der skorpion (dominik graf, deutschland 1997)

Veröffentlicht: April 14, 2015 in Film
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6369_2ca8DER SKORPION beginnt mit einer Montage von Close-ups auf ein unruhig hin und her zuckendes Auge, die mit dem „Dies irae, libera me“ aus Verdis „Requiem“ unterlegt ist. Für mich stellte sich aufgrund der Verbindung von Bild und Ton sofort die Assoziation zu Dario Argentos OPERA ein: Inhaltlich hat Dominik Grafs für das ZDF gedrehter Fernsehfilm mit diesem zwar eher wenig zu tun, dennoch könnte man ihn durchaus als „gialloesk“ bezeichnen – und eine gewisse Theatralik der Inszenierung, die man auch von Argento kennt, ist ebenfalls kaum zu leugnen. Für einen Polizeifilm, und ein solcher ist DER SKORPION, wenn man ihn denn in eine Genre-Schublade stecken möchte, ist diese Assoziation eher ungewöhnlich, weil er sich in der Regel durch einen sachlich-nüchternen Blick auf die Welt auszeichnet, die kaum mehr ist, als eine Anhäufung von Fakten und Sachverhalten, die gesammelt, interpretiert und bewertet werden müssen. In DER SKORPION bricht aber das Gialloesk-Wahnhafte in der Form von hoffnungsloser familiärer Verstrickung und Drogen in den Fall ein und spiegelt sich auch in der formalen Gestaltung.

In einem Werkstattgespräch mit Marcus Stiglegger äußerte sich Graf wie folgt über den Realismus von Polizeifilmen: „Ich glaube, es gibt beim Polizeifilm meistens eine Realismusübereinkunft mit dem Zuschauer, es gibt eine Basis, auf der man dem Zuschauer in den ersten fünf Minuten versucht klarzumachen: Das, was wir hier jetzt zeigen, versteht sich als eine Form von deutscher Realität. […] Realismus ist ja doch immer dann gegeben, wenn man alles, was man erzählt, mit den Mitteln der real existierenden Außenwelt erzählt. In dem Moment, in dem die großen psychologischen Kameratricks kommen, die Zufahrten auf große Gesichter, die verzerrenden kurzen Brennweiten, die Verschiebung von Raum oder Zeit in der Montage, kann man davon ausgehen, dass man sich nicht mehr im Rahmen einer realistischen Übereinkunft bewegt.“ DER SKORPION mag fast als Bebilderung dieses Statements fungieren, ginge der Film nicht einen Schritt weiter: Sind Realität und Illusion zunächst noch sauber voneinander getrennt, klar unterscheidbar voneinander, bluten sie irgendwann ineinander und infizieren sich gegenseitig. „Ich wünschte, ein großer Regen würde kommen, der den ganzen Dreck wegspült“, sagt Drogenpolizist Josef Berthold (Heiner Lauterbach) einmal, eine Dialogzeile, die nicht nur Grafs tiefe amouröse Verstrickung in den Genrefilm bloßlegt, sondern auch suggeriert, dass Berthold selbst mehr und mehr das Gefühl hat, sich in einem Film zu bewegen. Dieser große Regen, die Reinigung und Klarheit die er bringen soll, würde vielleicht auch dem Film als Ganzes gut tun: das Wahre sauber von der Halluzination trennen, Abkühlung verschaffen, wo DER SKORPION heißzulaufen droht, vielleicht das ein oder andere lose Fragment wegspülen, das liegen geblieben ist wie ein vergessenes Gepäckstück. Aber es ist ja gerade dieses Rauschhafte, das Unsaubere, Unsortierte, dem DER SKORPION seine Schönheit, seine fiebrige Spannung, seine seltsame, nie festzulegende Atmosphäre verdankt.

Der Film beginnt mit einem Blick auf Josef, der sich mit Kopfhörern in das „Requiem“ aus den Credits vertieft (weil klassische Musik die Aufmerksamkeit schult, wie wir später erfahren), bevor er von seiner Englischvokabeln lernenden Gattin Lili (Renate Krößner) gestört wird: Der Job ruft ihn an die Schule seines Sohnes Robin (Marek Harloff), wo gerade die Abiturfeier begangen wird und ein Mädchen offenbar eine Überdosis Drogen erwischt hat. Unter den dort Anwesenden befindet sich auch der Drogendealer/V-Mann Carpetier (Oliver Stokowski), der Josef und seinem Partner Arno Jürging (Ulrich Noethen mit einem Rollennamen, der einen der großen Unbekannten der deutschen Psychotronik referenziert) von einem am nächste Tag am Flughafen vonstatten gehenden Drogendeal erzählt. Bevor Berthold dem Hinweis nachgehen kann, wird jedoch ein Anschlag auf seine Gattin verübt: Drogen in ihrem Essen treiben sie in Panik auf die Straße und vor ein heranrasendes Auto. Ab diesem Zeitpunkt spaltet sich die Geschichte in zwei Stränge: Der eine widmet sich Berthold und seinen Ermittlungen, bei denen er zwar keine Drogen beschlagnahmt, dafür aber diverse Tote auffindet, der andere seinem Sohn, der eine heiße, drogenverstärkte Affäre mit der Pornodarstellerin Daria (Birge Schade) beginnt und auf Konfrontationskurs mit dem besorgten Vater geht. Auch wenn diese beiden Stränge gleichermaßen wichtig für den weiteren Verlauf des Filmes sind, ist es doch die sich zwischen Robin und Daria anbahnende Liebesgeschichte, die Graf in den Vordergrund rückt und aus der er seinen Stil destilliert. Der Taumel in den sich die beiden Lover begeben, angeheizt von den Drogen, der eigenen Lust und der Haltlosigkeit ihrer Situation, wird zum Paradigma von DER SKORPION, der zwischenzeitlich ganz zu vergessen scheint, was er eigentlich erzählen wollte. So wie für den Berauschten bestimmte, ganz spezifische, für andere völlig willkürliche Momente und Situationen eine geradezu magische Kraft annehmen, so treten aus dem Strudel der Ereignisse von DER SKORPION einzelne Einstellungen und Szenen hervor, erlangen eine Bedeutung, die sie im Kontext des Films wichtiger macht, als sie es nach herkömmlichem Verständnis sind: Wie Josef der aus dem Koma erwachten Lili die Haare kämmt und dabei versucht, ihre Erinnerungen zu aktivieren, zum Beispiel. Oder wie Josef und Robin kurz darauf vor ihr sitzen und ihr ihr Lieblingslied vorsingen, weil sie kein Radio auf ihrem Krankenzimmer hat. Die Familie, die im Zentrum der Ereignisse steht, bleibt skizzenhaft – Heiner Lauterbach und Renate Krößner sind absolut mismatched und Graf dringt nie zum Kern ihrer Beziehung vor, die Probleme zwischen Vater und Sohn sind klischeehaft und bleiben als bloße Behauptung stehen –, aber es sind solche kurzen Augenblicke, in denen sich DER SKORPION vom Drehbuch zu lösen scheint und seinen Protagonisten eine Seele verleiht, die ihnen sowohl das Script wie auch Grafs Stilwillen eigentlich verwehren.

Der Film selbst kämpft dagegen an, seine Figuren an das Klischee zu verlieren: Die Handlungsentwicklung wartet mit einer Offenbarung auf, die ihnen im selben Maße Identität stiftet wie sie auf den ersten Blick unglaubwürdig und konstruiert scheint. Die Figuren sträuben sich gegen das Korsett, in das die Genre-Konvention sie zwingt und werden in diesem Kampf zu Menschen, mit denen der Zuschauer wirklich mitfühlt. Wenn Josef und Robin im letzten Akt zusammenrücken, wenn der Vater seinem von einem Drogencocktail benebelten Sohn Wasser aus einer Flasche über den Kopf schüttet und ihm dabei sanft die Wange streichelt, dann ist das keine Szene mehr, die Drehbuch- und Schauspielschule diktieren, sondern eine, in der die Charakterskizzen plötzlich zu vollem Leben erblühen. Es gibt zahlreiche solcher Szenen, Bilder oder auch Dialogzeilen, die mit beeindruckender Klarheit aus dem Formelhaften herausstechen: Robin, der Daria eine Ecstasy-Pille von der Zunge leckt oder einen vom Rausch so trockenen Mund hat, dass er sich nur noch in Krächzlauten artikulieren kann. Josefs Geliebte, die mit sächsischem Akzent sprechende Kollegin Iris (Petra Kleinert), die fragt, ob sie „billig“ sei, nachdem sie einen Blick auf die geschmackvoll eingerichtete Wohnung der Bertholds geworfen hat. Darias verzweifelte Fassungslosigkeit, als Robin sie brutal verstößt. DER SKORPION triumphiert, weil das Detail seine Hegemonie über das Gesamte behauptet.

 

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