un uomo, una città (romolo guerrieri, italien 1974)

Veröffentlicht: Juli 5, 2015 in Film
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15213UN UOMO, UNA CITTÀ beginnt am Bahnhof von Turin, wo der Film spielt. Mehrere Menschen, wir kennen sie alle noch nicht, steigen aus dem Zug aus, werden mal kurz, mal länger von der Kamera eingefangen und festgehalten. Einige lernen wir dank eines kleinen Dialogs etwas kennen, andere huschen nur vorbei, doch die meisten von ihnen werden später noch einmal auftauchen, unabhängig voneinander in eigenen, mal mehr, mal weniger wichtigen Episoden, aus denen sich Guerrieris Film zusammensetzt. Das ist typisch für den Film, der keinem großen erzählerischen Gesamtentwurf folgt, sondern viele kleine Geschichten erzählt, die durch die Figur des alternden Inspektor Michele Parrino (Enrico Maria Salerno) zusammengehalten werden. Ergo: „Ein Mann, eine Stadt“.

In seinem schönen Text zu Lucio Fulcis QUANDO ALICE RUPPE LO SPECCHIO führt Sven Safarow die Rubrik des „letzten Films“ ein. Auch UN UOMO, UNA CITTÀ lässt sich als solcher „letzter Film“ oder „Abschiedsfilm“ kategorisieren, auch wenn sowohl Regisseur Guerrieri als auch Hauptdarsteller Salerno danach noch weiter tätig waren. Kurz bevor der Polizeifilm italienischer Prägung dem Zorn der gebeutelten Bürger Ausdruck verschaffen und zum affektgeladenen Gewaltreißer mutieren sollte, inszenierte Guerrieri ihn zum vielleicht ersten und letzten Mal mit unübersehbarer Sentimentalität und Melancholie, mit dem Blick für die Menschen hinter den nackten Zahlen in der Statistik, für die tragischen Geschichten hinter den Schlagzeilen. Salerno, in jener Zeit bereits auf die Figur des müden, von der Zeit überholten Kriminalbeamten abonniert, hetzt hier nun endgültig nicht mehr atemlos hinter den Schurken her. Er nimmt sich Zeit, mit den Menschen zu sprechen, er hört ihnen zu, zieht aus dem Gehörten seine Schlüsse und erkennt – forciert durch seinen zunehmend schlechteren Gesundheitszustand –, dass es für ihn langsam an der Zeit ist, den Hut zu nehmen. Er hat eine junge Geliebte, die Lehrerin Anna (Paola Quattrini), doch wahre Seelenverwandtschaft, jene anscheinend blinde, voraussetzungslose Übereinkunft, die die Voraussetzung für das ist, was man „Liebe“ nennt, spürt er eigentlich erst im Dialog mit der gleichaltrigen Cristina Cournier (Francoise Fabian), der Tochter eines verdächtigen Jugendlichen. Es gibt mehrere Kriminalfälle, die während des Films gelöst werden, und einen, den man als „zentral“ bezeichnen könnte, aber eine Ermittlung im klassischen Sinne findet kaum statt. Guerrieri ist an den Resultaten von Parrinos Arbeit nicht besonders interessiert, dafür umso mehr an dem Miteinander der Bürger und dem Ort, den sie, vom Schicksal willkürlich hingeworfen, miteinander teilen. Zeichnet der Poliziesco jener „bleiernen Zeit“ sonst kein besonders schmeichelhaftes Bild der Menschheit, sondern vielmehr eine Gesellschaft, in der der Mensch meist des Menschen Wolf ist, jeder rücksichtslos auf seinen Vorteil bedacht, scheint er hier ein Zusammenrücken, Empathie und Mitgefühl proklamieren zu wollen. Die Szenen, die einem im Gedächtnis bleiben, zeigen Menschen im freundschaftlich-verständnisvollen Dialog miteinander.

Besonders eindrucksvoll ist der Besuch Parrinos bei einer armen Kleinfamilie aus dem Süden. Der junge Sohn hat sich erhängt, weil er zum dritten Mal die Versetzung nicht geschafft hat. Seine Mutter liegt vor dem Leichnam auf den Knien und schreit ihren Schmerz zum Himmel, während Parrino vom Vater erfährt, dass der Junge mit dem Umzug in den Norden, der Sprache, die die Menschen hier sprechen, und dem neuen Rhythmus des Lebens von Anfang an überfordert war. Parrino macht eine kurze Bemerkung darüber, dass der Mann sich doch um seine hysterische Frau kümmern müsse, doch der antwortet nur sehr, sehr weise, mit vollem Verständnis in die eigentlich unlösbare Aufgabe, die nun vor ihnen steht: „Nein. Eine Mutter muss weinen.“ Parrino schweigt, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Es ist eine Szene, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Eine weitere jener Randfiguren, die den Film immer wieder durchkreuzen, kurz Aufmerksamkeit einfordern und dann wieder verschwinden, ist „Il cavalier Battista“ (Tino Scotti), ein verwirrter Rentner, der die Entlassung aus den geliebten Fiat-Werken nicht verkraftet hat und nun ziellos durch die Straßen irrt, hin und wieder eines jener Automobile bewundert, an deren Konstruktion er einst selbst beteiligt war, Passanten anhält, sie in Gespräche verwickelt und an seiner Geschichte teilhaben lässt. Er verschwindet irgendwann aus dem Film und man sieht Parrino den Schmerz darüber an, dass es nicht in seiner Macht steht, diesem Mann zu helfen. Alles, was ihm bleibt, ist ihm kurz zuzuhören, ihm das Gefühl zu geben, dass er da ist, auch wenn seine Antworten bei dem Greis kaum noch ankommen. Schön ist auch die Freundschaftsbeziehung zwischen Parrino und dem Journalisten Paolo Ferrero (Luciano Salce): In den Szenen der beiden zeigt sich, was das eigentlich ist, „Freundschaft“. Berufsbedingt sind die beiden nicht immer einer Meinung, die Presse ist auf saftige Schlagzeilen angewiesen, die dem Polizisten oft ein Graus sind, vor allem, wenn sie auf seinen eigenen Fehlern gründen. Es gibt einmal ein handfestes Massaker bei einem Einsatz, den Parrino leitet. Durch eine Verkettung von unglücklichen Zufällen werden sowohl drei Zugräuber als auch deren Geisel und einige Polizeibeamte bei einem vermeidbaren Schusswechsel getötet. Parrino ist entsetzt, zwar trifft ihn keine direkte Schuld, aber doch trägt er die Verantwortung. Er gerät heftig mit Ferrero aneinander, der seine Kollegen, deren Fragen Parrino zuwider sind, vor ihm verteidigt: Sie machen doch auch nur ihren Job. Später treffen sich die beiden wieder und verteilen an die „feinen Herschaften“, deren illegal betriebener Privatpuff einem jungen Mädchen das Leben gekostet hat, bei einer Theatervorführung überführende Beweisfotos. Die Antwort auf die Frage, ob ihre Aktion einen positiven Effekt nach sich zieht, bleibt Guerrieri schuldig, aber das ausgelassene Lachen der beiden Veteranen über die bedröppelten Gesichter der Honorationen ist ein schöner Schlusspunkt. Parrino verstummt und spaziert langsam ins Dunkel der Nacht, gedankenverloren. Die Rufe seines Freundes hört er nicht mehr. Er ist jetzt woanders, vielleicht bei seiner möglichen Zukunft, bei seiner Stadt und ihren Menschen, aber ganz gewiss nicht mehr bei seinem Beruf.

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