Die Texte, die ich zu ATOMIC BLONDE gelesen habe, versäumen allesamt nicht zu erwähnen, dass Regisseur David Leitch eine wichtige Rolle bei der Entstehung von JOHN WICK spielte (er fungierte als Produzent und uncredited director und brachte wahrscheinlich auch seine Erfahrung als Stuntman ein) und dass dieser Film aus derselben Kategorie stamme, die man vielleicht als „over-the-top cool & stylish comic book action“ bezeichnen könnte. Ich fand JOHN WICK ja auch ganz nett, aber ich wundere mich darüber, wie einhellig dieser noch nicht unbedingt als „Klassiker“ zu bezeichnende Actioner schon als Maßstab herangezogen wird. Es soll ja bereits vorher schon slicke Actionfilme gegeben haben. Aber vielleicht bin ich auch zu alt, um zu erkennen, wie wahnsinnig innovativ JOHN WICK war. Immerhin war er ziemlich erfolgreich, sodass wir derzeit bereits den dritten Teil bewundern können. Nun ja.
ATOMIC BLONDE basiert auf der Graphic Novel „The Coldest City“, spielt im Wendejahr 1989 in Berlin und bemüht einen visuellen Stil, den Menschen, die damals nicht dabei waren, als „Eighties-mäßig“ bezeichnen würden: Es gibt viele in Neon-Pink und -Blau getauchte Bilder, Charlize Therons Superspionin Lorraine Broughton trägt platinblonde Haare und ein „Boy London“-Shirt, die Credits werden in einer coolen Schrift im passenden Farbschema eingeblendet und Zwischentitel via Graffiti ins Bild gesprayt. Auf dem Soundtrack gibt es den Synth-Pop, den man am ehesten mit dieser Zeit assoziiert (A Flock of Seagulls, Depeche Mode, Til Tuesday und Siouxsie & The Banshees) sowie einige NDW-Hits, die wahrscheinlich zum Schauplatz Berlin ’89 passen und nichtdeutschen Zuschauern die nötige Dosis Deutschland verpassen sollen. Offenkundig ging es bei der Zusammenstellung des Soundtracks nicht darum, das Jahr 1989 klanglich authentisch wiederzugeben, sondern Songs auszuwählen, die zum Look des Filmes passen: Letztlich eine richtige Entscheidung, wie Outlaw Vern schon feststellte, da wir uns sonst mit Songs von Kaoma, David Hasselhoff und Milli Vanilli hätten herumplagen müssen. Eighties-Hardliner liegen natürlich nicht falsch, wenn sie sagen, dass 1989 sich komplett anders anfühlte, als dieser Film behauptet, aber dann ist ATOMIC BLONDE natürlich kein Period Piece, sondern ein Actionfilm, der stylish sein möchte. Und das gelingt ihm.
Weniger gut gelingt es ihm, eine Spionagestory zu erzählen, die die gängigen Charakteristika des Genres mit echtem Leben füllt, anstatt sie einfach nur als leere Zitate zu reproduzieren (es gibt einmal einen kurzen zeitgenössischen MTV-Clip, der sich mit der Frage auseinandersetzt, inwieweit Sampling Diebstahl sei). ATOMIC BLONDE bedient sich einer einfachen Rückblendenstruktur, der seine Story als Bericht der Heldin in einer Debriefing-Sitzung mit ihrem britischen Vorgesetzten Gray (Toby Jones) und dem CIA-Mann Kurzfeld (John Goodman) erzählt, und sich damit (erfolglos) an THE USUAL SUSPECTS orientiert. Broughton hat den Auftrag, eine ominöse Liste mit allen in Berlin tätigen Agenten zurückzugewinnen, die dem KGB in die Hände gefallen ist. Ihre Kontaktperson in Berlin ist der MI6-Agent David Percival (James McAvoy), der vielleicht auf eigene Rechnung handelt oder aber der Doppelagent Satchel ist, der sowohl hinter dem Raub der List als auch hinter der Ermordung des britischen Spions James Gascoigne (Sam Hargrave, seines Zeichens berühmter Stunt Coordinator u. a. in AVENGERS: ENDGAME und AVENGERS: INFINITY WAR) steckt, der nebenbei auch der Geliebte von Broughton war. In Berlin wird Broughton sofort von KGB-Leuten aufgegriffen und ihr Aufenthalt gerät zu einer wüsten Abfolge von mit allen Mitteln ausgetragenen Scharmützeln, lesbischen Love-ins mit der französischen Agentin Delphine (Sofia Boutella) und dem Katz-und-Maus-Spiel mit Percival, der mal Verbündeter, dann wieder Gegner ist. Das Prä-Wende-Berlin wird als Spielplatz der Geheimdienste gezeichnet, mehr aber noch als Ort, an dem sämtliche geltenden Regeln dieser Geheimdienste bereits außer Kraft gesetzt sind und jeder seine eigene Agenda verfolgt. Gleichzeitig macht er immer wieder klar, dass dieses Spielchen ultimativ sinnlos ist, weil sich der vermeintliche Partner am Ende doch als Verräter entpuppt, der einem eine Kugel in den Kopf jagt. Wie die ernstzunehmenderen Vertreter des Agentenfilms aus den Siebzigerjahren oder auch ihre postmoderne Variation der MISSION: IMPOSSIBLE-Reihe spielt der Film mit der Idee, dass das Metier des Geheimdienstes zwar unter strengem staatlichen Reglement steht, letztlich aber pures Chaos ist, bei dem keiner mehr weiß, wer zu welcher Seite gehört und jeder Triumph lediglich ein kleiner Etappensieg ist. Was einst eine niederschmetternde Erkenntnis war, ist heute, in Zeiten, in denen die „Ordnung“ der sich gegenüberstehenden Blöcke von Ost und West bereits seit 30 Jahren zerschlagen ist, zum resigniert hingenommenen Status quo avanciert und ATOMIC BLONDE hat damit das Problem, ein Story zu erzählen, die im Grunde genommen selbst nur noch ästhetisches Mittel ist. Worin der große Twist am Ende liegt, habe ich nur so halb verstanden, aber eigentlich ist das auch egal. Es reicht, wenn man bemerkt, dass es einen Twist gibt.
Was aber nicht bedeutet, dass ATOMIC BLONDE nicht sehenswert wäre: Ich kenne die zugrundeliegende Comic-Vorlage nicht, aber der Look des Films ist perfekt. Nahezu jedes Bild möchte man sich an die Wand hängen und versuchte man, eine Screenshot-Sammlung zusammenzustellen, müsste man den Auslöser im Sekundentakt drücken. Es gibt schöne Ideen wie jene, einen Fight vor einer Kinoleinwand stattfinden zu lassen, auf der Tarkowskijs STALKER läuft, die die Liste der Zitatenquelle um einen etwas exotischeren Beitrag bereichern, und Charlize Theron ist einfach großartig. Die Wandlung von der Diva, die in mäßig interessanten Filmen gut aussah, über die furchtlose Darstellerin in Filmen wie MONSTER hin zur Actionheldin in MAD MAX: FURY ROAD und eben ATOMIC BLONDE ist beeindruckend. Die langen Takes, in denen die großartig choreografierten Kämpfe inszeniert sind, erlauben keine Trickserei und doch ist sie absolut überzeugend, wenn sie sich da mit gedungen Meuchelmördern in halsbrecherischen Keilereien misst. Höhepunkt ist ein mehrminütiger, ohne Schnitt gedrehter Kampf in einem Wohnhaus, der sich vom Treppenhaus bis in diverse Appartements erstreckt und in dem unter Einsatz aller greifbaren Mittel gefightet wird, bis sich am Ende zwei blutende, keuchende Profis gegenüberstehen, die sich kaum noch auf den Beinen halten können. Anders als der genannte JOHN WICK gibt es hier keine überstilisierten Ballette zu bestaunen, sondern brutale brawls, in denen es nicht um Eleganz geht, sondern nur darum, dem anderen möglichst großen Schaden zuzufügen und möglichst lange auszuhalten. Man ist geneigt, anzunehmen, dass zumindest einige der nur unzureichend überschminkten blauen Flecken und Schrammen, die Theron zeigt, echt sind. (Kleiner Bonus: Einer der Gegner von Theron ist Daniel Bernhardt, Star der BLOODSPORT-Sequels und damit ein echter Actiongülle-Veteran.) Wenn ATOMIC BLONDE auch kein Film für die Ewigkeit ist, diese eine Sequenz ist Stoff für die Actionfilm-Geschichtsbücher. Es hätte gern mehr davon sein dürfen, denn hier zeigt der Film eine Meisterschaft, die er auf inhaltlicher Ebene vermissen lässt. Leitchs Film macht Spaß, aber er nimmt sich leider eine ganze Nummer zu Ernst für das, was er tatsächlich zu sagen hat.
Gefällt mir:
Gefällt mir Wird geladen …