reazione a catena (mario bava, italien 1971)

Veröffentlicht: Juni 5, 2013 in Film
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„Ein merkwürdiger Film.“ – Das war der Kommentar meiner Gattin unmittelbar nach Sichtung von Bavas Proto-Slasher, der in unserem schönen, freien Land nach wie vor verboten ist. Und sie hat natürlich Recht, vor allem wenn man ihn mit jenen Filmen vergleicht, die genetisch am engsten mit ihm verwandt sind. Mit dem Giallo teilt REAZIONE A CATENA die Vielzahl defizitärer Charaktere, die allesamt als Täter in Frage kommen, mit dem Slasherfilm die Drastik, mit der diese Morde ins Bild gesetzt werden, und die nummernhafte Dramaturgie, die sich beeilt, von einem blutigen Set Piece zum nächsten überzuleiten. Es sind mittlerweile zu Tode bemühte Details, dass zwei Szenen aus REAZIONE A CATENA nahezu unverändert in FRIDAY THE 13TH PART II kopiert wurden, der Schauplatz frappierend an Jason Vorhees‘ stomping grounds um den Crystal Lake erinnert und die längere Sequenz um vier vergnügungssüchtige Jugendliche, die dann kurz hintereinander abgemurkst werden, der amerikanischen Horrorfilmindustrie in den Achtzigerjahren Stoff für Hunderte von Filmen lieferte. Aber diese Ähnlichkeiten lassen die Abweichungen des Films von der Linie nur umso frappierender und verwirrender erscheinen.

In einem herrschaftlichen Haus an einer Bucht wird die gehbehinderte Gräfin Federica Donati (Isa Miranda) erdrosselt. Der Mörder begutachtet noch sein Werk, da ist er auch schon selbst dran. Hinter den Morden, denen weitere folgen, steckt der Streit darum, wem die Bucht mit den an ihrem Ufer liegenden Grundstücken gehört und was mit diesem Besitz angestellt werden soll. Besonderes Interesse daran haben das Ehepaar Renata (Claudine Auger) und Albert (Luigi Pistilli), aber auch der Architekt Ventura (Chris Avram) und seine Geliebte Laura (Anna Maria Rosati). Sie bekommen es unter anderem mit dem Käfersammler Paolo Fossati (Leopoldo Trieste), seiner seherisch begabten Ehefrau Anna (Laura Betti) und dem virilen Fischer Simon (Claudio Volonté), dem verstoßenen Sohn der Gräfin, zu tun …

Die putzige Szene gleich zu Beginn, die den unvermittelten Todessturz einer Fliege ins Wasser zeigt, gibt den Tenor des Filmes vor. REAZIONE A CATENA lässt seine Akteure mit blutiger, fast tierischer Verbissenheit morden – und sterben wie die Fliegen. Ohne Trauer, ohne echte Folgen. Das Leben geht weiter, der Mensch geht, was bleibt, ist die Bucht, deren sanfte Wogen weiter ungerührt ans Ufer plätschern, der Wald, dessen Bäume sich gleichmäßig im Wind wiegen, und die Käfer, die nun endlich nicht mehr aufgespießt werden. Mario Bava hat keinen typischen Spannungsfilm gemacht, sondern eine Parabel voller bitterer Ironie, einen Kommentar zum grenzenlosen Materialismus des Menschen, der ihn blind macht für alles um ihn herum, zu seinem amoklaufenden Egoismus, der ihn zu einer Fußnote gegenüber der beständigen Gleichgültigkeit der  Natur verkommen lässt. In der titelgebenden Kettenreaktion (ein anderer, kaum weniger schöner Alternativtitel beschwört die „Ökologie des Mordes“: ECOLOGIA DEL DELITTO), die durch den ersten Mord ausgelöst wird, zeigt sich, wie wenig der Mensch tatsächlich Herr über seine Handlungen ist, wie sehr er Gefangener seiner eigenen, ungemein beengten Perspektive ist. Alle Mörder, die Bava für uns bereithält, glauben, die Situation unter Kontrolle zu haben, während in Wahrheit längst das Chaos ausgebrochen ist. Der Film endet, als die vermeintlichen „Gewinner“ von ihren eigenen Kindern abgeknallt werden. Die haben sich das Treiben am See besonders gut angeschaut und sind – von den Eltern vernachlässigt – auf ganz eigene Ideen gekommen. Alle sind tot, übrig bleiben ein par Kinder, die bereits jetzt den Keim des Bösen in sich tragen, und eben die Bucht, die träge weiterplätschert. REAZIONE A CATENA wäre nun nicht der erste Film, der die Niedertracht des Menschen und seine Dummheit ins Licht setzen. Was erstaunt, ist seine Perspektive. Es gibt keine Haupt- und schon gar keine Identifikationsfiguren. Der Zuschauer betrachtet die Vorgänge aus der Distanz, neutral, wie die Existenzkämpfe in einer Ameisenkolonie. Doch dieser Blickwinkel verleiht ihm keine Überlegenheit: Er ist genauso ahnungs- und orietierungslos wie die Protagonisten, die gar nicht bemerken, in was für einem Spiel sie da mitwirken.

REAZIONE A CATENA ist normalerweise nicht der Film, der Bava-Anhänger in Verzückung geraten lässt. Gegenüber seinen gothischen Gruselschwarten, seinen Fantasyfilmen, selbst gegenüber dem verwandten SEI DONNE PER L’ASSASSINO, wirkt er dunkel, bitter und nur wenig verspielt. Keine Spur von dem grellen Technicolor oder den bewusst artifiziellen Settings, für die man seine Klassiker verehrt und die sie stets der Realität enthoben. Der Schein trügt zwar ein wenig – die zahlreichen Mordsequenzen sind keineswegs „einfach“, sondern überaus geschickt und kunstvoll inszeniert –, dennoch kann man kaum verleugnen, dass REAZIONE A CATENA stärker mit unserer Wirklichkeit (oder zumindest der des Jahres 1971) kommuniziert als ein OPERAZIONE PAURA oder ein TERRORE NELLO SPAZIO, die ganz bei sich waren in ihren Fantasiewelten. Da schließt sich dann der Kreis dieses Textes: Denn wie merkwürdig ist es, dass uns ein Film, der das „sinnentleerte“ Slasherkino maßgeblich beeinflusste, so viel über das Wesen des Menschen verrät, die ganze Enttäuschung über seine Niedertracht auch hinter einer Fassade der Bitterkeit nicht verbergen kann. So viel Freude Bava auch daran hatte, sich groteske Todesarten auszudenken, so wenig vergisst er, dass es Menschen sind, die hier ihr Leben aushauchen. REAZIONE A CATENA ist ein Slasherfilm, der keinen Spaß macht, dem Zuschauer keine Tribüne zum Bejubeln der Bluttaten errichtet.

Kommentare
  1. […] seinem letzten Giallo, dem Proto-Slasher Im Blutrausch des Satans/Reazione a catena (1971), ist dann eine nahezu komplette Abkehr vom einstigen Farbenspiel zu verzeichnen. Mario Bava […]

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