nicht mehr. Das Finale von Kaplans Film suggeriert die Möglichkeit eines Happy Ends: Vielleicht haben die Eltern ja doch verstanden, dass ihre Kinder keine undankbaren Terroristen sind, dass sie lediglich eine Möglichkeit der Entfaltung wollen – und brauchen. Fürs erste aber wandern sie für ihre Entgleisung in den Jugendknast. „Things are gonna get easier“ singt Valerie Carter am Schluss in einer Coverversion der Five Stairsteps: Kaplans Hoffnung ist ehrlich, aber leise Zweifel kann auch er nicht ganz wegwischen.