Archiv für Juli, 2014

Fast alles, was ich zu DER TEPPICH DES GRAUENS, der ersten Verfilmung eines Weinert-Wilton-Romans, geschrieben habe, trifft auch auf den Nachfolger namens DIE WEISSE SPINNE zu. Die Dr.-Mabuse-Reminiszenzen sind diesmal fast noch deutlicher. So referenziert Reinl hier nahezu originalgetreu eine Szene aus Fritz Langs meisterlichem DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE: So sitzen die vom ermittelnde Inspektor Conway vorgeladenen Zeugen einem gesichtslosen Schatten hinter zwei blendenden Lampen gegenüber, der sich am Ende als reiner Pappkamerad entpuppt. Und wieder steckt hinter der geheimnisvollen Mordserie ein Drahtzieher, dessen Identität und Gesicht selbst seinen Helfern unbekannt ist. Mir hat vor allem gut gefallen, dass der tolle Dieter Eppler, gern gesehener Nebendarsteller in der „echten“ Edgar-Wallace-Reihe hier eine deutlich größere Rolle abbekommen hat, in der er als ehemaliger Schauspieler gleich in mehreren Verkleidungen auftreten darf. Auch sonst ist DIE WEISSE SPINNE schön besetzt, unter anderem mit Horst Frank in einer seiner zahlreichen Schurkenrollen, der immer wunderbare Werner Peters.

Doch obwohl die einzelnen Elemente von DIE WEISSE SPINNE durchaus stimmig geraten sind, hat mich der Film als Ganzes wie nur wenige in der vergangenen Zeit genervt. Sein ganz, ganz großes Problem sind die beiden falschen Fährten, die er für den Zuschauer legt und über die volle Laufzeit von immerhin 100 Minuten nicht wieder verlässt: Beide sind von der ersten Sekunde an durchschaubar, und dass das Drehbuch die „Auflösung“ bis zum Schluss des Films herauszögert, ist demzufolge nicht viel mehr als ein selbstverliebtes – oder realitätsfernes – Tanzen um den heißen Brei. Da mag Dieter Eppler in seinen zahlreichen Identitäten noch so gut maskiert sein, man erkennt ihn eben doch unter jedem angeklebten Bart und mag den Protagonisten, denen das nicht gelingt, die Begriffsstutzigkeit nicht recht verzeihen. Schlimmer ist jedoch die andere Finte des Films: Da kündigt der Scotland-Yard-Mann die Ankunft eines Top-Kriminalisten Conway aus Australien an, der mit eigenen Methoden und unter Geheimhaltung seines Aussehens ermitteln wolle, und nur wenig später tritt Joachim Fuchsberger als vemeintlich aus der Haft entlassene Ralph Hubbard auf, dessen Involvierung in die Handlung vollkommen arbiträr wäre, es sei denn, er wäre eben jener Conway, den man trotz seiner elementaren Wichtigkeit für die Handlung nie zu Gesicht bekommt. Doch Reinl inszeniert das alles so, als sei die finale Enttarnung Hubbards als Conway der größte Clou seit Norman Bates in Frauenklamotten durch die Tür gestürmt ist.

Natürlich: Nach rund 60 Gruselkrimis, die ich in den vergangenen acht Monaten gesehen habe, erwarte ich beim besten Willen keine elaborierten Verwirrtaktiken. Diese Filme sind bei aller vordergründigen Labyrinthik höchst simpel gestrickt und letzten Endes durchschaubar. Aber das ist bei den besten Beispielen eben verzeihlich, weil es sowieso um etwas anderes geht: um die stimmungsvolle Fotografie, die schrulligen Figuren, die nebligen Settings, die fantasievollen Morde und Maskierungen. DIE WEISSE SPINNE legt statt auf solche schmückenden Details viel zu viel Gewicht auf einen Plot, dessen Cleverness er in geradezu verhängnisvollem Maße überschätzt.

 

 

 

 

 

 

„Wer Edgar Wallace liebt, wird auch von Weinert-Wilton begeistert sein“: So versuchten die Marketing-Strategen der Constantin Film damals die Menschen in DER TEPPICH DES GRAUENS zu locken, und man weiß nicht, ob man die Ehrlichkeit dieser Aussage loben oder doch eher die Einfallslosigkeit ankreiden soll, mit der da in den Sechzigern eine erfolgreiche Masche gnadenlos und ohne Unterlass zu Tode geritten wurde. Neben den Edgar-Wallace-Filmen von Horst Wendlandt, Atze Brauner und anderen Konkurrenten, hatte der Freund der sogenannten „harten Welle“ der Gruselkrimis die Auswahl zwischen den Mabuse-Filmen, den Filmen nach Bryan Edgar Wallace, diversen nach bekanntem Muster gefertigten Rip-offs und schließlich also auch noch den Verfilmungen der Romane von Louis Weinert-Wilton. So mancher Krimifreund hat den Kinosaal wahrscheinlich gar nicht mehr verlassen ob dieser angeblichen Vielfalt. Dennoch kann man sich heute nur noch darüber wundern, dass diese Welle über zehn Jahre lang durch die Kinos schwappte und sich nicht schon deutlich früher Ermüdungserscheinung und Übersättigung bemerkbar machten. Zumal sich die einzelnen Filme kaum voneinander unterschieden. DER TEPPICH DES GRAUENS, der Startschuss der vierteiligen Reihe von Weinert-Wilton-Verfilmungen, wartet mit an die Plakate der Wallace-Filme angelehntem Posterdesign auf (die literarische Vorlage war ebenfalls in der Goldmann-Taschenkrimi-Reihe erschienen), wurde von Harald Reinl inszeniert, einem der maßgeblich stilprägenden Regisseure hinter dem Edgar-Wallace-Erfolg, und mit aus dem Wallace-Ensemble bekannten Darstellern besetzt: So begegnen einem Joachim Fuchsberger und Karin Dor in den für sie typischen Hauptrollen, Werner Peters und Carl Lange agieren als Nebendarsteller. Im kontrastreichen Schwarzweiß fühlt man sich gleich zu Hause und die Mischung von Krimihandlung mit Grusel- und Mysteryelementen stellt auch nicht vor besondere kognitive Herausforderungen. Sollte sie ja auch gar nicht.

DER TEPPICH DES GRAUENS erzählt von einer rätselhaften Mordserie: Mehrere Menschen fallen einem exotischen Giftgas zum Opfer, das beim Zerfall kleiner, harmlos aussehender Kügelchen austritt. Besondere Potenz entwickeln diese Kügelchen angeblich auf den Maschen kostbarer Teppiche, was nun wirklich die idiotischste Begründung für einen sowieso schon dämlichen Titel ist, die man sich vorstellen kann. Hinter der Mordserie, in die sowohl der Secret-Service-Agent Raffold (Joachim Fuchsberger) als auch Ann Learner (Karin Dor), die Nichte eines der Opfer, involviert ist, steht eine Verbrecherorganisation, die von einem großen Unbekannten im Hintergrund geführt wird …

Wenn man sich die Mühe machen möchte, die Weinert-Wilton’schen Eigenheiten gegenüber den Wallace’schen aus dem Film herauszuarbeiten, so mag man eine stärkere Hinwendung zu klassischen Gangsterfilm-Elementen und den Verzicht auf die sonst üblichen Ränkespiele um Erbschaften alteingesessener britischer Adelsfamilien konstatieren. Tatsächlich erinnert DER TEPPICH DES GRAUENS (wie übrigens auch DIE WEISSE SPINNE) mit seiner klandestin operierenden Gangsterbande, die die Befehle ihres unbekannten Anführers als Textnachrichten auf einem Bildschirm empfängt, stark an die Dr.-Mabuse-Filme. Reinls Film ist etwas moderner als die in ihrer Mischung aus Gothic Horror und Mystery typisch britischen Wallaces. Das sieht man schon daran, dass als Assistent Raffolds ein Schwarzer namens Sam (Lorenzo Robledo) fungiert: Die Existenz von dunkelhäutigen Menschen wurde in den Edgar-Wallace-Filmen noch weitestgehend geleugnet, wenn mich mein Erinnerungsvermögen nicht täuscht. Man sollte sich davon aber nicht zu viel versprechen: Der arme Kerl wird als louisarmstrongesk radebrechender, dumpf glotzender Trottel mit einem IQ nur ganz knapp oberhalb der Zimmertemperatur gezeichnet, der von Fuchsberger in einer Tour herumkommandiert und bevormundet wird, und man wundert sich ob dieses kaum noch unterschwelligen Rassismus, dass man statt seiner nicht gleich Eddi Arent im Blackface oder einen Schimpansen im Anzug hat antreten lassen. Der Effekt wäre ungefähr derselbe gewesen.

DER TEPPICH DES GRAUENS hat seine Momente – eine stimmungsvolle Szene in einem sumpfigen Waldstück bleibt im Gedächtnis – und bietet mit seinen geringfügigen Modifikationen Abwechslung zu den sehr gleichförmigen Wallace-Filmen, aber richtig spannend ist er nicht. Immerhin wirkt er nicht ganz so sehr in seiner festgefahrenen Form erstarrt, wie das bei der Quasi-Konkurrenz im Jahr 1962 ohne Frage bereits der Fall war. Einen Originalitätspreis kann man ihm dafür aber beim besten Willen nicht verleihen.

 

 

Wie SCHAMLOS beginnt auch GEISSEL DES FLEISCHES mit einer Schrifttafel. Ein Anstieg der Sexualverbrechen wird da konstatiert, und gemutmaßt, dass die zunehmend offenherziger werdenden Darstellungen des weiblichen Körpers auf Werbetafeln, in Film und Fernsehen dafür verantwortlich sein könnten. Ein Schelm, der Böses dabei denkt, denn Regisseur Eddy Saller dürfte sich bei der Formulierung dieser Zeilen fröhlich feixend ins Fäustchen gelacht haben. Natürlich profitiert GEISSEL DES FLEISCHES selbst in nicht unerheblichem Maße von dem Voyeurismus des Mannes, der Freude an weiblicher Selbstdar- und Zurschaustellung sowie der Lockerung jener gesellschaftlicher Normen, die bestimmen, was man noch zeigen darf und was nicht mehr. Als wolle er den unbewiesenen Kausalzusammenhang zwischen öffentlicher Nacktheit und der Anzahl der Sexualverbrechen in Stein meißeln, lässt er den Kamerablick in der Eröffnungsmontage von Plakatmotiven auf kurzberockte Damenbeine gleiten und drängt auch seine Zuschauer unweigerlich in die Triebtäterperspektive seines Protagonisten. Der heißt Alexander Jablonsky (Herbert Fux) und ist ein reichlich bemitleidenswertes Geschöpf. Der gescheiterte Konzertpianist verliert angesichts leicht bekleideter Damen sofort jede Beherrschung und wird von einem unstillbaren Trieb gepackt, der sich in einer Serie von Angriffen, Vergewaltigungen und Morden entlädt. Als er auf frischer Tat ertappt wird, gilt es vor Gericht zu ermitteln, in welchem Maße er überhaupt schuldfähig ist.

Saller, wissend dass er seinem Exploiter eine respektable Fassade verleihen muss, um dem Publikum eine Ausrede an die Hand zu geben, zieht seine Moritat sehr geschickt als quasi-essayistisches Thesenstück auf. Die Gerichtsverhandlung und der mit ihr einhergehende Austausch von Argumenten liefern den äußeren Rahmen, die Struktur und auch die Legitimation, in den via Rückblenden eingestreuten Mordszenen aus dem Vollen zu schöpfen. Es ist auch diese Spannungsverhältnis zwischen den steifen, Seriosität vorgaukelnden Gerichtsszenen (die den Ton der einige Jahre später entstehenden REPORT-Filmen vorwegnehmen) und den jeden aufklärerischen Impetus hinter sich lassenden Sequenzen, in denen Jablonsky seinen weiblichen Opfern nachstellt, die den Film zu einer Sternstunde deutschsprachiger Exploitation machen. Dabei funktionieren diese spannungsgeladenen Szenen schon ganz allein. Der unvergleichliche, unvergessliche Herbert Fux hat großen Anteil am Gelingen des Films, verkörpert er mit seinem markanten Gesicht und der schlaksigen Gestalt doch gleichermaßen den unberechenbaren Killer wie den tragischen Clown, den eine Laune der Natur zum Monster gemacht hat. Er spricht fast gar nicht und spiegelt in seiner Darstellung noch einmal die Kluft zwischen dem vorgetäuschten Anspruch der Gerichtszenen und dem Sein der Rückblenden: Wie er da regungslos, fast gelangweilt im Gerichtssaal sitzt, unfähig zu jeder Stellungnahme, ein stummer Zeuge bei seinem eigenen Prozess, fällt es schwer den mörderischen Lustmolch wiederzuerkennen. Zwei Herzen schlagen, ach, in seiner Brust. Saller zeigt aber auch in der Inszenierung der einzelnen Morde großes Können und zögert den Moment von Jablonskys Angriffen unter Zuhilfenahme spannungsfördernder Stilmittel – Musik, suggestive Kameraführung und schattenreiche Bildkomposition – weit hinaus. Es ist wahrscheinlich Zufall, aber mehr als nur eine Szene erinnerte mich an die großen Klassiker des US-amerikanischen Serienmörderfilms, die die nächsten Jahrzehnte bereithalten sollte: Eine Verfolgungsjagd durch das dürre, labyrinthische Geäst eines Wäldchens sieht aus wie jene, die Tobe Hooper für THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE inszenierte; der Einbruch Jablonskys in die Wohnung einer Tänzerin hingegen könnte William Lustig für seinen MANIAC studiert haben. Und der verzweifelte Kampf der als Lockvogel auf den Killer angesetzten Polizistin nimmt schließlich den Final-Girl-Schlussakt nahezu jedes Slasherfilms der Siebziger- und Achtzigerjahre vorweg.

Am Ende ist man sich einig: Nein, allein wegen der geilen Werbeplakate wird niemand zum Frauenmörder, aber ein bisschen selbst Schuld sind die Frauen trotzdem mit ihren kurzen Röcken und ihrem aufreizenden Gehabe in den Straßencafés. Der Jablonsky, der hat sich in seiner Zelle aufgehängt, armes Schwein, das er ist, aber da läuft schon der nächste unscheinbar wirkende Mann über die Straße und starrt lüstern unter die Tische. Die Mörder, sie sind mitten unter uns. Und wir lieben es, sie dafür zu hassen, dass sie so unverblümt ihren Trieben folgen, während wir selbst im Kino noch ein Alibi brauchen.

Ein Meisterwerk, wie SCHAMLOS auch schon.

 

kublai_khanEnde des 13. Jahrhunderts beauftragt Papst Innozenz IV. ausgerechnet den jugendlichen venezianischen Kaufmannssohn Marco Polo (Horst Buchholz) damit, nach China zu reisen, um eine Friedensbotschaft an Kaiser Kublai Khan zu überbringen. Die Reise führt ihn vom Nahen Osten, wo er von dem „Alten Mann in den Bergen“ (Akim Tamiroff) gefangen genommen wird, unter unvorstellbaren Entbehrungen durch die Wüste Gobi schließlich nach China …

Die Reise des historischen Marco Polo dauerte rund vier Jahre, erstreckte sich über mehr als 12.000 Kilometer und liefert wahrscheinlich genug Geschichten und Bilder, um damit eine ganze Filmbibliothek bestücken zu können. Erfahrene Film-Monumentalisten, ein Cecil B. DeMille, William Wyler, Anthony Mann oder David Lean, hätten sich für diese Reise kaum weniger als vier Stunden Zeit gelassen. Doch der von Raoul J. Lévy produzierte Film reißt das beachtliche Programm in noch nicht einmal der Hälfte der Zeit ab und hat daher mit zahlreichen hausgemachten Problemen zu kämpfen – die Tatsache, dass unzählige Autoren und Regisseure mitwurschteln durften, kam Kohärenz und Einheit des Ganzen eher nicht zugute. LA FABULEUSE AVENTURE DE MARCO POLO kommt nie über die Nummernrevue hinaus, bleibt eine Aneinanderreihung von Epsioden, die nicht nur wenig zum Gesamtwerk beitragen, sondern auch für sich genommen nicht richtig funktionieren wollen. Kein einziger Charakter – vielleicht mit Ausnahme von Kublai Khan – wird wirklich ausgearbeitet, genauso wenig wie der schiere logistische Wahnsinn oder auch nur der zeitliche Rahmen von Marco Polos Weltreise. Historische Genauigkeit möchte ich da gar nicht erst einfordern: Wenn Marco Polo auf den „Alten vom Berg“ trifft, der eine Armee von hübschen Männern und Frauen in Fetisch-Fantasiekleidung befehligt, wird dieser Erwartung glücklicherweise schon recht früh die Absage erteilt.

Glücklicherweise fallen all diese Vorwürfe nicht allzu schwer ins Gewicht, denn die Bilder, die während der Dreharbeiten Jugoslawien, Ägypten und Nepal eingefangen wurden, sind von unbeschreiblicher Schönheit und kommen auf der deutschen Blu-ray zu prachtvoller Geltung. Auch in punkto Ausstattung ließ man sich nicht lumpen: Bauten und Kostüme stehen der Bildgewalt des Films in nichts nach. Die gebotene Opulenz wirkt angesichts des geradezu lachhaften Budgets von gerade einmal 2,5 Millionen Dollars beinahe wie ein Wunder, vor allem wenn man bedenkt, das von dieser Summe auch noch Weltstars wie Anthony Quinn, Orson Welles und Omar Sharif bezahlt werden mussten, neben weiteren namhaften Akteuren wie Horst Buchholz, Elsa Martinelli, Robert Hossein, Akim Tamiroff, Massimo Girotti, Bruno Cremer und Folco Lulli. Man kann sich für gut zwei Stunden in dieses farbenfrohe, liebevoll gestaltete Bilderbuch vertiefen. Dass der Film darüber hinaus auf einer sehr positiven, humanistischen Note endet, für die Verständigung zwischen Völkern, Nationen und Religionen eintritt, ist dieser Tage auch nicht unbedingt selbstverständlich – man muss sich ja gar nicht lang durchs Netz klicken, um auf ungefilterten Hass zu stoßen. Somit ist das Urteil „Schön“ hier vielleicht sogar etwas mehr wert als sonst.

 

 

 

 

 

„ALT HEIDELBERG ist der ultimative Verzichtsfilm“: Zu dieser an das Vokabular des Hofbauer Kommandos angelehnten Beschreibung ließ ich mich kurz nach der Sichtung auf Facebook hinreißen, in einem ersten Versuch, das eben Gesehene einzuordnen. „Verzicht“: Dieses Wort ist zum prägenden Stempel für solche Filme häufig deutschen Ursprungs geworden, die an der hierzulande weit verbreiteten Unsitte kranken, ihren Protagonisten jedweden körperlichen Genuss mithilfe abstruser moralischer Argumentationen madig zu machen oder gleich ganz zu verbieten. „Verzicht“ heißt demzufolge die Krankheit der langsam vertrocknenden Hausfrauenprimel, die lieber auf den lieben Gott und die Sittenpredigten ihrer Mitmenschen hört als auf den Lustschrei ihres Unterleibs, und des fleißigen Mannes, dem das Bruttosozialprodukt wichtiger ist als das regelmäßige Freispülen der Samenstränge. ALT HEIDELBERG nun handelt direkt, unmittelbar vom Verzicht, nicht nur in der Hinsicht, dass er seinen Protagonisten (und diverse Nebencharaktere) vor die Wahl zwischen Lusterfüllung und Verzicht stellt, sondern auch, weil diese Wahlmöglichkeit von Anfang an nur virtuell ist. Noch nicht einmal hier, im Kino, dem Ort des Eskapismus und der Wunscherfüllung, einer Oase der unendlichen Möglichkeiten inmitten der Wüste bundesdeutscher Biederkeit, gönnt Drehbuchautor und Regisseur Marischka seinem Helden den Ausbruch aus der Tristesse der Realität, sondern wirft ihn mit geradezu sadistischer Boshaftigkeit in Ketten, um sich diese Brutalität von seinen wahrscheinlich überwiegend weiblichen Zuschauern mit salzigen Tränen bezahlen zu lassen.

Karl-Heinrich (Christian Wolff), Erbprinz des erfundenen Herzogtums Sachsen-Karlsburg, soll sein Studium in Heidelberg aufnehmen. Der strenge Stundenplan, der für ihn ausgearbeitet wird, versetzt seinen Lehrmeister Dr. Jüttner (Gert Fröbe), einen jovialen älteren Herren, in schiere Raserei, weiß er doch, dass zum Studium nicht nur das Lernen, sondern auch das Leben gehört. Zumal in Heidelberg, dessen wunderbaren Wein und köstliches Bier er in seiner eigenen Studienzeit lieben gelernt hat. Er begleitet Karl-Heinrich sehr zum Missfallen seines spießigen Kammerdieners Lutz (Rudolf Vogel) und achtet im Folgenden darauf, dass dieser ausgiebig teilnimmt am Studentenleben. Karl-Heinrich legt die vornehme Zurückhaltung bald ab, wird zum beliebten Kameraden in seiner Burschenschaft und verliebt sich darüber hinaus in die brave Käthi (Sabine Sinjen), rehäugiges Kellnermädel in dem Gasthof, in dem Karl samt Gefolgschaft residiert. Das Liebesglück wird jäh unterbrochen, als sich der Gesundheitszustand von Karls Onkel in der Heimat rapide verschlechtert und die Anwesenheit einer Vertretung unabdingbar wird …

ALT HEIDELBERG ist die vierte Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks von Wilhelm Meyer-Förster aus dem Jahr 1901. Zuvor hatte sich unter anderen der große Ernst Lubitsch 1924 an dem Stück versucht und es unter dem Titel OLD HEIDELBERG für MGM inszeniert. Das Lexikon des Internationalen Films geht wenig zimperlich mit Marischkas Umsetzung um, bezeichnet es im gewohnten, mit gepfefferten Invektiven angereicherten Stil als „[m]it Burschenherrlichkeit, gedämpfter Sentimentalität und kitschigen Postkartenbildern aus dem Neckarland angereicherte Pseudo-Romantik“. Wenn man dieses Urteil auch nicht zur Gänze abweisen mag – wie hier einer Zeit hinterhergetrauert wird, in der Burschenschaftler nachts saufend durch die Straßen ziehen und deutsches Liedgut grölen, befremdet den heutigen Zuschauer mehr als nur ein bisschen –, so verwundern doch die Vorwürfe „gedämpfter Sentimentalität“ und „Pseudo-Romantik“, die vermuten lassen, da wurde einfach irgendein naheliegender Vorwurf aus dem Hut gezaubert, um sich mit dem Film nicht näher beschäftigen zu müssen. ALT HEIDELBERG ist von einer zutiefst fatalistischen Weltsicht geprägt, die sich schwerlich nur mit dem Verweis auf den affirmativen Rührstück-Charakter begründen lässt. Glück ist in ALT HEIDELBERG in dem Moment, in dem man ihm am nächsten ist, immer schon wieder im Verschwinden begriffen. Karls Zeit in der badischen Studentenmetropole ist von Anfang an begrenzt, die Flucht nur von vorübergehender Dauer. Sein Studium ist kein Wendepunkt in seinem Leben, sondern nur eine kurze Zäsur, nach der er so weitermachen muss, wie es für ihn von Herkunft wegen schon immer vorgesehen war. Marischkas Film erzählt eben nicht davon, wie man sein Glück in die eigene Hand nimmt, wie man sich gegen das Schicksal stemmt und sich selbst verwirklicht, sondern wie man am Ende doch immer nur jenen Weg geht, der einem vorgegeben ist. Was einem dann noch bleibt, das ist die Erinnerung.

Der ganze Film ist voll Bedauern verpasster Gelegenheiten und nicht ausreichend gewürdigter Momente, voller Gewissheit des nahenden Todes, maroder Körper und Resignation gegenüber der Zukunft, die wahrscheinlich doch nur eine Enttäuschung aller naiven Jugendträume ist, die man sich einst nicht verkneifen konnte. Vielleicht kommt irgendwann im Leben einmal die Gelegenheit, die Vergangenheit kurzzeitig aufleben zu lassen, zurückzukehren an die Orte der Jugend, sich noch einmal vom Zauber vergangener Tage bescheinen zu lassen: Aber auch diese Momente halten letztlich nur Schmerz bereit, machen sie doch überdeutlich klar, dass zu viel Zeit vergangen ist, um sie noch einmal zurückdrehen zu können. Dr. Jüttner hat noch einmal Glück: Er kann auf seine alten Tage noch einmal nach Heidelberg, sich noch einmal den Lastern der Jugend, dem Wein und dem Bier hingeben, aber es ist klar, dass das nicht mehr als seine Ehrenrunde ist. Als Karl zwei Jahre nach seiner Abreise nach Heidelberg zurückkehrt, kann er nur noch Jüttners Grab besuchen, immerhin an einem idyllischen Plätzchen mit Blick auf Heidelberg gelegen. Auch sonst ist Karls Besuch von der Einsicht in die Unabänderlichkeit der Dinge geprägt: Noch einmal lädt er seine Burschenschaft in den Gasthof ein, doch außer zweien erkennt er niemanden mehr. Was ein rauschendes Wiedersehensfest werden sollte, wird ein schweigsames, bedrücktes Beisammensitzen, das die Erkenntnis bringt, dass sich die Uhr nicht zurückdrehen lässt. Immerhin zeigt das Wiedersehen mit Käthi, das die alte Liebe noch da ist, aber sie darf eben nicht sein. Zu Hause wartet die dem Prinzen zugedachte Prinzessin. Es gibt hier kein Happy End, nicht in dieser Welt, nicht in Heidelberg. Karl steht auf und geht, ohne sich umzudrehen.

 

 

77 Minuten dauert Eddy Sallers SCHAMLOS, einer von nur fünf Filmen, die der Österreicher zwischen 1965 und 1981 gedreht hat, und er raste vorgestern so rauschartig an mir vorbei, dass es mir heute schwer fällt, mich sinn- und gehaltvoll zu ihm zu äußern. Mit „Vorbeirasen“ meine ich dabei nicht, dass er keinen Eindruck hinterlassen hätte, sondern vielmehr, dass er dem Zuschauer keine Zeit gibt, sich in ihn einzufinden, sich mit seinem Rhythmus und seinem ganzen Modus operandi vertraut zu machen. SCHAMLOS ist ein bisschen wie der komische Kumpel, den ein Bekannter ungefragt anschleppt, und der sich gar nicht erst lange vorstellt oder zurückhält, sondern sich gleich benimmt wie zu Hause. Man braucht dann einen Tag, um festzustellen, dass er eigentlich ganz in Ordnung ist, dieser Kumpel, auch wenn er sich keine große Mühe macht, einem zu gefallen, und sich noch weniger darum schert, ob er das tatsächlich tut. Ganz zu Beginn von Sallers Film, da weiß man allerdings, dass man nicht an der ganz falschen Adresse sein kann – quasi das Äquivalent zum sympathischen Band-T-Shirt, dass einem bei besagtem Kumpel als erstes ins Auge sticht: In betont sachlichen, nüchternen und seriös klingenden Worten wird einem da via Schrifttafel erklärt, dass der folgende Film ein hehres Anliegen verfolge, ja, dass es ihm um nicht weniger gehe als die Aufklärung, darum ein Bewusstsein zu schaffen für die Abwärtsspirale, in der unsere Jugend unaufhaltsam ihrem Abgrund entgegenschlittere. Man weiß da schon, dass das reine Lippenbekenntnisse sind, dass der Film froh über jeden jugendlichen Straftäter ist, der ihm Stoff für einen gepflegten Reißer liefert, und diese Dreistigkeit, die nimmt einen natürlich sofort ein für SCHAMLOS.

Erzählt wird die Geschichte von Alexander Pohlmann (Udo Kier), einem 20-jährigen Kriminellen, der mit seiner Gang Schutzgelder von Frankfurter Geschäftsinhabern erpresst und nebenbei mit der geilen Annabella (Marina Paal) liiert ist. Zwar genießt er die gemeinsamen Schäferstündchen mit der experimentierfreudigen Freundin, doch mehr noch bewegt ihn der Gedanke an die Knete, die ihre Offenherzigkeit und Schönheit ihm einbringen könnte. Ohne jede falsche Sentimentalität verhökert er sie an den Nachtklubbesitzer und Zuhälter Kowalski (Rolf Eden) – und tritt danach erst einmal relativ unvermittelt ab, um Platz für Annbella und ihre zwielichtiger Karriere zu machen. Die dauert indes nicht lang, denn ihr Schicksal ist natürlich vorgezeichnet: Sie wird umgebracht, möglicherweise von ihrem letzten Freier, dem Unternehmer Hohenberg, und das ruft sowohl Alexander auf den Plan als auch Annabellas Vater (Vladimir Medar). Während letzterer Rache für das Verbrechen möchte, hat Alexander noch einen Hintergedanken: Er vermutet Kowalski hinter dem Mord und sieht eine Möglichkeit, die Unterweltgröße von ihrem Thron zu stoßen. Mithilfe des Anwalts Dr. Fuhrmann (Herbert Kersten) initiiert Alexander einen Prozess …

SCHAMLOS ist geil, schnell, hart, wie ein Ritt auf der heißen Annabella oder auch die Fahrt mit einem aufgemotzten Schlitten über Frankfurter Kopfsteinpflaster. Der Rotlichtsumpf, er sieht in unnachahmlich cooles, à-bout-de-soufflöses Schwarzweiß gegossen unwiderstehlich aus, endlos verlockend und bedrohlich zugleich: ein Ort für echte Kerle eben, Frankfurt Sin City. Alexander Pohlmann ist natürlich ein Arschloch (genauso wie Kowalski und eigentlich überhaupt alle Figuren, die den Film bevölkern), aber wenn man so aussieht wie er, wird das zum verzeihlichen Makel. Das narrative Holterdipolter passt zur Kurzatmigkeit, mit der die Nachtschattengewächse ihrem Geschäft nachgehen: Immer auf der Suche nach einem neuen Coup, immer auf dem Sprung, zum Zerreißen gespannt, fiebrig zitternd, mit vibrierenden Muskeln und aufgestellten Haaren, wie ein lauerndes Raubtier in den Sekundenbruchteilen vor dem Angriff oder der Flucht. Wie sich die Story in der zweiten Hälfte entwickelt, ja, wie SCHAMLOS sich in dieser zweiten Hälfte eigentlich überhaupt erst entscheiden kann, eine Geschichte erzählen zu wollen, das erinnert ein bisschen an Fritz Langs großen M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER, mit dem Unterschied, dass es den Schurken, die hier Gericht halten, nicht um die Moral geht, lediglich um verletzte Eitelkeiten. Noch andere Filme fallen einem ein, Fassbinders LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD oder eben Godards À BOUT DE SOUFFLE, oder natürlich die tief in schwarzer Melancholie versinkenden Sittenreißer jener Tage, ST. PAULI ZWISCHEN NACHT UND MORGEN vielleicht an vorderster Front. Aber SCHAMLOS geht seinen eigenen Weg, hat nichts zu tun, will nichts zu tun haben mit verblendeter Romantisierung, mit Intellektualisierung oder politischem Revoluzzertum, mit Liebe schon gleich gar nichts. Hier geht es einzig und allein um den Ritt, den Thrill, den Arschtritt und den Geschmack von Metall auf der Zunge, um das durch die verengten Gefäße peitschende, mit Adrenalin versetzte Blut, glänzende Lederjacken, begehrenswerte Kurven und den von schwarzen Sonnenbrillengläsern neutralisierten Stahl im Blick. Eddy Saller hat – entgegen seiner einleitenden Worte – keinerlei politische oder moralische Agenda. Aber auf rein gefühlsmäßiger, affektiver Ebene ist SCHMALOS pure Agitation, eine sinnliche Provokation, der lüstern-geile Griff an die sich hinter engen Jeans abzeichnende Erektion.

Nicht nur das deutsche Kinoplakat und der deutsche Titel von Antonio Margheritis L’ULTIMO CACCIATORE sind unverkennbar von Francis Ford Coppolas Jahrhundertfilm APOCALYPSE NOW beeinflusst. Margheriti, eh einer der amerikanischsten unter den italienischen Genreregisseuren, orientiert sich auch narrativ und bildlich stark an dem großen Vorbild, natürlich ohne dessen Megalomanie anzustreben. Auch L’ULTIMO CACCIATORE erzählt von einer Reise ins „Herz der Finsternis“ und in den Wahnsinn des Kriegs, und seine Geschichte setzt sich weitestgehend aus den Stationen dieser Reise zusammen. Doch während in Coppolas Film die Grundfesten der Realität selbst unter Beschuss geraten, am Ende kaum noch etwas bleibt, an das man sich klammern kann, der Vietnamkrieg nur noch eine Metapher für die Orientierungslosigkeit des Menschen überhaupt ist, da endet Margheritis Film gewissermaßen in trotziger Selbstbehauptung: Um ihn herum mag alles in die Binsen gehen, aber an sich und seiner Wahrnehmung der Dinge besteht für Captain Morris (David Warbeck), das Äquivalent zu Martin Sheens Captain Willard, kein Zweifel. Soll die Welt doch zur Hölle fahren: Er macht nicht mehr mit, so oder so.

Margheriti inszeniert seinen Vietnamfilm als zupackenden Actioner, dessen Härten mehr als einmal an die ungefähr zur selben Zeit grassierenden Auswüchse des italienischen Zombie- und Kannibalenfilms erinnern (kurz zuvor hatte er mit APOCALYPSE DOMANI noch einen lupenreinen Action/Zombie/Kannibalen-Crossover gedreht). Da werden Augäpfel aus dem Schädel geschossen, fallen halbverweste Fallschirmspringer mit heraushängenden Eingeweiden aus Bäumen, explodieren Bäuche und Brustkörbe unter einschlagenden Geschossen und fliegen abgetrennte Unterschenkel durch die Gegend. L’ULTIMO CACCIATORE wird für Zuschauer und Protagonisten gleichermaßen zu einer körperlichen Belastungsprobe, mehr als zu einer geistig-seelischen. Der Wahnsinn der Auftaktsequenz, in der Morris‘ Freund – eingefangen von einer Kamera, der der feste Boden unter den Füßen völlig abhanden gekommen ist – während eines der genretypischen Saufgelagen in einem vietnamesischen Puff den Verstand verliert, erst einen Kameraden und schließlich sich selbst erschießt, weicht recht schnell der allerdings kaum weniger erschreckenden Klarheit von Leben oder Tod. Im Urwald heißt es auf der Hut sein und sofort zu reagieren, denn der Tod ist allgegenwärtig. Das schärft die Sinne und verringert die Gelegenheiten, in denen man über das Dasein sinnieren kann. Major Cash (John Steiner) und seine Männer, die in ihrer Höhle vollständig von feindlichen Kräften umzingelt sind, reagieren auf die Allgegenwart des Todes mit spielerischer Lebensmüdigkeit: Wer sich etwas zu Schulden hat kommen lassen, wird mit der Aufgabe betraut, mit einer gut sichtbaren, roten Kopfbedeckung ausgestattet in den Urwald hinauszurennen und eine Kokosnuss zurückzubringen – unter ständigem Beschuss durch den Gegner.

Das Ende ist etwas seltsam: Am Ziel angekommen, steht Morris der Gattin seines Freundes gegenüber, mit dem er einst nach Vietnam aufbrach, und damit auch seiner eigenen Vergangenheit. Noch einmal wird er mit seiner Entscheidung konfrontiert, in den Krieg zu ziehen, eine Entscheidung, mit der er alles verraten habe, wovon man einst überzeugt war. Gewissermaßen aus Rache für diesen Verrat hat sich die Freundin auf die gegnerische Seite geschlagen und wartet nun darauf, ihr Werk zu vollenden. Morris überwindet auch dieses Hindernis, aber den Rettungshubschrauber, der ihn in Sicherheit bringen soll, besteigt er nicht. Er zeigt weniger Resignation und Selbsterkenntnis als vielmehr Müdigkeit: Er hat den ganzen Scheiß einfach satt, den Krieg genauso wie die mahnenden Stimmen, die ihm einreden, welche Fehler er begangen hat, ihm moralische Gardinenpredigten halten. Vielleicht ist L’ULTIMO CACCIATORE der Film, der den Weg für den Backlash in den Achtzigerjahren erst geebnet hat. Morris sagt „Fuck you!“ und hört einfach auf zu kämpfen. Der Klügere gibt nach, gewissermaßen. Seine Nachfolger, all die etwas einfältigen Rambos und Braddocks, tragen den Kampf bis nach Hause.

 

Schonen_Wilden_Ibiza_(1980)Mike, Susi, Poldi, Gilda, Nadja, Ajita, Muschi, Juppy, Bob, Bosso: So heißen die Figuren, die diesen Film bevölkern. Nachnamen gibt es nicht, und das hat seinen Grund. Gesellschaftliche Normen und sozial konstruierte Identitäten spielen in den Tagen und Nächten in Ibiza, wo Götz‘ Film spielt, keine Rolle. Was zählt, das sind der funktionierende, in jugendlicher Blüte strahlende Körper und die Bereitschaft, alle jene Zwänge fallenzulassen, in die man zu Hause, irgendwo dahinten, hinter der Sonne, die verheißungsvoll und rot glühend im Mittelmeer versinkt, hoffnungslos eingebunden ist. Und natürlich der Beat, der einen immer weiter treibt, immer weiter, durch die Nacht bis in den nächsten Morgen. Es gibt viele Filme, die von der Jugend erzählen, von ihrer Getriebenheit, der nie abgeschlossenen Suche nach dem nächsten Kick, dem vollendeten Glück, dem perfekten Moment. Aber nur wenige haben das in dieser Reinheit geschafft wie Siggi Götz in DIE SCHÖNEN WILDEN VON IBIZA.

Mike (Régis Porte) und seine Freundin Susi (Tanja Spiess) – die beiden geben sich als Ehepaar aus – sind gerade auf Ibiza angekommen, da gibt es schon Probleme. Ihr Zimmer wurde bereits vergeben und auf der Suche nach Ersatz wird ihnen all ihr Hab und Gut geraubt. Sie finden Unterschlupf bei Susis altem Freund, dessen „Villa“ sich als notdürftig zusammengezimmerte Strandhütte entpuppt und finden Anschluss an eine bunte Clique Vergnügungssüchtiger, mit denen sie im Folgenden die Nächte unsicher machen, tanzen, trinken, feiern und in immer neuen Konstellationen miteinander im Bett landen. Konflikte sind vorprogrammiert, aber nie von Dauer: Selbst als die Strandhütte des homosexuellen Sonnyboys von einem wütenden Vater niedergebrannt wird, währt die Trauer nur kurz. Es bleibt keine Zeit, Trübsal zu blasen. Und wenn Mike und Susi nach diversen Eifersüchteleien am Ende ihr Geld wiederhaben und ihren ursprünglich geplanten Urlaub antreten wollen, da merken sie, dass sie nach dem Erlebten für die sauber abgesteckten Freuden des Pauschaltourismus verloren sind. Es ist dieses totale Unterwerfung unter die Idee jugendlicher Selbstverwirklichung, die zu 100 % geglückte Horizontverschiebung, die Götz‘ Film auszeichnet: Während Mike und Susi etwa im US-amerikanischen Teeniefilm am Ende „erwachsen“ geworden wären, in den sicheren Hafen von Kapitalismus, Monogamie und Ehe überführt worden, so sind sie gerade diesen erst einmal entflohen. Die Zeit, sesshaft zu werden, kommt noch früh genug.

DIE SCHÖNEN WILDEN VON IBIZA ruht gewissermaßen in seiner Ruhelosigkeit. Der Weg ist das Ziel. Und so lässt sich Götz‘ Regie niemals von einem Plot einspannen, sondern das Tempo von der Ausdauer seiner jugendlichen Protagonisten, der Wahl ihrer Fortbewegungsmittel und dem Rhythmus der Musik bestimmen. Dieses Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben, sich ohne Plan treiben zu lassen, spontanen Impulsen und Stimmungen zu folgen, das Gefühl, dass die Tage ineinanderbluten, in der Hitze, unter der gleißenden Sonne miteinander verschmelzen, fängt der Film nahezu perfekt ein. Die Hits, die ganz im Stile der Produktionsfirma LISA sehr zeitfüllend und zentral zum Einsatz kommen (u. a. „Funkytown“ von Lipps Inc. und „Play the Game“ von Queen), erstaunen zunächst ob ihrer Bekanntheit und der großen Namen, doch relativiert sich der Eindruck, wenn sie sich ab der Hälfte der Spielzeit allesamt wiederholen. Auch das passt letztlich wunderbar zum Geist des Films: Es ist auch die endlose Wiederholung der immergleichen Rituale, die die Jugend als Aneinanderreihung endloser Deja-Vus und somit als Zustand jeder Aufhebung von Zeit buchstäblich endlos erscheinen lässt. Wir wissen, dass dem nicht so ist, und betrachten die Unschuld und Naivität, mit der sich die Protagonisten da ins Leben schmeißen, mit sanft stechender Nostalgie. Those were the days …

Weil Paula (Heidemarie Hatheyer) mit dem Hofbesitzer Jacob Ferner zwei uneheliche Kinder hat, wird sie von den Einwohnern ihres Alpendorfs als „Zigeunerin“ beschimpft und gemieden. Als Jacob stirbt, soll sein Testament sie zumindest materiell für die erlittenen Demütigungen entschädigen und sie zur Hofbesitzerin machen. Doch Matthias (Carl Wery), der Bruder des Verstorbenen, nimmt das Testament an sich und versteckt es. Nur ein im ersten Zorn geschriebener Brief an den Bruder bezeugt seine Kenntnis des Testaments, und dieser Brief liegt in den Händen eines kleinen Beamten (Josef Offenbach), der ahnt, dass er ihm noch von Nutzen sein wird, als Matthias vor Gericht einen Meineid schwört. Um den ihr rechtmäßig zustehenden Besitz geprellt, zieht sich Paula mit ihren beiden Kindern in einen kleinen Gasthof in den Bergen zurück. Zehn Jahre später nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung …

DER MEINEIDBAUER basiert auf einem Theaterstück des österreichischen Volksdichters Ludwig Anzengruber und wurde bis heute etliche Male verfilmt, zuletzt 2012 von Joseph Vilsmaier. Auch wenn Jugerts Film zahlreiche Merkmale des in den Fünfzigerjahren so populären Heimatfilms aufweist – die beeindruckende Alpenkulisse, die einfachen, bodenständigen Charaktere, eine herzzerreißende Liebesgeschichte, Tragik und Dramatik –, so ist er doch aus anderem Holz geschnitzt als die typischen, oft nationalistischen, zumindest aber rückwärtsgewandten Erbauungsfilme. Postkartenkitsch und Naturverklärung sucht man hier vergebens, stattdessen zeichnet Jugert ein Leben voller Entbehrungen und eine Gesellschaft, die an verknöcherten Normen festhält. DER MEINEIDBAUER „feministisch“ zu nennen, ginge zu weit, aber das ganze Drama hat seinen Ursprung recht eindeutig in der überkommenen Rollenzuweisung der Gesellschaft. Paula – und mit ihr ihre beiden Kinder – ist weniger als ein Niemand, eine Aussätzige, Ehrlose, weil ihr die Legitimation der Ehe fehlt, die der Partner versäumt hat, ihr zu erteilen. Sie zu Erbin zu machen, was ihr endlich einen gewissen Status verliehe, wird wiederum von Matthias als Affront betrachtet. Nicht nur, dass ihm eine Frau vorgezogen wird: Auch noch eine solche? Die Logik, mit der er vorgeht, ist frappierend: Erst betrügt er Paula um ihren Besitz, dann will er seine Schuld gutmachen und sie ruhigstellen, indem er ihr vorschlägt, ihn zu heiraten. Um ihren Stolz zu wahren, bleibt ihr da nur übrig, ins Exil zu gehen. Aber auch dieser Matthias ist ein armer Tropf. Gebeutelt von seinem männlichen Anspruchsdenken und seiner Selbstherrlichkeit, wird er zum Betrüger und Kriminellen, lebt ganz allein auf seinem Hof, wird zum Opfer einer über Jahre gehenden Erpressung und entfremdet von seinem Sohn Franz (Hans von Borsody), nur um schließlich doch enttarnt zu werden. Am Ende, wenn er vor den Trümmern seiner Existenz steht, bleibt ihm, der doch immer so genau wusste, was sich gehört, nur der Freitod. Die Last des Betrugs ist immer ur schwerer geworden.

DER MEINEIDBAUER lässt die formale und narrative Leichtigkeit von Jugerts DER SATAN LOCKT MIT LIEBE gänzlich vermissen, lebt ganz von der Schicksalsschwere der Geschichte und dieser Kulisse: Die Gipfel der Berge illustrieren die Last, die alle zu tragen haben, die Begrenztheit dieser Gesellschaft, in der sie leben und die für sie unüberwindbar ist. Diese schwelgerischen Panoramablicke, mit denen der Heimatfilm die Schönheit der Natur besingt, sie fehlen hier. Der Horizont ist verbaut, Freiheit ist in dieser Welt nicht zu erreichen. Als Franz auf Wanderschaft ist, wird er von zwei Polizisten kontrolliert (Wolfgang Völz und Robert Freitag), Paulas Sohn, der mit Schmuggeleien versucht, das Leben seiner Familie erträglicher zu machen, schließlich von ihnen erschossen. Auch die Liebe zwischen Franz und Marei Roth (Christiane Hörbiger) steht unter einem schlechten Stern, belastet von der Vergangenheit ihrer beider Familien. Hier erinnert DER MEINEIDBAUER an den im letzten Jahr gelaufenen DAS FINSTERE TAL: Die Ignoranz und Engstirnigkeit pflanzt sich auch in denen unweigerlich fort, die unter ihr am meisten zu leiden hatten. Der Mensch ist seines eigenen Glückes Schmied, mehr aber noch seines Unglücks.

Richard Eichbergs DER GREIFER von 1930 und der ein Jahr später ebenfalls unter Eichbergs Regie entstandene DER DRAUFGÄNGER markieren meine (bewusste) Erstbegegnung mit dem „blonden Hans“. Sicherlich habe ich in meiner Kindheit und Jugend mal Schnipsel von MÜNCHHAUSEN Im Fernshen aufgeschnappt und möglicherweise auch von GROSSE FREIHEIT NR. 7, aber komplett habe ich beide nicht gesehen. Der Einstieg mit diesen beiden Filmen ist, vertraut man den Booklets, die den beiden bei Filmjuwelen erschienenen DVDs beiliegen, gewissermaßen ideal. Zwar begann Albers‘ Filmlaufbahn schon zu Stummfilmzeiten im Jahre 1915 und seine Filmografie umfasst bis 1930 schon annähernd 120 Einträge, doch war er bis dahin noch überwiegend auf Nebenrollen und zwielichtige Charaktere abonniert (wie gesagt: ich referiere hier aus zweiter Hand). Es war Eichbergs DER GREIFER, ein britisch koproduzierter Titel, der im Zuge der ersten Welle von Edgar-Wallace-Verfilmungen entstand, der ihn als den sympathischen Tausendsassa etablieren sollte, mit dem der echte Hans Albers daraufhin weitestgehend verschmolz. Der Film erwies sich als so bedeutend für Albers‘ Karriere, das er 1958 noch einmal aufgelegt wurde.

Albers, zu dessen habichtartigem Gesicht der Spitzname deutlich besser passt als zu Belmondos Boxernase, spielt in DER GREIFER den Londoner Polizisten Harry Cross. Er fahndet nach dem verbrecherischen „Messer-Jack“, der mit seinen dreisten Raubüberfällen die Oberen Zehntausend der englischen Metropole in Atem hält. Die Spur führt ihn zu der Revuesängerin Dolly Moorehead (Charlotte Susa), die mit dem Ganoven unter einer Decke steckt. Cross bändelt mit ihr an, um Informationen zu erhalten, während Dolly gleichermaßen bemüht ist, ihn für ihren Partner in die Falle zu locken. Am Ende hält Cross natürlich alle Fäden in der Hand, doch dafür muss er erst einen Bühnenauftritt mit Dolly absolvieren, einen weiteren Überfall vereiteln, Gauner hoch unter dem Dach des Theaters verfolgen, diversen Mordanschlägen entgehen und am Ende den Kampf mit „Messer-Jack“ höchstpersönlich bestehen.

DER DRAUFGÄNGER versetzt Albers zur Hamburger Hafenpolizei, wo er als Hans Röder (hier beginnt schon namentlich die Auflösung der Trennung zwischen dem Schauspieler und seiner Figur, die Albers‘ weitere Karriere durchzieht) mit einem Juwelenraub, einer Rachegschichte und der schönen Trude (Martha Eggerth) zu tun bekommt, die in den Kriminalfall hoffnungslos verstrickt ist. Das Beruflich vermischt sich recht bald mit dem Privaten: Hans verliebt sich in die (nicht ganz so) unschuldige Trude und muss diverse Morde aufklären, bevor er sie am Ende in die Arme schließen kann.

Eichberg inszeniert beide Filme gerade in den Actionszenen überraschend modern, temporeich und unter fachkundiger Verwendung dessen, was ihm damals an „Spezialeffekten“ zur Verfügung stand. In DER GREIFER nutzt Cross während seines Theaterauftritts die Tatsache, dass er an Seilen hängt (seine Rolle soll gewissermaßen vor Verliebtheit in die Luft gehen), um in den Oberrang zu springen, wo „Messer-Jack“ gerade einen Überfall begeht. Die anschließende Verfolgung über die Lichttarversen des Theaters ist ebenso zupackend wie sein Schlusskampf mit dem Gangster. Auch der Schnitt weiß immer wieder kleine Überraschungen zu setzen, etwa wenn Cross nach seinem Theaterauftritt gesteht, dass er Dollys echten Partner überrumpelt habe, und Eichberg zum Illustrierung des Gesagten daraufhin in einem nur wenige Sekunden dauernden Insert zu besagtem Pechvogel schneidet, der gefesselt auf dem Boden seiner Kabine liegt. In DER DRAUFGÄNGER gibt es einen schönen Stunt, wenn Röder von einem Pferd kopfüber durch eine Luke und in ein Zimmer und eine frische Leiche stürzt. Der Film macht außerdem schönen Gebrauch von seinem Hafensetting und stürzt den Helden im Finale gemeinsam mit dem Schurken von einer Yacht ins dunkle Wasser.

Doch täuschen diese Momente nie darüber hinweg, dass es hier in allererster Linie darum geht, dem Star eine geeignete Bühne zu bieten. Albers regiert beide Filme, er ist gewissermaßen das Gravitationsfeld, auf dessen Umlaufbahnen sich alles andere einzuordnen hat. Er spricht mit der ihm eigenen Schnodderschnauze, geprägt von einer aufreizend lässigen Artikulation, macht den deutlich jüngeren Damen schöne Augen (ohne auch nur einmal an seiner Anziehungskraft zu zweifeln), hält ihnen Ständchen, singt vor sich hin, verspottet seine hässliche Kollegin (DER DRAUFGÄNGER), verteilt Fausthiebe, ballert herum und ist ganz allgemein die Inkarnation maskulinen Selbstbewusstseins. Seine immense Präsenz ist nicht zu leugnen: Albers ist – vielleicht vergleichbar mit seinen US-amerikanischen Kollegen John Wayne und Humphrey Bogart – gewiss kein brillanter Schauspieler, aber er hat wie die Genannten das unvergleichliche Talent, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und in jeder Einstellung das Zentrum zu bilden. Es gibt diese Menschen, die wohl dazu geboren wurden, vor der Kamera zu agieren. Hans Albers ist ohne Zweifel einer von ihnen. Dabei ist diese Form der Selbstdarstellung für den heutigen Zuschauer nicht immer leicht zu ertragen: Gerade die amourösen Elemente beider Filme gleiten aufgrund Albers‘ onkelig-aggressiver Art häufig in den Bereich des Sleaze ab. Bei der Szene in DER GREIFER, in der er mit Dolly auf dem Rücksitz eines Taxis herumflirtet, kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass da der Schauspieler der Sängerin Avancen macht, statt seines Charakters. Und wie Albers da neben ihr im Sitz hängt, scheint es, als versuchte er verzweifelt, eine gewaltige Erektion zu verbergen, ohne dabei allzu uncool auszusehen. (Ich nehme außerdem an, dass er beide Filme nicht nüchtern absolviert hat.) In DER DRAUFGÄNGER, in der sein Interesse dem „gefallenen“ Mädchen Trude gilt kommt noch so ein unguter paternalistischer Aspekt hinzu, der feministisch oder auch nur emanzipatorisch eingestellten Menschen heute nicht mehr zu verkaufen ist. Hans Röders Zuneigung zu dem unglücklichen Mädel wird da fast als humanitärer Dienst dargestellt und die Möglichkeit, dass sie auch kein Interesse an ihm haben könnte, ist einfach gar nicht vorgesehen. Da sitzt er in einer Hafenkneipe neben ihr und singt zum Liedchen des Schifferklavierspielers „Kind, du brauchst nicht weinen/Du hast ja einen/Und das bin ich“. Wenn man von Hans Albers angesabbert wird, sind alle anderen Sorgen tatsächlich passé.

Das Phänomen Hans Albers ist nach diesen beiden Filmen für mich immer noch nicht wirklich zu begreifen, aber doch etwas transparenter geworden. Ein geborener Entertainer, ohne Zweifel, dazu sicherlich jemand, der die Möglichkeiten schauspielerischen Ausdrucks mit seiner Art, sich zu bewegen und zu arikulieren für nachfolgende Generationen erheblich erweitert hat. Der Grad seines Ruhms ist für den heutigen Zuschauer aber nicht mehr zu verstehen. Wenn man etwa liest, wie Atze Brauner diesen Mann in seiner Autobiografie vergöttert, sich gar zu der Aussage versteigt, Albers habe „nicht sterben dürfen“, ist das heute nicht mehr annähernd nachvollziehbar. Vielleicht macht das aber gerade den Reiz aus, sich auch heute noch mit Albers zu beschäftigen.