un flic (jean-pierre melville, frankreich 1972)

Veröffentlicht: Dezember 22, 2010 in Film
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UN FLIC ist Melvilles letzter Film (er starb ein Jahr später) und man kommt nach Betrachtung kaum umhin zu sagen: Das ergibt Sinn. Oder andersherum formuliert: Der Film, den Melville nach diesem noch hätte inszenieren sollen, ist nicht mehr vorstellbar. Und noch weniger wäre er ansehbar gewesen.

Vier Ganoven – darunter der Anführer Simon (Richard Crenna) und der 60-jährige Paul Weber (Riccardo Cucciolla), ein ehemaliger hoher Bankangestellter, der nach Verlust seines Arbeitsplatzes vor dem Aus steht – überfallen eine Bank und später dann einen Zug, den ein Drogenkurier für einen großen Heroinschmuggel benutzt. Edouard Coleman (Alain Delon) ist ein emotionsloser Kommissar in Paris, dessen Weg den der vier Räuber durch Zufall kreuzt. Mit Simon verbindet ihn darüber hinaus die Liebe zu einer Frau: der Nachtklubbesitzerin Cathy (Catherine Deneuve) …

In meinem Text zu L’ARMÉE DES OMBRES hatte ich Bernd Kiefer zitiert, der Melvilles Kino als „filmische Mythologie der Leere“ bezeichnet hatte: Emotionen sind in seinen Filmen ebenso abwesend wie äußere Motivationen, barocke Plotverwicklungen oder schmückende Details. Seine Protagonisten, egal ob es nun Gangster oder Polizisten sind, sind freudlose Profis, die das tun, was sie am besten können, weil sie nichts anderes können. Es sind weder Rebellen im Sinne Hollywoods, keine romantischen Outlaws noch aufrechte Hüter der Gesellschaft, sondern desillusionierte, aber nicht verzweifelte, sondern vielmehr realistische Männer, die ihr Leben nach beinahe mathematischem Verständnis leben: Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die Gerade. Und wenn diese Gerade den Weg des Todes kreuzt, dann ist das eben so. Der Existenzialismus ist bei Melville kein heldisches Manifest, sondern schlicht ein unumgehbarer Fakt, über den nachzudenken sich deshalb auch nicht weiter lohnt, und das Geschäft seiner Protagonisten kein Abenteuer, sondern schlicht ein Job, der mit äußerster Routine ausgeübt wird, bis zu dem Moment, an dem diese Routine dann nicht mehr ausreicht. Melvilles Filme enden immer mit dem Tod, doch überrascht wird man davon nicht, weil der Tod von Beginn an über ihnen liegt. In Melvilles Filmen sieht man den Protagonisten beim langen Sterben zu, denn sie suchen den Tod, weil sie wissen, dass er sie von einem Leben erlöst, das keine Überraschungen mehr bereithält.

In UN FLIC wird das alles bis zum Extrem ausgereizt, so weit, dass es für den Zuschauer überhaupt keine Gelegenheit mehr gibt, am Geschehen in irgendeiner Form emotional zu partizipieren. Melville hat alles aus seinem Film herausgesaugt, was über bloßes, nacktes Da-Sein hinausgeht. Coleman fährt mit gelangweilter Miene von einem Tatort zum nächsten, ohne jemals tatsächlich involviert zu sein, und als er Simon und seinen Männern auf die Spur kommt, ist das reiner Zufall. Man kann bei UN FLIC nicht von einer Handlung sprechen: Dinge passieren, ohne dass sie begründet oder auch nur vorbereitet würden, und irgendwie läuft das alles auf den unausweichlichen Endpunkt zu, auch wenn nichts darauf hindeutet, außer der Konvention. Was die Figuren antreibt, was sie denken und fühlen: Man weiß es nicht. Sie sind einfach, voraussetzunglos. Dazu passt die Farbgebung: Das eisige Stahlblau (oder stählerne Eisgrau) des Films verwandelt die bleichen Gesichter der Figuren in wächserne Totenmasken, ein urbanes Schmutzigbraun stellt den einzigen kläglichen Ausbruch aus dieser leblosen Blässe dar.

UN FLIC ist wohl der radikalste Cop- und Gangsterfilm, den das Genre jemals hervorgebracht hat – und man darf mutmaßen, dass ihm kein Film dies mehr streitig machen wird: Melville reduziert dessen Formen, bis nur noch die Tasache, dass er von Polizisten und Gangstern handelt, ihn überhaupt mit diesem Genre verbindet. Aber das alles ist so abstrakt, so fremd und leer, dass man meinen könnte, UN FLIC sei von einem besonders menschenfeindlichen Computer errechnet worden. Das herkömmliche Vokabular der (Gerne-)Filmrezeption muss an ihm abprallen, weil das, was sie in Begriffe bringen möchte, gar nicht mehr da ist. Über das Drehbuch sprechen, Psychologie, Motivationen, Glaubwürdigkeit? Was soll das in Anbetracht dieses Films?

Ich habe UN FLIC zweimal gesehen, weil ich mich nach der Erstsichtung ebenso leer fühlte wie der Film, den ich gesehen hatte. Auch nach der zweiten Ansicht fühle ich mich nur unwesentlich schlauer. Das liegt nicht an mir (behaupte ich jetzt mal): In Melvilles letztem Film gibt es nichts mehr zu verstehen. Es liegt alles auf der Hand. Das muss man erst einmal verkraften lernen. Wahrscheinlich bleibt einem nichts anderes übrig, als zu sterben, wenn man bei dieser Weltsicht angelangt ist. Ein Meisterwerk, das man unmöglich lieben kann.

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