the wire – season 3 (usa 2004)

Veröffentlicht: Juni 26, 2014 in Film
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the_wire_season_3Wenn THE WIRE – SEASON 2 eine Art Aufsplittung und Dopplung bedeutete  – gewissermaßen vorsichtig begann, das breit aufgefächerte System zu erkunden, auf dessen Basis sich der in SEASON 1 noch sehr klassisch-fokussiert heruntererzählte Kriminalfall zwar entfaltete, dort aber doch nur angedeutet worden war –, so markiert SEASON 3 die endgültige und überaus konsequente Dezentralisierung von Handlung und Plot.

Wenn man noch von einzelnen Handlungssträngen sprechen mag, so bekommt man spätestens dann große Probleme, wenn man sie voneinander isolieren möchte. Gleiches gilt für das Inventar der handelnden Personen: Spielte Dominic Wests Jimmy McNulty zuvor keineswegs die alleinige zentrale Rolle, so kam er dem Konzept des Protagonisten doch am nächsten, war er es, der dem Zuschauer am ehesten als Identifikationsfigur und Orientierungspunkt angeboten wurde. Und um ihn herum gruppierten sich dann alle weiteren Figuren, wurden im weitesten Sinne als seine Partner oder Gegner markiert. SEASON 2 kreist nicht mehr um einen Kriminalfall, auch nicht um einzelne Personen, stattdessen steht nun ein Ort im Mittelpunkt des Interesses, der zum einen die lokal fassbare Konkretion der sozialpolitischen Umwälzungen bildet, von denen die 12 Folgen erzählen, zum anderen das große Ganze im Kleinen, gewissermaßen in der Nusschale, spiegelt. „Hamsterdam“, die von einem Polizeibeamten auf eigene Faust installierte „Free Zone“, in der Drogendealer und -süchtige ihrem Geschäft nachgehen dürfen, ohne Strafe fürchten zu müssen, wenn sie sich dafür aus den stärker bevölkerten Wohngebieten zurückziehen, steht paradigmatisch für das, was David Simon, kreativer Kopf hinter der Serie, in der dritten Staffel par excellence zelebriert. Er legt gewissermaßen die verschiedenen „Karten“ seines Schauplatzes Baltimore – die geografische, politische, soziale – übereinander, zeichnet so nicht nur ein lebendiges, glaubwürdiges Bild einer Stadt, sondern eines Systems, dessen Gesamtheit in jeder seiner einzelnen Zellen repräsentiert wird.

Ein kurzer Überblick über die ineinander verzahnten Handlungsstränge: Die „Major Crimes“-Spezialeinheit heftet sich weiterhin an die Fersen des Drogenimperiums des inhaftierten Avon Barksdale (Wood Harris) und seines Geschäftspartner Stringer Bell (Idris Elba). Letzterer ist bemüht, das erwirtschaftete Vermögen reinzuwaschen und ein legales Geschäft aufzubauen. Das macht es den Ermittlern immer schwerer, ihn überhaupt noch mit seinem Kerngeschäft in Verbindung zu bringen, sorgt aber auch für Spannungen zwischen ihm und seinem Partner, der als „Original Gangster“ nicht von seiner Straßenmentalität loskommt und Stringers Bemühungen zunehmend gefährdet. Der Abriss eines Ghetto-Wohnblocks, der das Zentrum von Barksdales Imperium bildete, sorgt zudem für territoriale Verschiebungen, die durch das Auftauchen eines neuen Players, des jungen, kaltblütigen Marlo Stanfield (Jamie Hector), noch verschärft werden. All diese Vorgänge koinzidieren mit politischen Machtkämpfen: Im Jahr vor der Bürgermeisterwahl gerät die eskalierende Mordstatistik und Drogenkriminalität immer mehr in den Fokus. Bürgermeister Royce (Glynn Turman) sieht sich durch den ehrgeizigen, machthungrigen Herausforderer Tommy Carcetti (Aidan Gillen), der für ein sicheres, sauberes Baltimore wirbt, unter Druck gesetzt. Und diesen Druck reicht er über den Polizeipräsideten Burrell (Frankie Faison) nach unten weiter. Die Polizisten sind zu zählbaren Ermittlungserfolgen verdammt oder gezwungen, die Statistiken mit Tricks zu bereinigen. Der Beamte Howard „Bunny“ Colvin (Robert Wisdom) hat jedoch keine Lust mehr auf Spielchen. Und er sieht die Notwendigkeit zu einschneidenden Eingriffen: Er macht im Stadtgebiet Baltimores „ausgestorbene“ Viertel ausfindig, verwahrloste und weitestgehend verlassene Straßenzüge, die er den Drogenhändlern nun als Freie Zonen anbietet, an denen sie ungestört dealen dürfen, sofern sie ihre bisherigen Umschlagplätze zurücklassen– ohne das Wissen seiner Vorgesetzten. Der Plan geht tatsächlich auf: Nicht nur sind die zuvor noch hart umkämpften Straßenecken plötzlich befriedet, auch die Free Zones kommen ohne Verbrechen aus. Doch das gut gemeinte Experiment wird wieder nur zum Anlass eines Machtkampfes der rivalisierenden politischen Parteien: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, sehen sich die Verantwortlichen zu den entsprechenden Maßnahmen gezwungen. Bürgermeister Royce muss die Vorgänge verteidigen, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren, für den Herausforderer sind sie indes ein gefundenes Fressen, die unhaltbaren Zustände anzuprangern.

THE WIRE – SEASON 3 liefert ein zunehmend verschachtelteres Bild innerstädtischer Kommunalpolitik und Kriminalität, das „herkömmlichere“ Krimiserien hoffnungslos naiv erscheinen lässt in ihrem Glauben, singuläre Ereignisse aus dem großen System, in das sie eingebettet sind, herauslösen zu können. „Spannung“ als Mittel zur finalen Affirmation des zivilen Glaubens in Recht und Ordnung sind nicht das vordringliche Ziel von THE WIRE. Auch Moral spielt eine sehr untergeordnete Rolle, stattdessen geht es darum zu zeigen, wie vertrackt und nahezu aussichtslos die Situation in Baltimore – stellvertretend für alle (amerikanischen) Großstädte mittlerweile ist. Alle, Protagonisten und Antagonisten sind Spieler in ein und demselben Spiel, mal Nutznießer und mal Benachteiligte, ohne Hoffnung, dauerhaft auf der „richtigen“ Seite stehen zu können. Es wird eine Utopie des Polizisten als kommunalem Streetworker gezeichnet, nicht so sehr eines rigorosen Bestrafers mit dem Gesetzbuch in der einen und dem Schwert in der anderen Hand, sondern mit diplomatischem Geschick, mit Empathie und einem wachen Auge für die sozialen Not- und Schieflagen. Was „Verbrechen“ ist, ist nicht so sehr Frage von Moral, sondern der Interpretation. Und die Definitionsmacht liegt in den Händen der Privilegierten.

Die Entwicklung, die die Serie seit der ersten Staffel genommen hat, ist beachtlich. Dabei scheint der erfolgte Reifeprozess vollkommen organisch: Die Serie vollzieht zwischen ihren Staffeln keinen Sprung, vielmehr schreitet sie in einem quasi-teleologischen Prozess der Erleuchtung voran. Auch formal lässt sich das nachvollziehen. Kritisierte ich an SEASON 1 noch den steifen visuellen Stil und eine nicht immer sinnvoll eingesetzte Theaterhaftigkeit, so kann man den Blick, den THE WIRE auf die Welt wirft, mittlerweile tatsächlich als „journalistisch“ bezeichnen, wie das mein geschätzter Freund und Kollege Matthias Huber vorschlug. David Simons Plan ist es nicht, seine Zuschauer ins Geschehen hineinzuziehen, sondern ihnen einen Überblick zu geben und sie so in die Lage versetzen, die kaleidoskopisch fragmentierten Eindrücke zu einem eigenen Gesamtbild zusammenzusetzen. In diesem Ansatz erinnert THE WIRE tatsächlich etwas an die Filme Robert Altmans. Meine Ratlosigkeit, der ich in meinem Text zu SEASON 1 noch Ausdruck verlieh, ist nun jedenfalls vollständig weggeblasen. Was die kreativen Köpfe hinter THE WIRE geleistet haben, sucht Seinesgleichen.

 

 

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