les lèvres rouges (harry kümel, belgien/frankreich/deutschland 1971)

Veröffentlicht: Mai 1, 2012 in Film
Schlagwörter:, , , , ,

Stefan (John Karlen) und Valerie (Danielle Ouimet), beide frisch verheiratet, verpassen die Fähre nach England, wo er sie seiner strengen Frau Mama vorstellen will, und beschließen, die Nacht in Ostende zu verbringen. In dem menschenleeren Hotel wohnen außer ihnen nur noch die enigmatische Gräfin Elisabeth Bathory (Delphine Seyrig) und ihre junge Begleitung Ilona (Andrea Rau) und erstere entwickelt ein großes Interesse für das Ehepaar. Doch hinter dieser Zuneigung verbirgt sich nicht bloß menschliche Nächstenliebe: Die Bathory ist eine Vampirin und hat es auf das Blut Valeries abgesehen …

LES LÈVRES ROUGES ist ein Klassiker des modernen Horrorfilms, war zudem ein maßgeblicher Einfluss für die Erotisierung des Vampirfilms, wie sie sich in den Siebzigerjahren vollzog und dürfte bis heute eine der erfolgreichsten belgischen Filme aller Zeiten sein – vor allem in den USA war er unter dem Titel DAUGHTERS OF DARKNESS ein Riesenhit. So erfolgreich, dass er etliche Nachzieher inspirierte: Der hier kürzlich besprochene THE VELVET VAMPIRE aus dem Hause Corman ist nur ein Beispiel, dafür aber ein besonders eklatantes, kopiert er das Vorbild doch in weiten Zügen originalgetreu. Der Erfolg von Kümels Film ist dabei einer der seltenen Glücksfälle, in denen sich Originlaität und Eigenständigkeit für den Schöpfer auszeichneten: Auch wenn Kümel und seine Geldgeber einen pulpigen Exploitationfilm machen wollten, so unterschiedet sich das Ergebnis doch von den meisten Filmen, die dieses Etikett tragen. LES LÈVRES ROUGES ist sehr ruhig und langsam erzählt, lebt vor allem von seiner morbid-sinnlich-dekadenten Atmosphäre, für die zu gleichen Teilen die Kulisse des winterlich-ausgestorbenen Ostende, die großartig aufspielende Delphine Seyrig und der markante Score von Francois De Roubaix verantwortlich zu machen sind.

Da Kümel die Klischees des Vampirfilms weitestgehend meidet, treten die Beziehungen der Protagonisten zueinander in den Vordergrund: Vampirismus ist in LES LÈVRES ROUGES nur noch der extremste bildliche Ausdruck eines sexuellen und emotionalen Abhängigkeitsverhältnisses, das auch die junge Ehe von Stefan und Valerie bestimmt. Die beiden haben sich spontan und unreflektiert das Ja-Wort gegeben, ohne sich wirklich zu kennen, und vor allem Stefan offenbart im Laufe des Films das ein oder andere dunkle Geheimnis. Tatsächlich stellt die erste Szene des Films die Weichen für dessen weiteren stimmungsmäßigen Verlauf: Nachdem die beiden in ihrem Zugabteil miteinander geschlafen haben, fragt sie ihn, ob er sie liebe. Er antwortet sachlich-kühl mit „Nein“, worauf der die Frage an sie weitergibt. Auch sie bestätigt: „Natürlich nicht.“ „Gut“, kommentiert Stefan. „Ich wusste doch, das wir füreinander gemacht sind.“ Er entpuppt sich nach dem Zusammentreffen mit der enigmatischen Gräfin als Sadomasochist mit ausgeprägter Todessehnsucht und Blutlust: der perfekte Partner für die Vampirin. Valerie wiederum muss mitansehen, wie ihr Bräutigam nicht nur von ihr wegdriftet, sondern auch äußerst unangenehme, um nicht zu sagen beängstigende Eigenschaften an den Tag legt. Die Szene, in der eine Erzählung über die Taten der historischen Gräfin Bathory in eine ekstatisch-orgasmische Auflistung ihrer Gräueltaten mündet, sich Stefan und Elisabeth immer weiter hochschaukeln in ihrer Blutlust, bis sie die Anwesenheit Valeries ganz vergessen haben, ist einer der Momente in Kümels Film, in dem Lust und Tod eng beieinanderliegen. Es ist diese besondere Verknüpfung, das Verwischen der Grenze zwischen den beiden sich eigentlich diametral gegenüberstehenden Begriffen, die plötzlich ineinander aufgehen und nicht mehr voneinander zu unterschieden sind, das LES LÈVRES ROUGE prägt und auszeichnet. Und natürlich Delphine Seyrig, die ihre Rolle in einer beinahe tänzerischen Interpretation als Wiedergeburt Marlene Dietrichs anlegt, weibliche Einfühlsamkeit und Verführung und männliches Dominanz- und Machtstreben zusammenführt.

LES LÈVRES ROUGE ist mit seinen traumhaft komponierten Bildern und seinem fast musikalischen Rhythmus vor allem ein sinnliches Erlebnis, das sich – aller psycholgische Deutbarkeit zum Trotz – fast intuitiv erschließt. Ein Märchenfilm im besten Sinne des Wortes und zu Recht ein Klassiker des Genrefilms.

Nächste Station der Weltreise: Großbritannien.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..