the children’s hour (william wyler, usa 1961)

Veröffentlicht: Januar 5, 2013 in Film
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Was Wylers Film von ähnlich gelagerten abhebt, ist die Verschränkung von Sozialkritik und psycholgisch sehr genauen Charakterisierungen – neben seiner ungemein pointierten Inszenierung und einer unnachahmlichen Schauspielerführung: Eigentlich liefern alle Darsteller oscarreife Leistungen ab, man muss dazu gar nicht bei den beiden Hauptdarstellerinnen halt machen. Das hieße nämlich zu verkennen, was etwa James Garner und Miriam Hopkins leisten, aber auch und vor allem Fay Bainter in der Rolle der Dame, die das rufmordende Gerücht ihrer Enkelin verbreitet. Wobei wir bei der damals 12-jährigen Karen Balkin wären: Man ist geneigt das Kind in die Ahnengalerie von Filmschurken einzureihen, die man liebt zu hassen. Ich habe nach der Filmsichtung das Kapitel zu William Wyler von Norbert Grob im Reclam-Band „Filmregisseure“ nachgelesen, weil der mir bislang und unverzeihlicherweise nur namentlich (und als Regisseur von BEN-HUR natürlich) ein Begriff war. Wyler hält bis heute einen Rekord: Er ist der Regisseur, der den meisten Mitarbeitern zu Oscarnominierungen und Oscars verhalf. Seine Filme brachten insgesamt 38 der begehrten Auszeichnungen bei 127 Nominierungen, 13-mal ging die Trophäe an seine Schauspieler. Man kann das m. E. kaum überbewerten, zumal es so gut zu dem Eindruck passt, den ich durch THE CHILDREN’S HOUR gewonnen habe. Wylers Regie steht ganz im Dienste der Sache, ohne dabei jedoch gänzlich „unsichtbar“ zu sein. Wenn er es für nötig hält – und er beweist ein sehr sicheres Gespür – setzt er inszenatorische Akzente, die die Wirkung des Stoffes und des Spiels seiner Akteure noch verstärken.

Die Mädchenschule von Karen Wright (Audrey Hepburn) und Martha Dobie (Shirley MacLaine) beginnt nach jahrekanger harter Arbeit endlich Gewinn abzuwerfen. Dem beruflichen Glück soll sich auch das private hinzugesellen: Karen willigt ein, ihren langjährigen Geliebten, den Arzt Joe Cardin (James Garner) zu heiraten und mit ihm ein Kind zu bekommen. Was Martha wiederum nicht so gut gefällt, wie sie bemüht ist, zu behaupten. Es ist eine unbedachte Äußerung von Marthas Tante Lily Mortar (Miriam Hopkins), selbst Lehrerin an der Schule, die eine Schülerin mithört und die im Folgenden einschlägt wie das Mörsergeschütz, das sich in Lilys Nachnamen verbirgt. Ihre Nichte sei von Karen besessen, hege eine Leidenschaft für diese, die „nicht natürlich“ sei, habe sich nie für Männer interessiert. Das Gerücht verbreitet sich weitergetragen von der intriganten kleinen Mary Tilford (Karen Balkin) und in der Folge von ihrer Großmutter Amelia wie ein Lauffeuer: Eltern holen scharenweise ihre Töchter aus der Schule, nur mit Mühe gelingt es Karen, überhaupt den Grund dafür in Erfahrung zu bringen. Zur Rede gestellt, beharrt Mary auf den Lügen, sie habe Karen und Martha beim Liebesspiel beobachtet. Eine Verleumdungsklage scheitert, weil Lily als wichtigste Zeugin der Verteidigung der Gerichtsverhandlung fernbleibt. Karen und Martha stehen als homosexuelles Liebespaar denunziert vor den Trümmern ihrer Existenz. Doch zu dem wirtschaftlichen Schaden gesellen sich vor allem psychische Verwirrungen, die alles noch schlimmer machen …

Wyler zeigt eindrucksvoll, wie das verheerende Klima der Intoleranz durch zahlreiche äußere Faktoren noch katastrophal verstärkt wird. Mit dem Öffentlichwerden des Gerüchts wird eine Lawine losgetreten, die nicht mehr aufzuhalten ist. Die Geschichte der öffentlichen Zerstörung zweier Existenzen findet besonderen emotionalen Nachhall in ihrem psychologischen Nachspiel. Es wird klar, was es bedeutet, in einer Zeit „anders“ gewesen zu sein, in der dieses Anderssein so verpönt war, dass es in der Wahrnehmung gar nicht existierte, jeder Diskurs darüber unterbunden wurde. Nie wird explizit ausgesprochen, was Karen und Martha getrieben haben sollen – nur einmal ist davon die Rede, sie hätten sich geküsst, sonst geht es nie über die Andeutung von „funny noises“ hinaus. Die alte Mrs. Tilford möchte mit der ganzen Materie gar nichts zu tun haben, die bloße Anwesenheit der beiden möglicherweise homosexuellen Damen versetzt sie in sichtbares körperliches Unbehagen. Sie will die beiden so schnell wie möglich aus ihrem Haus haben, so als habe sie Angst, sich bei ihnen anstecken zu können. Homosexualität ist so wenig Thema in dieser Welt und dieser Zeit, dass noch nicht einmal Martha in der Lage ist, ihre eigenen Neigungen richtig zu erkennen und zu benennen. Die Konfrontation mit den Gerüchten lässt sie überhaupt erst verstehen, dass mit ihr etwas „falsch“ ist – und das ist es, woran sie zerbricht. Hier zeigt sich der Humanismus Wylers: Dass er nicht dabei halt macht, Intoleranz wegen ihrer offensichtlichsten Folgen zu verdammen, sondern auch die seelischen Verwüstungen, die sie anrichtet, zu durchleuchten. Dass sie Menschen dazu zwingt, sich selbst fremd zu bleiben, anstatt ihr Glück zu verwiklichen.

THE CHILDREN’S HOUR lässt sich in zwei Hälften teilen, die diese beiden – soziale und psychologische – Aspekte nacheinander behandeln. Die erste beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Folgen der Verleumdung. Sie ist die lebendigere, geprägt von Bewegung, Trubel, verzweifelten Diskussionen und Streitgesprächen, dem Bemühen, zu begreifen, was eigentlich vorgefallen ist. Die zweite zeigt die beiden zerstörten Frauen allein in den Räumlichkeiten des nun leeren Schulgebäudes. Sie ist dunkler, intimer, ruhiger, introspektiv. Beide Frauen müssen nun nach innen hören, erkennen, was in ihnen passiert ist. Karens Beziehung zu Joe zerbricht an einem irreparablen beiderseitigen Vertrauensverlust: Tief in seinem Inneren befürchtet er, an den Gerüchten könne doch etwas dran sein. Sie weiß, dass dieser Funken des Verdachts nie ganz erlöschen wird. Martha muss das Wesen ihrer unerklärlichen Neigungen erkennen – und akzeptieren, dass ihre große Liebe unerreichbar für sie ist. Die finale Überspitzung verortet den Film deutlich in seiner Zeit. Sie ist folgerichtig und glaubwürdig, aber sie bringt den Film auf eine Art und Weise zum Ende, der es nicht bedurft hätte. Vielleicht ist auch dieses Ende nur der Liebe Wylers geschuldet: So hat wenigstens Karen die Chance, ein neues Leben zu beginnen. Es gibt drei Momente, die sich sofort einbrennen: Die Szene, in der er Karen gelingt, dem Vater einer Schülerin den Grund für die Massenflucht abzuringen. Sie stellt den unangenehm berührten Mann in der Ausfahrt der Schule, zwingt ihn zu einem Gespräch, das wir nicht hören, sondern gemeinsam mit Martha aus dem Inneren des Hauses durch die gläserne Eingangstür verfolgen. Wir sehen nur die beiden Redenden und wissen instinktiv, was sie sagen: Karen, die mit Händen und Füßen um eine Erklärung fleht, den Mann, der versucht sich abzuwenden, sich förmlich windet bevor er nachgibt und ihr mit einem Blick Richtung Martha schildert, was los ist. Schließlich Karens Reaktion, die sich nur als Versteinern beschreiben lässt. Dann ist da die Inszenierung des eigentlichen Höhepunkts des Films, der Lauf Karens auf das Haus zu, in dem sich, wie sie richtig befürchtet, etwas Schlimmes zugetragen hat: Wyler schneidet mehrfach zwischen verschiedenen halbnahen Ansichten von Karen hin und her, macht ihre Angst dadurch unmittelbar greifbar. Dann die Schussbilder, die die erstarkt aus dem Geschehen hervorgegangene Karen zeigen, wie sie zuversichtlich in eine neue ungewisse Zukunft geht. Wyler kommt ihr mit der Kamera so nah, dass ihr Gesicht ganz grobkörnig und unscharf wird: Karen ist ein Mysterium, aber auch eine Person, die unserer Bewunderung sicher sein darf. Sie wird an dieser Gesellschaft nie mehr so ganz teilhaben.

Ich muss unbedingt mehr von Wyler sehen.

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