la campana del infierno (claudio guerin hill, spanien/frankreich 1973)

Veröffentlicht: Mai 23, 2011 in Film
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John (Renaud Verley), ein junger Mann, wird aus der psychiatrischen Anstalt entlassen, in die er von seiner Tante Marta (Viveca Lindfors) nach dem Selbstmord seiner freigeistigen Mutter eingewiesen worden war. Rachepläne treiben ihn in seine Heimat zurück …

Es gibt Filme, die von einem Mysterium umgeben sind, von einem biografischen oder technischen Detail geprägt, das sie vielleicht nicht unbedingt zu etwas Besserem macht – weil sie schon für sich genommen so gut sind oder aber trotzdem ganz unrettbarer Käse -, das aber auf den Film rückwirkt und ihn umformt zu etwas, was man nicht mehr so einfach einordnen kann, was den Rahmen dessen, was Film ist – die Übersetzung und Ästhetisierung von Bedeutung und Emotion in bewegte Bilder vielleicht -, erweitert. LA CAMPANA DEL INFIERNO ist so ein Film. Eine wunderbar rätelhafte Randerscheinung des europäischen Genrekinos der Siebzigerjahre, eine  eigenständige Mischung aus Horrorfilm, Psycho- und Rachethriller, Coming-of-Age-Drama, Schwarzer Komödie und Sozialsatire, eingefangen in ausdrucksstarken und atmosphärischen Bildern, die nur schwer in eine Erzähltradition eingegliedert werden kann, seine unterschiedlichen Einflüsse vielmehr zu etwas vollkommen Originärem zusammenfügt, das seine Wirkung noch potenziert, weil es dem Zuschauer abverlangt, ihm auf unerkundete Pfade zu folgen. Und dann kommt da noch dieses Trivia-Nugget hinzu: Am letzten Drehtag bestieg Regisseur Claudio Guerin Hill den im Film in bedeutender Funktion vorkommenden Glockenturm und stürzte sich aus freien Stücken in den Tod mit 33 Jahren. So wenig mich eine biografistisch-positivistische Lesart von Kunst im Allgemeinen auch interessiert, so sehr verstärkt das Wissen um diesen in zumindest enger Beziehung zum Film stehenden Freitod dessen Wirkung.

LA CAMPANA DEL INFIERNO erzählt vom Konflikt zwischen den Erwachsenen – die in erster Linie an ihrem eigenen Wohlstand und dann noch daran interessiert sind, in ihrem eigenen Dasein möglichst wenig als unliebsam empfundenen äußeren Einflüssen ausgesetzt zu sein – und der Jugend, der in dieser Welt dann nur noch die wenig attraktive Aufgabe zukommt, sich in das ihnen von den Erwachsenen zugewiesene Schicksal zu fügen. Nach dem Tod der nonkonformistischen und deshalb von der Gesellschaft ungeliebten Mutter wagte es John, die Welt und sich selbst zu erkunden, gesellschaftliche Konventionen auf ihre Widerstandsfähigkeit zu prüfen und sie genussvoll zu brechen: Grund genug für seine materialistische Tante, ihn für verrückt zu erklären und in eine Anstalt zu verfrachten, auf dass er kein Schindluder mit dem Vermögen der Mutter anrichten könne. Die Inhaftierung in dieser Anstalt hat John jedoch gebrochen und genau jene psychische Störung erst hervorgerufen, die seine Tante ihm unterstellte. Im Unklaren darüber, wer er eigentlich ist, weiß er nur, dass er die Verantwortlichen für jenen Zustand zur Rechenschaft ziehen will. John ist nicht nur für sich selbst, sondern auch für den Zuschauer ein verschlossenes Buch. Weil sich seine Geschichte erst nach und nach entfaltet, ist man ihm auch als Zuschauer gnadenlos ausgeliefert. Die Zeichen, dass mit ihm etwas nicht stimmt, sind offensichtlich, dennoch sympathisiert man mit ihm, weil die Gesellschaft, in der er sich bewegt, so bigott ist und seine geschmacklosen Streiche der einzige Ausdruck von Individualismus und Persönlichkeit im ganzen Film. Aber man fühlt sich immer etwas unwohl, wenn man ihm auf Schritt und Tritt folgt.

LA CAMPANA DEL INFIERNO ist sehr bildgewaltig und poetisch und seine Anflüge von Surrealismus führen bezüglich des sozialkritischen Kerns des Films immer wieder in die Irre. Ein waldschratiger Mann fungiert für John als eine Art Orakel, die Wände seines Zimmers sind über und über mit Akt- und Detailfotografien behängt, bei einem Abendessen mit der Tante und seinen drei hübschen Cousinen flattern Vögel durchs Esszimmer und als John sich daran begibt, seine Cousinen umzubringen, wird dies mit Szenen aus einem Schlachthaus parallel montiert, wo John sich das nötige Fachwissen geholt hat. In einer gruseligen Szene scheinen sich drei singende Geister aus dem Nebel zu nähern, entpuppen sich dann aber doch als Menschen aus Fleisch und Blut, und zwei von Johns bizarreren Späßen sind die ihr vorgetäuschte Vergewaltigung einer Bewusstlosen und die Manipulation eines Mannes auf der Herrentoilette, der von John mit einem Trick dazu gebracht wird, ihm beim Pinkeln zu helfen. Die titelgebende Glocke ist eines der offensichtlicheren Symbole des Films, das John jedoch trotzdem nicht erkennt: Frei nach dem ebenfalls immer wiederkehrenden Lied „Bruder Jakob“ sieht er die Gefahr nicht, in die er sich begibt, weil er noch „schläft“. Doch auch dieses zunächst etwas platt erscheinende Symbol wird im Finale noch einmal überraschend konkretisiert und mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen. Wenn man das Schicksal des Regisseurs kennt, befällt einen sowieso ein Frösteln, sobald eine Glocke ins Bild gerückt wird und man fragt sich, wer hier eigentlich was nicht erkannt hat: der Regisseur, der nicht wusste, dass er seine eigene Geschichte erzählt, oder der Zuschauer, der ohne es zu wissen einen Abschiedsbrief gelesen hat.

Kommentare
  1. Palmer sagt:

    So trifft posthum ein Meister den Anderen:)

  2. JasonCane sagt:

    Sehr gutes Review zu einem absolut genialen Film. Habe den Streifen schon etwa 10 mal gesehen und bin immer wieder von der einzigartigen Atmosphäre begeistert die er ausstrahlt. Einer meiner Lieblingsfilme. Hoffentlich gibt es eines Tages eine (ungeschnittene) deutsche Veröffentlichung auf DVD!

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