11. hofbauer kongress: eugenie (historia de una perversión) (jess franco, spanien 1980)

Veröffentlicht: September 17, 2013 in Film, Veranstaltungen
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2011091009235244266_artikelEs gibt viele Pforten, durch die man sich dem umfangreichen und unüberschaubaren Werk des frenetischen Vielfilmers Jess Franco – der leider im April dieses Jahres verstorben ist – nähern kann. Eine  davon ist mit dem Namen überschrieben, unter dem der französische Adlige, Schriftsteller und Philosoph Donatien Alphonse François de Sade zu einer historischen Figur wurde: Marquis de Sade. Nahezu alle Regisseure, die sich in den Genres Sex- oder Horrorfilm bewegen, müssen eine geistige Verbindung zu dem Mann verspüren, der der Lust an der Qual den Namen verlieh, doch nur wenige versuchten sich ganz direkt an einer Adaption seiner Werke. Jess Franco verfilmte gleich mehrere Bücher De Sades und „Die Philosophie des Boudoirs“ mit EUGENIE und EUGENIE (HISTORIA DE UNA PERVERSIÓN) sogar zweimal. Wenn auch beide Filme literarische Vorlage und – zumindest im spanischen Original – sogar den Titel teilen, spiegeln sie doch recht klar zwei der vielen verschiedenen, sehr konträren Seiten, die Francos Werk zum Schillern brachten: EUGENIE wurde 1970 vom britischen Produzenten Harry Alan Towers großzügig budgetiert, ist mit Stars wie Christopher Lee und Maria Rohm (sowie Jack Taylor und Herbert Fux) klangvoll besetzt und aufwändig ausgestattet und gehört demzufolge zu den kommerzielleren Filmen Francos. Der zehn Jahre später entstandene EUGENIE (HISTORIA DE UNA PERVERSIÓN) ist zwar nicht weniger schillernd, aber eine ganze Ecke bescheidener budgetiert und darüber hinaus geprägt von Francos Jazz- und Improvisationsvorliebe. Die Geschichte eines jungen Mädchens, das in die Hände eines sexsüchtigen Pärchens gerät und dabei seine Unschuld verliert, wird hier sehr lose und locker, beinahe nebenbei entwickelt und löst sich zum Ende hin immer mehr auf. Mehr als ein Plot bleiben hier Sinneseindrücke hängen, Bilder und Stimmungen, die sich in der Erinnerung untrennbar miteinander vereinen.

Vielleicht liegt es auch an den Rahmenbedingungen, unter denen die Sichtung stattfand, dass ich keinen direkten, verstandesmäßigen Zugriff mehr auf EUGENIE (HISTORIA DE UNA PERVERSIÓN) bekomme: Nach einer fünfstündigen Autofahrt war es der Eröffnungsfilm meines ersten Hofbauer Kongresses, auf den ich schon seit einigen Wochen hingefiebert hatte. Eine Vielzahl von Eindrücken war zu diesem Zeitpunkt schon auf mich eingeprasselt: Neben den vielen Bekannten, die ich dort wiedersehen oder auch zum ersten Mal treffen durfte, hatte sich auch die bezaubernde EUGENIE-Hauptdarstellerin Katja Bienert eingefunden, die sich ganz selbstverständlich, gut gelaunt und entspannt unter den Kongressteilnehmern tummelte und vor dem Film in einem ausführlichen Interview offen, ehrlich und enthusiastisch Rede und Antwort stand. (Daran könnten sich viele ihrer Kollegen, die das Geld, dass man ihnen einst für ihre Teilnahme an diversen REPORT- oder sonstigen Softsex-Filmen zahlte, zwar gern entgegennahmen, aber heute eher verschnupft reagieren, wenn man sie darauf anspricht, ein Beispiel nehmen.) Sie fühlte sich übrigens so wohl auf dem Kongress, dass sie uns auch noch am nächsten Tag Gesellschaft leistete und darüber sogar gegen ihre Schlafgewohnheiten verstieß. Dass sich Francos De-Sade-Verfilmung aber förmlich dagegen sträubt, hier von mir seziert zu werden, liegt wohl auch in der Inszenierung des Films selbst begründet. So wie die von Franco wieder einmal als zentrales Gestaltungselement verwendeten ausblutenden Sonnenstrahlen das Bild selbst zu verbrennen und zu überlagern scheinen, verflüchtigt sich der Film in einen reinen Wahrnehmungsraum, der für die Ratio unzugänglich bleiben muss. Jede nachvollziehbare Psychologie ist abwesend, nur die nackte, brennende Leidenschaft bestimmt die Handlungen. Sie ist so stark, dass nichts ihr standhalten kann. Der reiche Lüstling Alberto (Antonio Mayans) verzehrt sich nach der minderjährigen Eugenie (Katja Bienert), seine kaum weniger geile Gattin Alba (Mabel Escaño) hilft ihm dabei, sie zu bekommen. Am Ende, wenn die sexuelle Spannung das empfindlich Beziehungsdreieck gesprengt hat, herrscht Alberto Alba an, wirft ihr vor, sie sei „wahnsinnig geworden vor Geilheit“ und die Sexgier habe ihr „das Rückenmark zerfressen“. Die reine Körperlichkeit ist kein Segen für den Menschen, sie bedeutet sein Ende.

EUGENIE (HISTORIA DE UNA PERVERSIÓN), den wir in der deutschen Fassung unter dem Titel LOLITA AM SCHEIDEWEG gesehen haben, ist ein wilder Reigen sonnendurchfluteter und von Dekadenz und Perversion durchspülter Bilder und wilder Ideen wie jener, Lina Romay als das menschliche Haustier des lüsternen Ehepaars zu inszenieren. Das eindrucksvolle, von Ricardo Bofill entworfene Apartmenthaus La Muralla Roja repräsentiert mit seinen verwinkelten Treppen und der labyrinthischen Struktur sowohl den derangierten Geist seiner Bewohner als auch das Netz der Manipulation, in dem sich Eugenie (in der deutschen Fassung „Lolita“) hoffnungslos verfängt (der andere imposante Schauplatz, Bofills Xanadu, symbolisiert eher die dräuende Gefahr für das junge Mädchen). Der deutsche Verleih bereinigte den in seiner Originalfassung angeblich rund 95-minütigen Film um satte 18 Minuten – sogar noch mehr, wenn man die „Traumszenen“ Eugenies miteinrechnet, die im Gegenzug aus einem Bea-Fiedler-Film eingeschmuggelt wurden. Jess Francos Jazz-Score wurde durch einen treibenden, aggressiv pumpenden Disco-Beatsound ersetzt, der das Künstliche, Triebhafte akzentuiert und darüber hinaus jede Plattensammlung adeln würde. Ob EUGENIE (HISTORIA DE UNA PERVERSIÓN) in der intakten Fassung möglicherweise weniger fragmentarisch und traumhaft wirkt, lässt sich von hier aus nicht eruieren, faktisch steht ihm der Verzicht auf jegliche Erklärung ausgezeichnet zu Gesicht, macht ihn zu einem Film, über den man kaum sprechen kann, der sich aber als sinnlicher Eindruck tief ins Gedächtnis einbrennt.

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