nebelmörder (eugen york, deutschland 1964)

Veröffentlicht: Januar 22, 2014 in Film
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Das verschlafene hessische Örtchen Hainburg wird von einer Mordserie erschüttert. Schon zwei Frauen sind dem von der Öffentlichkeit „Nebelmörder“ getauften Verbrecher zum Opfer gefallen. Kommissar Hauser (Hansjörg Felmy) bezieht mit seinen Kollegen den örtlichen Gasthof, um von dort aus die Ermittlungen zu führen. Wenig später ist das dritte Opfer zu beklagen. Der Verdacht konzentriert sich bald auf den Schüler Heinz Auer (Ralph Persson): Der geriert sich als Leader seiner Peer Group nicht nur als Westentaschen-Napoleon, er war zur Tatzeit auch ganz in der Nähe des Tatorts. Auch der Gewalt ist er nicht abhold: Als es innerhalb der Clique zu Eifersüchteleien zwischen ihm und dem schüchternen Erwin (Lutz Hochstraate) kommt, bei denen die schöne Franziska (Elke Arendt) im Mittelpunkt steht, setzt er dem Konkurrenten mit seinen Freunden so hart zu, dass der erst im Krankenhaus  landet und schließlich verstirbt. Oder ist der Mörder vielleicht doch der einfältige Franz Ritzel (Jürgen Janza), der eine Vorliebe für Schundromane hat und mit der Tatwaffe – einem Gärtnermesser – von Berufs wegen vertraut ist?

Die Einleitung für meinen Text hatte ich im Kopf schon verfasst, bevor ich NEBELMÖRDER überhaupt gesehen hatte: Alles – DVD-Cover, Titel, Entstehungsjahr, Besetzung, Thema – deutete auf eines der zahlreichen Wallace-Ripoffs hin, die in den Sechzigerjahren, vom Erfolg der Rialto-Reihe inspiriert, nur so aus dem Boden schossen. Doch weit gefehlt: Schon der kurze, von einem Voice-over-Kommentator begleitete Prolog, der die bisherige Fallgeschichte mit dem nüchtern-ernsten Duktus eines Polizeireporters im Stile von Jürgen Rolands  STAHLNETZ vorträgt, lässt erahnen, dass es hier im Folgenden nicht um die gruselige Aufbereitung der Taten des Mörders, nicht um wohligen Schauer und makabre Scherze gehen wird. Wenn man dann noch erfährt, dass der Schauplatz des Films im beschaulichen Odenwald liegt, die Protagonisten keine Sirs und Ladys, sondern nur Herren und Frauen sind, und man statt mit Archibald und John Bekanntschaft mit Hans und Erwin macht, ist alles klar: Eugen York geht es um die realistische Aufbereitung eines fiktiven Mordfalls, um den Blick auf die bundesrepublikanische Gegenwart des Jahres 1964, ihr soziales Klima, die psychologische Disposition seiner Bürger und um das, was man früher so schön mit dem Begriff „Sittlichkeit“ umriss. Für den heutigen Betrachter erlegt der Film so zwei Fliegen auf einen Streich: Einerseits bietet er handwerklich sauber gefertigte, seriöse, quasi-anspruchsvolle Unterhaltung, die gut dazu geeignet ist, eventuell bestehende Vorurteile gegen den deutschen populären Film jener Zeit abzubauen; andererseits sind seine ernsten Vorstöße in Richtung Moral und Gesellschaftskritik heute fast zwangsläufig ein Quell der (Schaden-)Freude.  

Die skandalösen Scheunenpartys, die Hans und seine Freunde organisieren und dabei amerikanischer Musik, Cognac, Zigaretten und natürlich in die neuste Mode gehüllter Mädchen frönen, sind ultimativ harmlos und werden stets zuverlässig um Punkt 23 Uhr beendet, damit die Eltern auch ja nichts merken. Wer Alkohol getrunken hat, putzt sich artig die Zähne, auf dass kein Restgeruch im Mundraum verbleibe. Der harmlose Streich Erwins – er versteckt das Kleid der schönen Franziska (die Mädels ziehen sich vor Ort extra um für das große Event) – ist ein ehrenrühriger Affront, dessen bloße Erwähnung vor der Polizei den Vater der Holden vor Scham und Entrüstung fast aus dem Bürostuhl rutschen lässt. Jaja, die Zeiten haben sich geändert: Im Elektroladen (!) lauschen die Kids von einst den neuesten Platten (!!) und loben die schwofigen Trompetenklänge (!!!) als „Engelsstimme“ (!!!!), adressieren Ihresgleichen immer wieder mit dem unangenehm altklugen Ausdruck „Kinder“. In der Schule wird noch fleißig Latein gepaukt und wer den mittlerweile bestenfalls noch zur Lebensweisheit in Frauenzeitschriften taugenden Spruch „Carpe diem!“ nur aus DEAD POET’S SOCIETY kennt, der erfährt hier auch endlich, dass er von Horaz stammt und tatsächlich noch eine zweite Zeile hat. Vor allem der pomadige Hans benutzt ihn immer wieder gern und verrät so den intellektuellen – und damit natürlich verdächtigen! – Herrenmenschen mit dem Engelsgesicht, der auch dreivierfünf Jahrzehnte später noch zum unverzichtbaren Inventar des Serienmörderfilms gehört. Selbes gilt für den tumben Franz, einen armen Tropf, der keine Vorstellung davon hat, was gerade so angesagt ist, aber sich danach sehnt, in den erlesenen Zirkel eingeführt zu werden. Er baut dabei ganz auf die Hilfe seines Freundes Erwin, doch der schämt sich natürlich für den peinlichen Freund, verfügt ja zudem selbst über keinerlei Standing, dass es ihm erlaubte, einen Außenseiter in die erlauchte Gesellschaft einzuführen, und ahnt wohl auch, dass es gesellschaftlichem Selbstmord gleichkäme, für den Sonderling zu bürgen. Als Ausgleich bringt er ihm dafür immer die neuesten Schundromane mit, vorsorglich eingeschlagen in Zeitungspapier, damit auch niemand etwas mitbekommt. Franz versteckt den Lesestoff sogleich in einem Geheimfach im Bauernschrank und wer sich über so viel Geheimniskrämerei angesichts der harmlosen Heftchen wundert, der wird schnell eines Besseren belehrt: Hausers Kollege hat offensichtlich den gleichen Schrank zu Hause, denn er findet das Geheimfach bei der Befragung von Franz sofort und feiert den Fund der anrüchigen Romane  – darunter ein besonders verdächtiger namens „Das Phantom im Nebel“ -, als sei ihm ein unterzeichnetes Geständnis in die Hände gefallen. Man wundert sich fast ein bisschen, dass Franz angesichts solch erdrückender Beweislast nicht sofort verhaftet wird.

Wenn ich das alles hier etwas ins Lächerliche ziehe, so soll das nicht darüber hinwegtäuschen, dass NEBELMÖRDER keinesfalls geeigneter Stoff für die So-bad-it’s-good-Fraktion ist. Yorks Krimi ist durchweg ernst, spiegelt aber eben den Geist seiner Entstehungszeit wider. Wenn man die Variablen austauscht – Komasaufen statt Scheunenparty, Hip-Hop statt Trompetenmusik, Snuff statt Groschenheftchen – hat man nicht weniger als den nächsten Kandidaten für den TATORT vor sich. Mit der Ausnahme, dass NEBELMÖRDER über ein visuelles Konzept und eine bedrückend ausweglose Stimmung verfügt, seinen kleinen Handlungsort in Wald und Nebel und die Jugendlichen in einem Klima niederdrückender Biederkeit einschließt. Frappierend fällt hier immer wieder die Kluft zwischen der Elterngeneration und ihren Kindern auf, die kaum überwindbar scheint und den wahrscheinlich größten Konfliktherd darstellt. Das reflektiert York (Jahrgang 1912) nicht, fällt vielmehr den gleichen voreiligen Schlüssen anheim wie sein Protagonist Hauser. Aber das ist ja gerade das Spannende an diesem Film: Dass er so unreflektiert und aus dem Bauch heraus ist, ohne dabei gleich in wüste Polemik und Stammtischparolen zu verfallen. Ihn zeichnet ein schmerzendes Unverständnis aus, man spürt förmlich, wie er sich verrenkt, um diesen Jugendlichen hinter die Stirn blicken zu können, aber immer wieder abprallt, obwohl die Antwort doch greifbar nah ist. Der Film selbst ist Symptom der Krankheit, die er zum Thema hat.

NEBELMÖRDER war – wenn man dem DVD-Booklet Glauben schenken darf – seinerzeit ein veritabler Kinoerfolg, der die Menschen im heißen Sommer ’64 scharenweise ins Kino lockte. Es ist dem Unwissen des fachfremden Produzenten Waldemar Schweitzer, einem Journalist und Verleger, zu verdanken, dass der Film heute trotzdem nahezu vergessen ist. Nicht wissend, was er mit dem Film nach seiner Kinoauswertung noch anfangen sollte, ließ er sämtliche existierenden Kopien bis auf eine vernichten. Glücklicherweise gelangte diese eine verbliebene Kopie in die Hände von Pidax, die sich um ihre digitale Bewahrung verdient machten. Ich lege meinen Lesern hiermit nahe, so viel (film)historisches Bewusstsein zu belohnen und die DVD der eigenen Sammlung zuzufügen. Es würde mich doch wundern, wenn NEBELMÖRDER nicht auch anderen Menschen so gut gefiele wie mir.

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