eine stadt wird erpresst (dominik graf, deutschland 2006)

Veröffentlicht: April 15, 2015 in Film
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EINE STADT WIRD ERPRESST: Ich musste bei diesem Titel unweigerlich an John McTiernans DIE HARD WITH A VENGEANCE denken. Ein ganzes System wird von unbekannten Übeltätern in Schach gehalten, die „Kampfzone“ weitet sich auf ein riesiges urbanes Areal aus, statt aufs überschaubare OK Corral, es sind nicht mehr nur einzelne Personen, die die Zielscheibe der Erpressung sind, sondern ein höchst heterogenes Kollektiv, das miteinander nur den Wohnort, eine Vorwahl und eine Gruppe von Postleitzahlen teilt. Es ist sicherlich auch den budgetären Limitierungen geschuldet, dass Graf das von mir so interpretierte Titelversprechen nicht wirklich einlösen kann; dass er aber den Handlungsort „Stadt“ (der Film spielt in Leipzig) sehr bewusst zugunsten eines dazu antipodisch gesetzten Dorfs inmitten der sächsischen Pampa verwirft, darf man durchaus programmatisch verstehen. Das Phänomen der Landflucht wird vor allem im Zusammenhang mit den nicht mehr ganz so neuen fünf Bundesländern medial immer wieder heraufbeschworen: Das Leben konzentriere sich immer stärker auf die Städte, die alles in ihrer Umlaufbahn anzögen und das sie umgebende Land entweder buchstäblich veröden ließen oder aktiv an seiner Zerstörung mitarbeiteten. Grafs Film setzt sich nicht nur inhaltlich mit genau diesem Phänomen auseinander, er wirkt ihm gewissermaßen entgegen, indem er den Fokus eben nicht auf die erpresste Stadt setzt, sondern seinen Konflikt in dem vom Aussterben bedrohten (fiktiven) Dörfchen Gralwitz austragen lässt.

Während sich die Polizei in Leipzig fieberhaft einem ferngesteuerten und mit Dynamit beladenen Spielzeugauto widmet, das plötzlich im Rathaus auftaucht, wird andernorts einer der Hochspannungsmasten in die Luft gejagt, der Teile der sächsischen Metropole mit Strom versorgt. Wenig später melden sich die Täter mit verzerrten Stimmen am Telefon: Sollten nicht binnen weniger Tage 20 Millionen Euro in Form von Diamanten an sie übergeben werden, werden weitere Sprengkörper im Stadgebiet explodieren. Die Diamanten werden bereitgestellt, doch ihre Verfolgung misslingt: In der Nähe des Dörfchens Gralwitz, das durch den nahegelegenen Braunkohleabbau fast ausgestorben ist, verliert sich ihre Spur. Der Kriminalbeamte Kalinke (Uwe Kockisch), ein „Relikt“ aus DDR-Zeiten, dessen Integrität vom zuständigen Oberstaatsanwalt Lappe (Hubertus Hartmann) immer wieder infrage gestellt wird, kennt den Ort noch von früher: Als ein kleines Mädchen hier von einem betrunkenen Leichtathletik-Star totgefahren wurde, war er der ermittelnde Beamte und konnte in dieser Funktion nicht verhindern, dass der Fall vertuscht wurde, der Sportler ungestraft davonkam. Der Vater des Kindes, der ehemalige Offizier Naumann (Thomas Neumann), ist nun einer der Tatverdächtigen im Erpressungsfall, was ihm noch besondere Brisanz verleiht …

Dominik Grafs EINE STADT WIRD ERPRESST zeichnet sich durch vieles aus, was man am gegenwärtigen deutschen Film, sei er nun für die große Leinwand oder das Fernsehen gedreht, vermisst, bzw. macht der Regisseur vieles richtig, was andere gewohnheitsmäßig falsch machen: Sein Thema ist spezifisch deutsch und aktuell, ohne dass EINE STADT WIRD ERPRESST dabei zum langweiligen Thesenfilm für den Einsatz im SoWi-Unterricht verkäme. Seine Charaktere bekommen vom Drehbuch einen glaubwürdigen Background und eine Persönlichkeit, ohne dass sie ständig in ausufernden Monologen Auskunft über sich geben müssten oder der Fluss der Erzählung durch langweilig-formelhafte Ausflüge in ihr Privatleben unterbrochen würde. EINE STADT WIRD ERPRESST funktioniert als spannende Krimi-Abendunterhaltung, aber auch als genuin deutsches Drama, zeichnet sich nicht zuletzt durch eine absolut stimmige visuelle Gestaltung und eine Atmosphäre aus, die in deutschen Fernsehkrimis – oft genug lieblose Konfektionsware, die bloß nirgendwo anecken und daher auch keine eigene Identität entwickeln darf – Seltenheitswert hat. Gralwitz ist eine Italowesternstadt in Sachsen, eine Ghost Town, in der ein auf der Straße streitendes Ehepaar und ein auf Tontauben schießender Bürgermeister die einzigen unmittelbar sicht- und hörbaren Lebenszeichen sind. Wo die von Entbehrung, Zukunftsangst und Pessimismus gezeichneten Gesichter der sich mit fast kindlichem Trotz der Wirklichkeit widersetzenden Bürger eine einzige Maske der Ablehnung und des Misstrauens bilden. Wo der Tod in Form eines sich immer weiter ausdehnenden Lochs – des Abbaugebiets – droht, alles zu verschlingen, ohne die geringste Spur zurückzulassen. Wo man immer noch dabei ist, die Vergangenheit zu verarbeiten, während die trostlose Gegenwart sich langsam in eine rabenschwarze Zukunft verwandelt. Dieser Ort ist ein solch idealer Schauplatz für einen bildgewaltigen Film, dass man sich fragt, warum man so etwas noch nicht häufiger gesehen hat. Klar, Dörfer haben ihren festen Platz im deutschen Fernsehen (vor allem in mehr oder weniger langweiligen Fish-out-of-Water-Serien), aber selten loten diese ihre inhärente Tristesse, Desillusionierung und Geschichtsträchtigkeit aus, begnügen sich vielmehr mit solch ornamentalen Harmlosigkeiten wie ländlichem Idyll und sympathisch-schrulligen Eingeborenen. Graf gibt sich mit dem Banalen nicht zufrieden. Der Erpressungsfall ist für ihn nur ein Anlass, tief in die Geschichte der deutschen Teilung zu tauchen, die Deutschland noch längst nicht überwunden hat. Orte wie Gralwitz sind das Narbengewebe eines heimlichen Krieges, der auch nach 1990 noch Opfer fordert und durch den grassierenden Kapitalismus zusätzlich angeheizt wird. Immer wieder fängt Graf das gewaltige Loch ein, das da inmitten des herbstlichen Graubrauns klafft wie ein böses Omen, bereit alles für immer zu verschlingen. Wer weiß schon, welche Gespenster nur darauf warten, sich an die Oberfläche zu graben. Oder – wie der abschließende Voice-over-Kommentar suggeriert – welche Geheimniss dort in Zukunft verscharrt werden.

Ich musste bei der Sichtung von EINE STADT WIRD ERPRESST mehrfach an den deutschen Heimatfilm denken. Die Gegenüberstellung von (gutem) Land und (böser) Stadt, die für dieses Genre typisch ist, greift auch Graf auf. Kalinke und seine Leute aus Leipzig sind in Gralwitz schon deshalb nicht willkommen, weil sie das korrupte städtische Kapital vertreten, das ihr Dorf langsam dem Erdboden gleichmacht. Was im Heimatfilm naiv und bisweilen reaktionär anmutete, gewinnt in EINE STADT WIRD ERPRESST jedoch einige Überzeugungskraft: Von der Naturschönheit, der Reinheit und ursprünglichen Unschuld des „Landlebens“ ist in Gralwitz nichts mehr übrig, eher noch sieht das Dörfchen noch grauer, dreckiger und heruntergekommener aus als der vermeintliche Moloch Leipzig. Die Stadt hat endgültig gewonnen und was im Heimatfilm noch paranoid anmutet, hat sich hier bewahrheitet. Ihr Glück suchen die Gralwitzer dann auch nicht mehr in bunten Volksfesten mit Wein, Weib, Gesang und Trachtenkostümen, wie man sie aus dem Heimatfilm kennt, sondern im traurigen Bauernliga-Kick auf dem örtlichen Bolzplatz, bei dem ein läppisches 1:0 gegen den Nachbarn gefeiert wird wie der Sieg der Champions League. EINE STADT WIRD ERPRESST endet danach mit einem Knall, der gleichzeitigen Besiegelung zweier höchst singulärer Schicksale, aber der Film erzeugt darüber hinaus einigen Nachhall, zeigt er doch mehr als deutlich, welche Gräben sich zwischen den Bürgern unseres Landes auftun, welche Probleme wir in Zukunft (noch) zu lösen haben werden – und was passieren mag, wenn uns das nicht gelingt.

Kommentare
  1. MaecFly sagt:

    DER Film, der meine Begeisterung für Graf vor einiger Zeit so richtig entfacht hat. Ich hoffe, da folgen noch mehr Texte von dir. Vielleicht ja auch über seine Essay-Filme, die ebenfalls eine Klasse für sich sind!

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