angel (robert vincent o’neill, usa 1984)

Veröffentlicht: November 14, 2011 in Film
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Die 15-jährige Musterschülerin Molly Stewart (Donna Wilkes) hat ein Geheimnis: Seit ihre Eltern sie verlassen haben, lebt sie allein und kommt für ihren Lebensunterhalt auf, indem sie nachts als „Angel“ auf den Straßen Hollywoods anschaffen geht. Neben ihren Kolleginnen kümmern sich vor allem der alternde Transvestit Mae (Dick Shawn) und der Cowboy und Kunstschütze Kit Carson (Rory Calhoun) um sie. Als ein Serienmörder (John Diehl) im Rotlichtmilieu umgeht und Prostituierte umbringt, gerät auch Angel in Gefahr …

Die Geschichte, die jedem RTL-Fernsehfilm zur Ehre gereichen würde, das Plakat, auf dem das brave bezopfte Schulmädchen ihrem aufgebrezelten Alter ego gegenübersteht, der kitschige Titel, der das Nymphenhafte von Nabokovs Lolita mit dem klassischen Bild der „Hure und Heiligen“ vereint, und schließlich das Wissen, dass ANGEL noch drei Sequels nach sich zog, lassen eine Sleazegranate erster Klasse erwarten. Doch wie schon beim ganz ählich gelagerten STREETWALKIN‘ wird man als solchermaßen voreingenommener Zuschauer eines Besseren belehrt. Anstatt sich im Dreck zu wälzen, Klischees und Vorurteile auszubeuten und zu bedienen, ist O’Neill nämlich tatsächlich um Differenzierung bemüht: Es gibt keine einzige Sexszene in ANGEL, die Titelheldin wird nie zur schmutzigen Männerfantasie degradiert, sondern als gleichermaßen bemitleidens- und bewundernswerter Mensch gezeichnet, dem die bitteren Umstände keine andere Wahl ließen und der von einem Tag auf den nächsten lernen musste, erwachsen zu werden, und auch ihre Freunde Mae und Kit, die anderswo zu grellen Witzfiguren aufgeblasen worden wären, werden vollkommen ernst genommen. Mehr noch: Das Transvestitendasein Maes wird nie auch nur ansatzweise hinterfragt oder als schnödes Kuriosum missbraucht, vielmehr als vollkommen selbstverständlich dargestellt – es gehört zu diesem Menschen einfach dazu. So wird ANGEL auch nicht zum „Abstieg in die Gosse“, wie ihn andere, thematisch ähnlich gelagerte Filme vollführen. Nie hat man den Eindruck, sich dem Regisseur anvertrauen zu müssen, um nicht im Sündenpfuhl unterzugehen. O’Neill öffnet einem vielmehr die Augen dafür, hinter den gezeigten Außenseitern die ganz gewöhnlichen Menschen zu erkennen, die vom Leben auch nichts anderes erwarten als die vermeintlich Normalen. Mae und seine Freundin, die alternde New-Wave-Künstlerin Solly (Susan Tyrrell mit aufgemalten Augenbrauen und Punkfrisur), mögen beide nicht ganz dem Durchschnitt entsprechen, doch wenn sie zusammensitzen und Gesellschaftsspiele spielen, dann unterscheiden sie sich nicht von einem ganz gewöhnlichen Ehepaar.

O’Neill hatte zuvor unter anderem das Drehbuch für den von mir schon oft gelobten VICE SQUAD geschrieben, der den Zuschauer ebenfalls mitnahm auf eine Reise durch die Großstadt-Nacht und in dem ihm ebenfalls schon das Kunststück gelungen war, aus episodischen Einzeleindrücken ein ungemein dichtes Gesamtbild zu schaffen. ANGEL ist noch ein ganzes Stück flockiger als jener und mir schien es so, als habe O’Neill den Serienmörderplot erst nachträglich eingefügt, um seinem Film eine klare Richtung zu geben. Das gelingt ihm, weil der Zuschauer erkennt, dass auch dieser Killer nur einer jener Verlorenen ist, die die Gesellschaft übersehen hat, weil sie nicht der Norm entsprachen. Wenn er am Ende tot zu Boden sackt, in seinen Blick die Ernüchterung darüber Einzug hält, dass sein sinnloses Leben jetzt einfach vorbei ist, sagt er seine ersten und letzten Worte des Films „It hurts.“ Besser ließe sich ANGEL kaum zusammenfassen. Ein Meisterwerk des düsteren Großstadtkinos der Achtzigerjahre.

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